Was ist eine Kultur des Friedens und der Gewaltfreiheit?Von Hildegard Goss-Mayr
Am 10. 11. 1998 verabschiedete die UN “in der Erkenntnis, dass Kindern weltweit durch verschiedene Formen der Gewalt auf allen Ebenen der Gesellschaft ungeheures körperliches und seelisches Leid zugefügt wird und dass eine Kultur des Friedens und der Gewaltlosigkeit die Achtung des Lebens und der Würde jedes Menschen ohne Vorurteile oder Diskriminierung jedweder Art fördert, unterstreichend, dass die geplante internationale Dekade für eine Kultur des Friedens und der Gewaltlosigkeit zugunsten der Kinder der Welt dazu beitragen wird, dass auf der Grundlage der in der Charta der Vereinten Nationen verankerten Grundsätze sowie der Achtung vor den Menschenrechten, der Demokratie und der Toleranz, der Entwicklungsförderung, der Friedenserziehung, des freien Informationsflusses und der umfassenderen Teilhabe von Frauen als ein ganzheitlicher Ansatz zur Verhütung von Gewalt und Konflikten eine Kultur des Friedens sowie Anstrengungen gefördert werden, deren Ziel es ist, die Voraussetzungen für den Frieden und dessen Konsolidierung zu schaffen, erklärt den Zeitraum von 2001 bis 2010 zur Internationalen Dekade für eine Kultur des Friedens und der Gewaltlosigkeit zugunsten der Kinder der Welt. Entstehungsgeschichte und HintergrundDiese Resolution stellt einen, noch nicht voll ermessbaren, inhaltlichen Sprung im Friedenskonzept der Völkergemeinschaft der UN dar. Zum ersten Mal werden Konzept und Zielrichtung auf eine Kultur der Gewaltfreiheit von der Generalversammlung proklamiert - und das einstimmig! Die Bedeutung dieses Votums ist noch nicht abzuschätzen. Es kommt darauf an, was die Völker selbst daraus machen: toter Buchstabe oder Ansatz zu einem globalen Miteinander in größerer Gerechtigkeit und Frieden aus der Kraft der Gewaltfreiheit. Hierbei ist zu bedenken, dass diese Resolution das Ergebnis beharrlicher Bemühungen einer Handvoll engagierter Menschen aus der gewaltfreien Bewegung ist. Pierre Marchand, Leiter der NGO Partage avec les Enfants du Tiers Monde, tief betroffen von dem Leid der Kinder der Welt, motivierte 1996 mit Hilfe der FriedensnobelpreisträgerInnen A.P. Esquivel und Mairead Corrigan alle übrigen derzeit lebenden FriedensnobelpreisträgerInnen dazu, dem Appell für eine Dekade zum Aufbau einer Kultur der Gewaltfreiheit zuzustimmen und diese bei den Vereinten Nationen zu beantragen. Nach intensiver Arbeit der Meinungsbildung wurde die Dekade 1998 von der UN-Generalversammlung beschlossen. Das 20. Jahrhundert wird in die Menschheitsgeschichte als eines der blutigsten eingehen, zugleich aber auch als jenes, in welchem auf der Ebene des Internationalen Rechtes, der Bedeutung der Menschenrechte, der Sorge um Ernährung, Gesundheit, Abrüstung wie der Vermittlertätigkeit in Konfliktsituationen, trotz aller Schwächen der für diese Dienste errichteten internationalen Institutionen, eine neue Ebene weltweiter gemeinschaftlicher Verantwortung erzielt wurde. Darüber hinaus haben Philosophie und Praxis der Gewaltfreiheit in diesem Jahrhundert als befreiende und friedenschaffende Kraft im persönlichen wie im gesellschaftlichen Bereich geschichtliche Bedeutung erlangt. Gewaltfreie Aktionen, beginnend mit dem Befreiungskampf von Mahatma Gandhi in Indien, über M.L. King, den Widerstand im Prager Frühling, Solidarnosc in Danzig, die gewaltfreie Überwindung von Diktaturen in den Philippinen und Madagaskar, bis zur “samtenen” Wende in Osteuropa 1989/90 bezeugen diesen Aufbruch. Auf diesem Hintergrund gewinnt die Dekade ihre volle Bedeutung. Eine Kultur der GewaltAufgrund der Tatsache, dass “Kindern weltweit durch verschiedene Formen der Gewalt auf allen Ebenen der Gesellschaft Leid zugefügt wird” (UN-Resolution), sind als erstes die Ursachen dieses Leides, d. h. die Situation, die Kultur der Gewalt in der Welt und im besonderen in Europa und Österreich zu hinterfragen, um die Ansatzpunkte für das Ringen um eine Kultur der Gewaltfreiheit zu gewinnen. In der in Ausarbeitung befindlichen Charta der Stiftung “Appell der FriedensnobelpreisträgerInnen” für die Arbeit der Dekade wird die Kultur der Gewalt so charakterisiert:
