Gegen das Vergessen: Lebensgeschichten von Opfern des Nazi-TerrorsVon Michael Schmid “Hier wohnte Jenny Grimminger, geb. Stern, JG. 1895, deportiert 1943, Ravensbrück, ermordet 2.12.1943 Auschwitz”. Dies ist die Inschrift einer kleinen golden glänzenden Messingtafel, die sich im Pflaster eines Gehwegs in Stuttgart findet. Genau hier in der Altenbergstraße 42 im Stuttgarter Süden also lebte eine der vielen Millionen, bevor sie von den Nazis verhaftet, verschleppt, gequält und im KZ ermordet wurde. Über solche Messingtafeln mit Inschriften können wir inzwischen in vielen Städten “stolpern”. Denn das Projekt “Stolpersteine” des Kölner Künstlers Gunter Demnig hat inzwischen bundesweite Ausstrahlung, ja auch im Ausland finden sich “Stolpersteine”. Seit 1995 verlegt Demnig gemeinsam mit örtlichen Bürgerinitiativen Steine vor Häusern, aus denen Menschen während der NS-Diktatur verschleppt wurden. Mit den “Stolpersteinen” wird Opfern der Nationalsozialisten ihr Namen zurückgegeben und ihr Schicksal wird mit dem Ort in Verbindung gebracht, an dem sie gelebt haben, bevor sie dort durch den Terror des Staates herausgerissen wurden. Auf diese Weise wird die Erinnerung an die Vertreibung und Ermordung der Juden, Zigeuner, politisch Verfolgten, Homosexuellen, Zeugen Jehovas und der Euthanasieopfer durch die Nazis lebendig gehalten. Einen Schritt weiter gingen die Autorinnen und Autoren des Buches “Stuttgarter Stolpersteine - Spuren vergessener Nachbarn”. Sie haben nach den Lebensgeschichten gefragt, die zu diesen Namen gehören. Sie haben Spuren gesucht, nach Angehörigen und Nachbarn geforscht, Archive durchforstet. Daraus sind 31 bewegende Lebensgeschichten entstanden, die erstmals für dieses Buch aufgeschrieben wurden. 31 Geschichten von ehemaligen Stuttgarterinnen und Stuttgartern. In diesem Buch begegnen einem Ärzte und Krankenschwestern, ein Kindermädchen und eine Haushaltshilfe, Angestellte von Banken und Versicherungen, eine Beamtin der Stadtverwaltung und ein Buchprüfer, Künstlerinnen und Rechtsanwälte, Handelsvertreter und Lebensmittelhändler, Geschäftsleute und Fabrikanten, Metallarbeiter und -arbeiterinnen, ein Werkzeugmacher, ein Maschineneinsteller, ein Transportarbeiter, Lehrer und die Leiterin einer Schülerpension, Hausfrauen und Rentner, Kleinkinder und Schüler. Verfolgt und ermordet wurden sie, weil sie Juden waren, gleichgültig ob jüdischen Glaubens, zum Christentum konvertiert oder freigeistig orientiert. Oder weil sie Sintis waren. Weil sie als Juden eine “Arierin” liebten und wegen “Rassenschande” verurteilt wurden. Weil sie vor der Machtergreifung der Nazis als Kommunisten dem Gemeinderat angehört hatten. Weil sie gegen die Diktatur Widerstand geleistet hatten. Weil sie als psychisch Kranke in einer Heilanstalt lebten. Weil sie aus der Nazi-Armee desertiert waren. Oder weil sie sich zu freimütig geäußert hatten und wegen “Wehrkraftzersetzung” hingerichtet wurden. Außer den 31 Lebensgeschichten bietet das Buch ein Portrait des Künstlers Gunter Demnig und seines Projektes sowie einen kurzen Rückblick, wie die Stolpersteine nach Stuttgart kamen. Ein Dialog über die öffentlichen Wirkungen der Stolpersteine und Hinweise zur Recherchearbeit komplettieren dieses wirklich lesenswerte “Stolperstein”-Buch. Die Lektüre könnte durchaus dazu motivieren, sich einer der inzwischen zahlreichen Initiativen engagierter Bürgerinnen und Bürger anzuschließen bzw. selber eine solche Initiative zu beginnen, um den Spuren vergessener Nachbarn nachzuspüren. Bei den Stolperstein-Initiativen bekommen die Opfer der NS-Diktatur im Zuge der Beschäftigung mit ihnen erst nach und nach “ein Gesicht”. Bezüglich zweier anderer Opfer der Nazis ist der Zugang anders. Dies war schon deshalb möglich, weil sie den Terror der Nazis glücklicherweise überlebt haben und dadurch persönlicher Kontakt mit nachfolgenden Generationen möglich wurde. Und aus dieser persönlichen Begegnung ist das Buch “Lebensunwert? Paul Wulf und Paul Brune. NS-Psychiatrie, Zwangssterilisierung und Widerstand” entstanden. Nach dem Tod von Paul Wulf (1921-1999) traf sich 1999 zum ersten Mal ein Freundeskreis, der einen ungewöhnlichen Menschen nicht in Vergessenheit geraten lassen wollte, mit dem noch unmittelbarer und lebhafter Kontakt bestanden hatte. Wie jetzt dieser Freundeskreis in dem Buch ausführlich darstellt, war auch Paul Wulf Opfer der Nazis. 