Wie es in Großengstingen weitergingDer Aufruf am Ende der Großengstinger Sommeraktion fand großen Widerhall: Am 12. Dezember 1982, dem 3. Jahrestag des NATO-Doppelbeschlusses, wurden an ca. 50 Orten in der Bundesrepublik Blockadeaktionen vor Militäranlagen durchgeführt, u.a. auch eine in Großengstingen mit rund 700 Teilnehmerinnen und Teilnehmern. An Ostern 1983 fand wieder ein Ostermarsch zur Kaserne und zum Atomwaffenlager in Engstingen statt. Für den Sommer 1983 wurde bei Großengstingen drei Monate lang ein Friedenscamp organisiert. In diesem Sommer gab es zahlreiche weitere Friedenscamps in Deutschland. Anfang September 1983 kam es dann zur berühmt gewordenen "Prominentenblockade" in Mutlangen, an der sich u.a. Heinrich Böll, Günter Grass, Oskar Lafontaine, Erhard Eppler, Heinrich Albertz, Helmut Gollwitzer, Dietmar Schönherr, Barbara Rütting u.a. beteiligten. Hier wurde die breite Akzeptanz dieser Aktionsform deutlich. Der Protest hatte eine neue Qualität gewonnen. Er wurde zum massenhaften, gewaltfreien zivilen Ungehorsam. Dieser konzentrierte sich nun vor allem auf die Stationierungsorte der Pershing II-Raketen, auf die Heilbronner Waldheide und vor allem auf Mutlangen, das in den folgenden Jahren zum Symbolort für die gewaltfreie Blockadeaktionen vor Atomraketenstellungen werden sollte. Großengstingen trat demgegenüber in der Aufmerksamkeit etwas in den Hintergrund. Es war zwar 1984 wieder Ziel eines Ostermarsches. Dabei forderten unter anderem die Kinder des Widerstandskämpfers Eberhard Finckh, dass die Kaserne nicht mehr den Namen ihres Vaters tragen dürfe, weil das bestimmt nicht in dessen Sinn sei. Doch dann wurde es etwas ruhiger. 1988 rückten die Kurzstreckenraketen in Großengstingen wieder stärker in den Blickpunkt. Inzwischen hatten Gorbatschow und Reagan im INF-Vertrag die Verschrottung sämtlicher landgestützter atomaren Mittelstreckenwaffen in Ost und West vereinbart und ihr Abzug stand bevor. In der Folgezeit wurde dann von der NATO eine "Modernisierung" ihrer atomaren Kurzstreckenraketen geplant. Um dagegen zu protestieren, wurde im Sommer 1988 ein einwöchiges Friedenscamp in Erpfingen organisiert, von dem aus am 9. August, also am Nagasaki-Gedenktag, wieder eine Blockade des Atomwaffenlagers bei Großengstingen stattfand. Ab diesem Zeitpunkt veranstaltete eine Gruppe von Menschen immer am 9. eines Monats eine Mahnwache am Haupttor der Kaserne. An Ostern 1989 fand wohl die größte Demonstration auf der Schwäbischen Alb überhaupt statt. Am 27. März 1989 war Großengstingen der zentrale Veranstaltungsort der traditionellen Ostermärsche in Baden-Württemberg. Selbst nach Schätzungen der Polizei versammelten sich auf dem Rathausplatz mehr als 6.000 Menschen. Ebenfalls 1989 wurde eine Kampagne "Abrüsten statt ‚Modernisieren’" gestartet, die verhindern wollte, dass die atomaren Kurzstreckenraketen "modernisiert" werden und die sich für den ersatzlosen Abzug aller in der Bundesrepublik stationierten Kurzstreckenraketen einsetzte. In ihrem Rahmen wurden in Großengstingen während eines "Blockadefrühlings" vom 7. bis zum 10. Mai die Zufahrtswege zu einem der drei Zufahrtswege zur Kaserne und der Zugang zu dem zugehörigen Atomsprengkopflager gewaltfrei blockiert. 80 Menschen wurden dabei festgenommen und über 1.000 kamen an den vier Tagen nach Großengstingen. Weitere Aktionen folgten. (Michael Schmid)
Zum Weiterlesen: Eine Friedenstaube wird verspeist. Proteste gegen Atomwaffen - Süddeutsche Zeitung vom 13.12.1982 (PDF-Datei, 184 KB) Sich abarbeiten am Frieden und am Waldesrand - Beobachtungen beim Friedenscamp von Großengstingen auf der Schwäbischen Alb - Frankfurter Rundschau vom 30.07.1983 (PDF-Datei, 159 KB) "Eingeschlafenen" Widerstand wecken - Reutlinger Generalanzeiger vom 10.08.1988 über Blockadeaktion (PDF-Datei, 616 KB)
