Kinderkrebs um Atomkraftwerke: Es ist jetzt Zeit zu handelnDer Schutz der Bürger muss Chefsache werden
Claußen wies darauf hin, dass ernsthafte Hinweise für erhöhte Raten von Krebserkrankungen in der Nähe von Atomkraftwerken schon seit über zehn Jahren bestünden. Seit acht Jahren lägen belastbare Beweise dafür vor und die endgültige Gewissheit sei jetzt durch die aktuelle von der IPPNW angeschobene Kinderkrebsstudie 2007 erbracht worden. “Man mag über die Details dieser Studie streiten, eines ist aber jetzt sicher bewiesen”, so Claußen: “Je näher ein Kind an einem Atomkraftwerk wohnt, desto größer ist für das Kind die Gefahr an Krebs oder Leukämie zu erkranken - und das auf 25 Meter genau.” Professor Eberhard Greiser, Institut für Public Health und Pflegeforschung der Universität Bremen, sagte in Berlin, dass die Zahl der zusätzlichen Krebsfälle nicht die zentrale Fragestellung der Studie war. Es sei insofern unseriös, wenn die Studienleiterin Professorin Maria Blettner immer wieder nur auf eine kleine Zahl von Fällen in der “5-km-Zone” abhebe und so allenfalls die halbe Wahrheit sage. Greiser betonte: “Wenn man schon über Zahlen spricht, dann haben wir es im gesamten Studiengebiet nicht mit 29, sondern tatsächlich mit 121 bis 275 zusätzlichen Krebsfällen zu tun. Das sind 8% - 18% aller Krebserkrankungen bei Kindern bis zu 5 Jahren im Studiengebiet—also eines 50-km-Umkreises - um die KKW. Wir sprechen hier also über eine nennenswerte Quote der Krebsfälle bei Kleinkindern.” Dr. rer. nat. Sebastian Pflugbeil, Präsident der Gesellschaft für Strahlenschutz, wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass im Rahmen einer zusätzlich durchgeführten Fall-Kontrollstudie geprüft wurde, ob sich das Hauptergebnis der Mainzer Kinderkrebs-Studie, eine signifikante Abstandsabhängigkeit des Risikos, auch durch eine Vielzahl anderer möglicher Einflussfaktoren (Confounder) wie beispielsweise Pestizide erklären lässt. “Einen solchen Confounder hat man nicht gefunden”, so Pflugbeil. “Die Forscher vom Mainzer Kinderkrebsregister stellten fest, dass lediglich der Abstand zu den Atomkraftwerken signifikante Ergebnisse lieferte. Wenn man davon ausgeht, dass die radioaktive Belastung ebenso mit der Entfernung abnimmt wie das beobachtete Risiko, dann liegt der Schluss nahe, dass die Ursache der erhöhten Krebsraten in den radioaktiven Emissionen aus den Atomkraftwerken zu suchen ist.” Professor Dr. med. Greiser und Professor Dr. med. Wolfgang Hoffmann, Universität Greifswald, Abteilung Versorgungs-Epidemiologie und Community Health, bestätigten die korrekte rechnerische Durchführung der Studie, kommentierten aber ebenfalls kritisch die Schlussfolgerungen in der Studiendiskussion. Hoffmann machte klar: “Eine ursächliche Beteiligung der radioaktiven Emissionen durch Kenkraftwerke kann auf der Basis dieser Studienergebnisse definitiv nicht ausgeschlossen werden.” Die Professoren Greiser und Hoffmann sowie Dr. Pflugbeil sind Mitglieder des pluralistisch besetzten Expertengremiums des Bundesamtes für Strahlenschutz, das die Kinderkrebsstudie des Deutschen Kinderkrebsregisters in Mainz beratend begleitete. Dieses Gremium stellte am 10. Dezember 2007 in seiner Stellungnahme zum Studienergebnis einstimmig fest, dass die radioaktiven Freisetzungen aus den deutschen Atomkraftwerken als Ursache für die vermehrten Kinderkrebsfälle nicht ausgeschlossen werden können. Nach Auffassung von Physikprofessorin Schmitz-Feuerhake - ehemals Universität Bremen - setzen Atomanlagen mehr Radioaktivität frei als offiziell angegeben wird. Zwar würden die Betreiber am Abluftkamin und im Abwasser kontinuierliche Messungen durchführen. “Es gibt aber Beispiele dafür, dass es zu ungenehmigten Freisetzungen gekommen ist. Das spiegelt sich u.a. darin wider, dass man bei Kindern in der Umgebung des Atomkraftwerkes Krümmel und des Kernforschungszentrums GKSS im Rahmen einer aufwändigen Studie signifikant mehr dizentrische Chromosomen im Blut gefunden habe als bei den nicht exponierten Kindern. Dizentrische Chromosomen sind aber ein spezifischer Indikator für Strahlenschäden.” Das Argument der Behörden, die Dosis sei zu klein, den beobachteten Effekt hervorzurufen, sei nicht stichhaltig. Die Bevölkerungsdosis könne nicht direkt gemessen werden, sondern müsse anhand von Modellrechnungen aus den gemessenen Emissionen simuliert werden. Die Unsicherheiten der Dosisbestimmung könnten besonders im Falle kleiner Kinder mehrere Zehnerpotenzen betragen. Für Frau Dr. med. Claußen kommt es jetzt darauf an, den europa- und verfassungsrechtlich gebotenen Grundsatz der Risikovorsorge umzusetzen. Die Ärztin zog einen Vergleich aus ihrer Praxis: “Wenn bei einem Medikament so viele ernstzunehmende Nebenwirkungen bekannt würden, dann würde dieses Medikament umgehend aus dem Handel genommen werden, bis die Ursachen der Nebenwirkungen restlos geklärt wären. Dies ist ein selbstverständliches Vorsorgeprinzip zum Schutz der Patienten. Warum gilt dies nicht für den Betrieb der Atomkraftwerke?”
Quelle: Pressemitteilung der IPPNW und der Ulmer Ärzteinitiative vom 19.12.07
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