Ist Gewalt radikal?Frage der Hegemonie: Eine Kampftaktik kann nur danach beurteilt werden, ob sie an die neue Gesellschaft näher heranführt oder nicht
Von Michael Jäger Kein vernünftiger Mensch billigt die Randale der Autonomen in Rostock. Wer sich dennoch nicht mit den Mächtigen des G 8-Gipfels gemein machen will, wird wie Oskar Lafontaine darauf hinweisen, dass deren Gewalt uns unverhältnismäßig viel mehr schadet. Und doch: Ein Rest von Ehrfurcht vor Menschen, die, wie es scheint, mit voller Konsequenz kämpfen, während der friedliche Protest anderer die Mächtigen nicht kratze, dürfte bei vielen zurückgeblieben sein. Es besteht aber gar kein Grund, dieser Art “Radikalität”, die in Wahrheit keine ist, den Verstand zu opfern. Worin soll der revolutionäre Nutzen der Autonomen-Gewalt denn eigentlich bestehen? Ein bekannter Satz von Marx scheint die Antwort zu geben: “Die Gewalt ist der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht.” Indessen meint Marx, wenn er “Gewalt” sagt, nicht irgendwelche Exzesse, sondern die Staatsgewalt. Die Bourgeoisie, so lernt er aus der Geschichte, musste den Staat als Hebel gebrauchen, um die kapitalistische Produktionsweise durchzusetzen. Die kommunistische Produktionsweise wird ihm zufolge nicht anders beginnen: Am Anfang steht die “Diktatur des Proletariats”, die zwar kein Staat im alten Sinn, aber doch eine konzentrierte staatsanaloge Gewalt sein wird. In Marx´ Rede ist noch die alte Etymologie des Wortes “Gewalt” wirksam, die den Inbegriff des “Waltens”, also des Regierens oder autorisierten Handelns meint - ein Wortgebrauch, der uns noch heute vertraut ist, denn ob wir einen An-Walt bezahlen, mit Ver-Waltungen umgehen, “Walte deines Amtes” sagen oder unser Kind “Walter” nennen, in keinem dieser Fälle schwebt uns physischer Zwang vor. Der kann sich aus einem bestimmten Amt ergeben - dem der Polizei -, liegt aber nicht in jeglichem Walten, also nicht in der Ge-Walt. Ich trage hier keine kühne Marx-Interpretation vor, sondern lese den Kontext. Wenn Marx von der “ursprünglichen Akkumulation” spricht - das sind die Strukturen und Voraussetzungen der Kapitalverwertung, mit denen die kapitalistische Produktionsweise historisch beginnt -, so zeigt er, dass deren “Momente” sich “namentlich auf Spanien, Portugal, Holland, Frankreich und England” verteilen. “In England werden sie Ende des 17. Jahrhunderts systematisch zusammengefasst in Kolonialsystem, Staatsschuldensystem, modernem Steuersystem und Protektionssystem. Diese Methoden beruhn zum Teil auf brutalster Gewalt, z.B. das Kolonialsystem. Alle aber benutzen die Staatsmacht, die konzentrierte und organisierte Gewalt der Gesellschaft, um den Verwandlungsprozess der feudalen in die kapitalistische Produktionsweise treibhausmäßig zu fördern und die Ãœbergänge abzukürzen.” Und nun folgen die Sätze: “Die Gewalt ist der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht. Sie selbst ist eine ökonomische Potenz.” Offenbar sollen sie einen Gedankengang auf den Punkt bringen, der vom Staat handelt. (Das Kapital Bd. I, S. 779) Wenn kapitalistische Gewalt als Staatsgewalt geübt wurde und wird, ändert das zwar nichts am “brutalsten” Charakter der dabei angewandten Methoden. Aber es kommt etwas hinzu, das der körperlichen Draufgängerei der Autonomen völlig abgeht: die Legitimiertheit dieser Methoden in den Augen der Gesellschaft. Einen Staat zeichnet es ja aus, dass er nicht nur Zwang ausübt, sondern auch “hegemonial” führt: Man ist ihm untertan, weil man sich von seinen Doktrinen hat überzeugen lassen oder sie jedenfalls nicht zu widerlegen weiß. Weil der Staat die Hegemonie hat, werden seine Zwangsmaßnahmen für gerechtfertigt angesehen. Wer gegen ihn kämpfen will, kann der Zwang gegen Zwang setzen? Das dürfte kaum produktiv sein. Nein, er muss sich zuerst legitimieren, indem er die größere Hegemonie erlangt. Das bedeutet, die Ãœberzeugungen vieler Menschen, die den Staat stützen, müssen verändert werden. Dies wird nicht durch Schlägereien erreicht. Gewiss wünscht man auch dem friedlichen Protest mehr Radikalität, denn dadurch allein, dass er friedlich ist, bringt er natürlich nichts voran. Dass ein Protest friedlich sein soll, ist zunächst nur eine Hoffnung und Aufgabe der Polizei. Wenn dann in der Zeitung steht: “Die Demonstration war friedlich”, haben die Protestierenden nichts erreicht. Ihnen geht es darum, mit ihren Argumenten durchzudringen. Da stellt sich die Frage, ob sie überhaupt welche haben: Argumente, die den Kitt auflösen, der die Staatshegemonie zusammenhält. “Eine andere Welt ist möglich” - das muss denen, die es nicht glauben, konkret gezeigt werden. Auf welchem Weg, ist egal, wenn es nur überhaupt geschieht. Manche sagen, auf keinen Fall dürfe mit den Mächtigen “verhandelt” werden. Ja, warum denn nicht? Eine Verhandlung, die das eigene Argument bekannter macht und dann am richtigen Punkt scheitert, dient vielen zur Klärung. Die Randale aber, was wird durch sie geklärt? Die Radikalität einer Kampftaktik kann sich nur danach bemessen, ob sie an die neue Gesellschaft näher heranführt oder nicht.
Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung 23 vom 08.06.2007. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Michael Jäger und des Verlags.
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