"Schwerter zu Pflugscharen": Abzug der Militärs, Aufbau eines GewerbeparksDoch es folgten ebenfalls die gewaltlosen Aufstände in den osteuropäischen Staaten, das Ende des Kalten Krieges, der Zerfall des Warschauer Paktes, der Zusammenbruch des Sowjetkommunismus und die deutsche Wiedervereinigung. Das Hauptverdienst an dieser Entwicklung kommt zweifellos Michael Gorbatschow zu. Doch die Friedensbewegung hatte für die friedliche Beilegung des Kalten Krieges einen entscheidenden Beitrag geleistet. Gorbatschow wäre ohne die Friedensbewegung wohl kaum zum Generalsekretär der KPdSU gewählt worden. Georgi Arbatow, ehemaliger Nordamerika-Experte des Kreml und Gorbatschow-Berater, sagte 1986 auf einer Tagung in Washington: "Die Friedensbewegung war ein Ausdruck des Bewusstseinswandels, der sich in der westdeutschen Bevölkerung abgespielt hat. Das war ein Faktor für unsere Entscheidung, Michail Gorbatschow als Verfechter eines dezidierten Entspannungskurses zum Generalsekretär zu wählen."Wilhelm Bitdorf, "Giftgas ging, Unrecht bleibt" in: Spiegel 44/1990, S. 75 Als die Bundeswehr nach der Überwindung des Ost-West-Konfliktes und im Zuge des vereinten Deutschlands Standorte zu schließen begann, stand Großengstingen gleich mit ganz oben auf der Streichungsliste. Als ein wesentliches Kriterium dafür wurden die zahlreichen Protestaktionen in den Jahren zuvor genannt. 1993 war dann endgültig Schluss mit dem Militärstandort Großengstingen. Heute erinnert fast nichts mehr daran, dass in Großengstingen mehr als ein halbes Jahrhundert das Militär und über zehn Jahre die Friedensbewegung eine zentrale Rolle gespielt haben. Ein echtes Konversionsprojekt, wo nach dem Abzug der Militärs mit dem Aufbau eines Gewerbeparks begonnen wurde. "Schwerter zu Pflugscharen!" Ganz gemäß dem Motto der Großengstinger Sommeraktion von 1982. Nach Beendigung des Kalten Krieges fühlen sich die meisten von uns nicht mehr von einem Atomkrieg bedroht. Auch wenn die Gefahr eines Atomkriegs zwischen den ehemaligen Supermächten tatsächlich erheblich gesunken ist, so gibt es trotzdem durch die Aufrechterhaltung der ständigen Alarmbereitschaft für etwa 3.500 Atomwaffen in den USA und Russland ein "Restrisiko". Wenn diese Atomraketen auf Grund eines Fehlalarms gestartet werden, könnten sie sowohl die USA und Russland vernichten als auch das Leben auf der Erde insgesamt ernsthaft bedrohen. Auch die Gefahr eines regionalen Atomkrieges ist durch die Weiterverbreitung der Atomwaffen größer geworden. Aus Deutschland wurden zwischenzeitlich fast alle Atomwaffen abgezogen. Aber auf dem deutschen Fliegerhorst Büchel in Rheinland-Pfalz sind wohl als letztem Atomwaffenstandort in Deutschland derzeit immer noch ca. 20 taktische Atomwaffen stationiert, die der NATO zur Verfügung stehen. Jede einzelne dieser Atomwaffen hat die Zerstörungskraft von mehreren Hiroshima-Bomben. Es gibt genügend Gründe, sich weiter für atomare Abrüstung und eine atomwaffenfreie Welt einzusetzen. Zum Beispiel durch Beteiligung an der Kampagne "unsere zukunft - atomwaffenfrei" . Oder bei der internationalen Nichtregierungsorganisation "Mayors for Peace" (Bürgermeister für den Frieden), die 2003 die Kampagne "2020 Vision" (zu deutsch: atomwaffenfrei bis 2020) gestartet haben. Erfreulicherweise ist seit 2004 auch der Bürgermeister des früheren Atomraketenstandorts Engstingen, Klaus-Peter Kleiner, Mitglied dieser Organisation.
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