“Ich weiß, dass ich nichts weiß”Rezension: Studienhandbuch "Gewalt und Medien" von Michael Kunczik und Astrid Zipfel (Neuauflage 2006)
Von Peter BürgerEine stark gekürzte Fassung dieser Rezension ist in "Wissenschaft & Frieden" 3/2007 erschienen. In der 5., völlig überarbeiteten Auflage des Studienhandbuchs "Gewalt und Medien" vermitteln Michael Kunczik und Astrid Zipfel den Stand der empirischen Forschungen zu möglichen Mediengewalt-Wirkungen auf Individuen, insbesondere auf Kinder und Jugendliche. Da der Titel bereits in seiner früheren Form vielfach als Standardwerk gilt, sei betont: Andere Fragestellungen unter der Überschrift "Medien und Gewalt" nehmen im Buch nur wenig Raum ein. Die übersichtliche Gliederung der Darstellung erfüllt in jeder Hinsicht die formalen Erwartungen an ein gutes Studienhandbuch. Behandelt werden:
In weiteren Kapiteln wird das Medienfeld "Fernsehen und Film" ergänzt (Computerspiele, Internet, Musik, Werbung), die Medienberichterstattung über reale Gewalt thematisiert und nach der Wirksamkeit medienpädagogischer Interventionen gefragt. Dem institutionalisierten "Jugendmedienschutz" sind allerdings nur wenige Sätze gewidmet, wobei die interessanten inhaltlichen Leitlinien dieses Bereichs unberücksichtigt bleiben. Die Autoren haben bereits 2004 gemeinsam einen Projektbericht über Medien-und-Gewalt-Forschungen seit 1998 veröffentlicht, der auf der Website des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend abgerufen werden kann.Siehe http://www.bmfsfj.de/Kategorien/Forschungsnetz/forschungsberichte,did=28078.html . Damit sind neuere Forschungen seit dem Erscheinungsjahr der letzten, von Kunczik noch allein verantworteten 4. Auflage bereits in einer separaten Veröffentlichung berücksichtigt. Im Studienhandbuch wird eine unglaubliche Fülle an Literatur aus unterschiedlichen Disziplinen verzeichnet.Die jeweiligen Anteile von M. Kunczik und A. Zipfel sind nicht kenntlich gemacht. In der Darstellung möchten Kunczik und Zipfel den Sinn für differenzierende Fragestellungen schärfen, und darin liegt - bezogen auf den sehr eingegrenzten Gegenstand - auch eine Stärke ihres Buches. Sie sehen sich außer Stande, die Annahme einfacher Kausalzusammenhänge zwischen dem Konsum von Mediengewaltdarstellungen und Gewalt (Einstellung, Aggressivität, Gewalthandeln) zu bestätigen. Populistische Gewaltzensoren können sich kaum auf ihre Arbeit berufen. Obwohl inzwischen als bedeutungslos geltende Forschungen in der neuen Auflage unberücksichtigt bleiben (S. 11f), erfahren die Leserinnen und Leser am Ende sehr vieler Abschnitte, dass die jeweils referierten empirischen Ergebnisse nur unter größten Vorbehalten oder gar nicht als gesichert gelten können. Die Studienhandbuchbenutzer lernen auf jeden Fall, ihren kritischen Sinn bezogen auf Forschungspublikationen zu schärfen. Ein "kleiner bis mittelstarker" Wirkzusammenhang und "besonders gefährdete Mediennutzer"M. Kunczik, der seit mehr als drei Jahrzehnten zum Thema publiziert und oft als führender Mediengewalt-Experte genannt wird, vertritt - anders als in früheren Arbeiten - heute nicht mehr die These, Mediengewaltdarstellungen seien wirkungslos. In ihren Schlussbemerkungen halten Kunczik und Zipfel auch fest, "dass die Annahme einer generellen Ungefährlichkeit von Mediengewalt fast nicht mehr vertreten wird." (S. 397) Die meisten Untersuchungen würden "für einen kleinen bis mittelstarken Zusammenhang zwischen Mediengewalt und Aggressivität des Rezipienten" sprechen. In der Gesamtbewertung kann durchaus