1932 wurde er aus einem Kinderheim in eine “Idiotenanstalt” verlegt und 1938 in Anwendung des NS-Erbgesundheitsgesetzes zwangssterilisiert. Er war im Widerstand aktiv. Nach dem Krieg kämpfte er für politische Aufklärung und Entschädigung. Erst 1979 erhielt er eine Erwerbsunfähigkeitsrente als eines der rund 400.000 zwangssterilisierten Opfer des NS-Regimes. Paul Brune (geb. 1935), wurde als “gemeingefährlicher, debiler Psychopath” von 1943 bis 1957 psychiatrisiert und war der Gewalt von Anstaltsleitern, Ärzten und Ordensschwestern ausgeliefert. Er kämpfte mit Petitionen an den Landtag NRW um seine Rehabilitation und wurde 2003, nach 60 Jahren, als eines der ersten Opfer der NS-Psychiatrie anerkannt. In dem Buch begegnen wir mit Paul Wulf und Paul Brune zwei Menschen, die von einer rassistischen Ideologie für “lebensunwert” erklärt wurden, die den Terror der Zwangspsychiatrisierung aber überlebt und die es sich anschließend zu ihrer Aufgabe gemacht haben, das an ihnen begangene Unrecht öffentlich zu machen. Das Buch zeigt an ihrem Beispiel auf, wie sehr die Ideologie der Ausmerzung “lebensunwerten” Lebens nicht nur vor 1945, sondern auch danach bis tief in die 70er Jahre hinein maßgebliche Personen der Medizin, Psychiatrie und Justiz, der öffentlichen Fürsorge und nicht zuletzt der Kirche im Denken und Handeln beeinflusst hat. Das Buch knüpft an die aktuelle Debatte über die Heimkindererziehung in den 50er und 60er Jahren an und schließt eine Lücke, da es die Ursachen und historischen Hintergründe benennt, warum die Heimunterbringung und Heimkindererziehung in der noch jungen Bundesrepublik so und nicht anders verlief. Es spannt auch den Bogen von der NS-Ideologie “lebensunwerter” Existenz bis hin zu ihrer aktuellen Renaissance in den Diskussionen um Menschenzucht und Sterbehilfe. Es basiert auf den Berichten der Betroffenen und zeichnet die Entwicklung der deutschen Psychiatrie vom “Dritten Reich” bis in die 70er Jahre nach. Dokumentiert werden die langen, oft durch die früheren Täterinnen und Täter behinderten Kämpfe um Entschädigung, sowie die beeindruckende, durch autodidaktisches Lernen erworbene Kenntnis von Paul Wulf und Paul Brune im Bereich der Archiv- und Dokumentationsarbeit. Mit diesem sehr bemerkenswerten Buch wollen die Autorinnen und Autoren keine wissenschaftliche Abhandlung vorlegen, sondern vielmehr ein möglichst breites Publikum erreichen, das sich mit den Hintergründen von sozialer Ausgrenzung auseinandersetzen möchte. Gleichzeitig soll auch etwas von dem Widerstand gegenüber vorherrschender Meinungen und Vorurteilen vermittelt werden, der in der Haltung von Paul Wulf und Paul Brune zum Ausdruck kommt und uns ermuntert, vor inhumanen Verhältnissen nicht einfach die Augen zu verschließen. Wir wissen um die vielen Millionen Opfer der Nazi-Diktatur. Doch es stellt eine Überforderung dar, sich ein Bild von vielen Millionen toten und überlebenden Opfern zu machen. Dagegen kann ich mich in das Schicksal einzelner Menschen noch ein Stück weit hineinversetzen, kann mir ihr eigenes Entsetzen und das ihrer Angehörigen noch vorstellen, kann mich davon berühren lassen. Genau dies leisten die beiden vorgestellten Bücher in sehr eindrücklicher Weise. Mit dem Schildern einzelner Lebensgeschichten von Opfern des Nazi-Terrors wird eine Brücke von der Gegenwart in die Vergangenheit geschlagen. Allerdings geht es nicht nur darum. Die Brücke soll auch von der Vergangenheit in die Gegenwart gespannt, es soll damit aus dieser Vergangenheit gelernt werden. So soll unsere Wachsamkeit dafür geschärft werden, wo Menschen heute aufgrund ihrer Rasse, Hautfarbe, Herkunft, Religion, Einstellung oder wegen Krankheit diskriminiert werden. Und es geht um unsere Ermutigung zur Zivilcourage, um jede Form der Diskriminierung im Keim zu ersticken.
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