Dramatischeres enthalten sein. Als bedeutsam gilt der "Risikogruppenansatz" (im BMFSFJ-Bericht: "besonders gefährdete Mediennutzer"). Zu den - im Buch so genannten - "Problemgruppen" gehören "jüngere, männliche Vielseher", die unter anderem "in ihrem unmittelbaren sozialen Umfeld" viel Gewalt erleben, "bereits eine violente Persönlichkeit besitzen" und mit Vorliebe realistisch oder "humoristisch" präsentierte Gewaltdarstellungen konsumieren. Bei der medialen Darstellung des Täters ist besonders in lerntheoretischer Hinsicht bedeutsam, ob dieser als attraktiv und erfolgreich erscheint und sein Handeln als "gerechtfertigt" gilt. Belohnungen oder zumindest das Ausbleiben von Bestrafung erhöhen die Wahrscheinlichkeit einer Identifikation. Das gilt auch für "saubere Gewalt", in der die Folgen für die Opfer ausgeblendet bzw. beschönigt werden. Das landläufige Vorurteil, problematisch sei nur das besonders Brutale bzw. "Schmutzige", ist also unzutreffend. Unter bestimmten Bedingungen ist gerade das "Schmutzige" in Mediengewaltdarstellungen weniger bedenklich. Die als erfolgreich geltenden medienpädagogischen Strategien werden erfahrene Eltern und Lehrer kaum in Erstaunen setzen: Verbote können zweischneidig sein und attraktivitätssteigernd wirken, haben sich jedoch besonders bei jüngeren Kindern auch als sinnvoll erwiesen. Ältere Kinder bzw. Jugendliche gewinnen eine kritische Sicht eher in pädagogischen Projekten mit eigener Beteiligung und respektvollen Gesprächen als in Belehrungen. Die Sensibilisierung für die Opferperspektive ist pädagogisch von zentraler Bedeutung. (Mehrdeutige Perspektiven in Gewaltdarstellungen sind problematisch.) Das Schweigen von Erwachsenen, die mit Kindern Gewaltdarstellungen anschauen, wird von den Kindern als Billigung aufgefasst. Die relativ gesicherten Erkenntnisse lassen sich, folgt man den Bewertungen der Autoren, auf wenigen Seiten zusammenfassen. Über alternative Forschungswege und Forschungsdesigns, die Auswege angesichts der stattlichen Ansammlung von wenig aussagekräftigen Studien eröffnen, gibt es in den Schlussbemerkungen leider nichts Substantielles zu berichten. Die in Frage kommende Medienproduktpalette wächst unaufhörlich, und ein Überblick fällt immer schwerer. Wer sich nicht auf das Gebiet von illusionären Messunternehmungen und bloßen Spekulationen begeben will, tut nach Auffassung des Rezensenten auf jeden Fall gut daran, zunächst einen Beitrag zur quantitativen und qualitativen Erforschung des Medienangebotes selbst zu leisten und dessen strukturelle Bedingungen zu beleuchten. Das freilich entspricht nicht dem "neoliberalen" Konsumentenansatz. Die gesellschaftliche Perspektive und der Blick auf die Medienproduktion fehlenNach der Lektüre des Studienhandbuches ist man geneigt, den zugrunde liegenden Ansatz fast als positivistisch zu bezeichnen. Der eigene normative Ausgangspunkt der Autoren wird nicht deutlich. Eine Abneigung gegen "zu weite" Gewaltdefinitionen ist erkennbar. An einer Stelle ist ohne Anführungszeichen von "legitimer Gewalt" und "gerechtfertigten Gewaltdarstellungen" die Rede, obwohl die kritischen Forschungsbefunde zu entsprechenden Medieninhalten sprachliche Präzision gerade an dieser Stelle unverzichtbar machen (S. 253). Eine ideologiekritische Sicht bezogen auch auf staatliche Gewaltausübung lässt sich bestenfalls erahnen (vgl. z.B. S. 358-361). Quantitative Studien kommen im Vergleich zu qualitativen Forschungsansätzen deutlich besser weg, wobei allerdings augenscheinlich abstruse oder zu kurz greifende Quantifizierungsmethoden als solche auch benannt werden. Der soziale Focus liegt auf dem engeren Lebensumfeld. Gesellschaftskritische Perspektiven im Sinne einer modernen Mediensozialisationsforschung zeigen die Autoren nicht auf. (In der 4. Auflage gab es noch ein Kapitel "Massenmedien und Gesellschaft", das jetzt ganz entfällt.) Diesbezügliche Ansätze der Kultivierungsthese, deren Vertreter von kumulativen Medienwirkungen ausgehen, werden - insbesondere auch im Vergleich zur gebotenen Kritik der Kultivierungsthese - nur sehr knapp referiert (z.B. Erhalt bestehender Machtstrukturen über die vorherrschende Massenkultur, Weltbildkultivierung, Mainstreaming). Obwohl es für die aggressionssteigernde Wirkung von Waffendarstellungen empirische Hinweise gibt (S. 170, 176, 259), wird der - öffentlich im Unterhaltungsgeschehen weithin tolerierte oder gar belobigte - "Kult der Waffe" bezogen auf seine Ursprünge und gesellschaftlich-kulturellen Bedeutungen nicht beleuchtet. Im Exkurs "Gewalt und Werbung" ist der zugrunde gelegte enge Gewaltbegriff besonders zu bedauern. Hier hat man stellenweise sogar den Eindruck, es werde bei Fragen des Programmkontextes die Perspektive der Werbeindustrie eingenommen (S. 341). Ein vornehmlich individualistischer Ansatz konzentriert sich auf den Konsumenten, sein nahes soziales Umfeld und die pädagogisch "Verantwortlichen". Für einen gesellschaftskritischen und wertgebundenen Ansatz ist hingegen der Blick auf die dominanten Botschaften der Massenkultur (im gesamtgesellschaftlichen Kontext), das real existierende Medienmarktangebot und die Produzenten mindestens genauso wichtig. Hier gibt es im Studienhandbuch die auffälligsten Leerstellen. Über Medienökonomie, Medienkonzentration, die Verflechtung von Medienmacht mit anderen ökonomisch-politischen Interessensbereichen, Arbeitsbedingungen von Kulturschaffenden, Sortimente oder Vermarktung und Distribution der gewalthaltigen Medienprodukte erfährt man rein gar nichts. Dass Medien- und Unterhaltungsangebote mit Gewaltinhalten einen so riesigen Anteil der Programme bestreiten, wobei gewaltkritische Botschaften nur einen verschwindend geringen Anteil ausmachen, setzen die Autoren offenbar einfach als nachfrageabhängige Marktgegebenheit (oder als unvermeidlich im Sinne der "Nachrichtenwerttheorie") voraus. Einer demokratietheoretischen Bewertung dieses Befundes enthalten sie sich ebenfalls. An einer Stelle werden sogar unkommentiert wissenschaftliche Ratschläge darüber referiert, wo die Medienmacher Gewalt im Sinne einer weniger fragwürdigen Dramaturgie am besten platzieren sollten (S. 259). Die in diesem Kontext empfohlene "duale Gewaltästhetik" (S. 257) lässt am ehesten an die zumeist staatlich subventionierten James-Bond-Filme denken. Eine explizite Kritik der Anbieterseite findet lediglich im Kontext von journalistischer Ethik statt (fahrlässige Berichterstattung über Terroranschläge, Gewaltverbrechen etc.). Ein Mediengewalt-Handbuch des Jahres 2006 ohne das Thema "Krieg und Militainment"Die fortschreitende Militarisierung der Massenkultur ist im Studienhandbuch "Gewalt und Medien" erstaunlicher Weise (oder folgerichtig) auch kein Thema. Die Hinweise auf Krieg bleiben auf wenige Nebenbemerkungen beschränkt (Indexhäufigkeit: sechs Belegstellen). Die Rede von "Kollateralschäden" wird immerhin als Beispiel für Euphemismen genannt, die mit der Rechtfertigung oder Bagatellisierung von Gewalt einhergehen (S. 166). Unter der Überschrift "Terrorismus" findet man - neben einem kurzen Hinweis auf die mögliche Legitimationsfunktion des aufgedrückten Etiketts "Terrorist" (S. 363) - auch folgende Aussage, die der Rezensent nur durch eine Kursivsetzung kommentieren möchte: "Bereits Mahatma Gandhi, der >Apostel der Gewaltlosigkeit<, hat im Befreiungskampf gegen die Briten erfolgreich gewalttätige Pseudo-Ereignisse inszeniert, um die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit zu gewinnen… Er … ließ zu, dass mehrere tausend Demonstranten von Polizisten mit langen Stöcken, deren Spitzen mit Stahlnägeln versehen waren, zusammengeschlagen wurden." (S. 361) Besonders kritikwürdig ist die völlige Ausblendung des riesigen Angebotes an kriegssubventionierenden Filmen (darunter zahlreiche zivil-militärische Ko-Produktionen) und anderen Militainment-Produkten. Bezogen auf diese hätten nämlich gerade die auch empirisch als bedeutsam erwiesenen Forschungserträge zur Kontextualität und zu "besonders risikobehafteten Medieninhalten" noch einmal auf ganz andere Weise bedacht werden können (z.B. interessegeleitete Verdrehung der Opferperspektive und entsprechend einseitig gestaltete Einladungen zur Identifizierung; gezielte Inszenierungen von "sauberer" Kriegsgewalt und Technologie; Legitimierung über politische Drehbücher bzw. "moralische" Überhöhung, Belohnung, Billigung oder Straffreiheit militärischer Gewaltanwendung; jugendliches Alter, einfache Herkunft und Attraktivität der militärischen "Helden"; Emotionalisierungsstrategien im Kriegskino; "komödiantische" Kriegsfilme ohne kritisch-satirische Qualitäten). Der ehemalige US-Oberstleutnant und Psychologieprofessor Dave A. Grossmann ist mit Blick auf die im zivilen Alltag weit verbreiteten Computerspiele auch deshalb beunruhigt, weil das Militär diese "Tötungssimulatoren" einsetzt, "um Soldaten für Kampfeinsätze zu trainieren und Tötungshemmungen abzubauen" (S. 288). Im Studienhandbuch wird dieser Einwand, der durch einen Hinweis auf die enge Verzahnung von Militär und PC-Spiele-Industrie ergänzt werden müsste, kurz unter der Kategorie "simple Argumentationen" abgehandelt. Für mögliche - bedenkliche - "Transferprozesse" beim regelmäßigen Konsum von "realistischen" (oft "sauberen"!) Militärsimulationen am Computer sehen die Autoren keine stichhaltigen Hinweise; die Frage sei aber "empirisch noch nicht geklärt" (S. 310-313). Die Autoren verbleiben mit der Eingrenzung ihres Gegenstandes und ihren Fragestellungen letztlich auf dem - von ihnen selbst durchaus kritisch bedachten - Terrain einer sehr engen Gewaltdebatte. Doch auf diesem Terrain vollzieht sich auch - flankiert von kurzsichtigen Zensurparolen - der landläufige Mediengewaltdiskurs. Der kinderschützende "Violence Chip" (S. 389ff) für den Fernseher ist wohl wirklich nicht die Lösung. Vielleicht müssen wir einfach wieder damit beginnen, den Kult des Destruktiven auch als solchen zu bezeichnen und die entsprechenden Produkte nebst Produzenten und Sponsoren - gesellschaftlich wirksam - zu denunzieren. Vollziehen müsste sich dies allerdings im Rahmen eines öffentlichen Kulturgeschehens, das nicht isoliert nach Gewaltthemen fahndet, sondern die Möglichkeiten einer lebensfreundlichen Ästhetik in den Mittelpunkt stellt. Michael Kunczik/Astrid Zipfel: Gewalt und Medien. Ein Studienhandbuch. 5., völlig überarbeitete Auflage, Köln-Weimar-Wien: Böhlau Verlag 2006. (474 Seiten; kart.; Euro 24,90) ISBN: 10 3-8252-2725-8 (UTB); ISBN 10 3-412-20905-8 (Böhlau) FußnotenVeröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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