Die in Österreich im Aufbau befindliche Plattform für die Dekade für Frieden und Gewaltfreiheit hat bereits eine Anzahl für unser Land relevante Konfliktfelder aufgezeigt, die konkrete Aufgabenbereiche deutlich machen, z.B.: Bildung und Erziehung, Familie, Migration, Gewalt unter dem Geschlechteraspekt, Wirtschaft, Medien, Kunst, interreligiöser Dialog, Friedenspolitik und Abrüstung. Eine Kultur der GewaltfreiheitDie UN-Resolution bekräftigt, “dass eine Kultur des Friedens und der Gewaltfreiheit die Achtung des Lebens und der Würde jedes Menschen ohne Vorurteile oder Diskriminierung jedweder Art fördert.” In dem Appell der FriedensnobelpreisträgerInnen heißt es: “Wir glauben, dass jedes Kind die Erfahrung machen kann, dass Gewalt kein unausweichliches Schicksal ist. Wir können Hoffnung wecken, indem wir beginnen, eine neue Kultur der Gewaltfreiheit aufzubauen.” Die Kultur der Gewaltfreiheit gründet auf der Achtung des Lebens und der Würde jedes Menschen ohne Ausnahme in möglichst absoluter Weise. Ihre Werte sind Wahrheit, Gerechtigkeit, Mitgefühl (compassion), Vergebung, Liebe. In einer Kultur der Gewaltfreiheit wird Gewalt in all ihren Formen (physische, sexuelle, psychologische, wirtschaftliche, soziale) durch Widerstand gegen Unrecht und durch die Bemühung um friedliche Konfliktlösung bekämpft. Es geht darum, aus der Spirale der Gewalt auszubrechen und Bedingungen für ein neues, versöhntes, harmonisches Leben aufzubauen: Konflikten wird nicht ausgewichen, sie werden auch nicht verdeckt, vielmehr werden sie in einer neuen Weise aufgearbeitet. Hierfür ist es nötig, gewaltfreie Mittel anzuwenden, die die Achtung des Menschen, auch des Gegners/der Gegnerin, wahren, d.h. gute Mittel für ein gutes Ziel einzusetzen. Die Verwirklichung einer Kultur der Gewaltfreiheit setzt voraus, dass Einzelne und Gruppen die Kraft der Gewaltfreiheit in sich entdecken, sich in deren Methoden schulen und so befähigt sind, sie in persönlichen und kollektiven Konflikten zur Anwendung zu bringen. In einer Kultur der Gewaltfreiheit würden gewaltfreie Konfliktlösung und Achtung der Menschenrechte von frühester Kindheit an in Familie und Schule gelehrt. Frauen werden in keiner Weise diskriminiert. Demokratische Werte und Vorgangsweisen, sowie kulturelle Vielfalt und die Rechte von Minderheiten werden auf allen Ebenen der Gesellschaft respektiert. Schutz der Schwachen und der Randgruppen ist eine Priorität. Die Güter und Ressourcen unseres Planeten werden (vor allem in den Beziehungen zwischen Nord und Süd) in möglichst gerechter Weise im Rahmen einer Weltwirtschaft geteilt, die auf die Befriedigung der Lebensbedürfnisse der größten Anzahl der Weltbevölkerung und nicht auf Profit und Herrschaft einer Minderheit ausgerichtet ist. Die Entwicklungsstrategien sind darauf bedacht, das Gleichgewicht der natürlichen Ressourcen zu erhalten. Und schließlich ist der Einsatz für Abrüstung und Konfliktprävention gefordert, wie die Ersetzung von Waffendiensten durch einen zivilen Friedensdienst. Die Weisheit alter Traditionen wie die Religionen der Welt, die alle in ihrem Wesenskern die absolute Achtung des Menschen und des Lebens tragen und bezeugen, können durch ihre Lehre und moralische Autorität einen unschätzbaren Beitrag zu dieser neuen Kultur leisten. In Österreich werden wir uns in der Dekade deshalb in besonderer Weise um eine intensive Zusammenarbeit humanistischer mit religiös motivierten Kräften bemühen. Zielsetzung der DekadeZielsetzung der Dekade ist es daher, mit aller Kraft die Umgestaltung unserer Kultur der Gewalt in eine Kultur der Gewaltfreiheit und des Friedens zu fördern und so die Leiden der Kinder und Jugendlichen der Welt zu vermindern. HauptakteurInnen dieses Ringens um Humanisierung sind die Kinder und Jugendlichen selbst in Partnerschaft mit Frauen und Männern, Vereinigungen, NGOs und religiösen Gemeinschaften sowie mit Institutionen von Regierungen und aus dem internationalen Bereich, die selbst der Philosophie und den Methoden der Gewaltfreiheit verpflichtet und bereit sind, sich in den Dienst der Förderung der Kultur der Gewaltfreiheit und des Friedens zu stellen. In Zusammenarbeit mit den verschiedenen Regionen Europas und der Welt wird die Dekade in Österreich Initiativen unterstützen bzw. ins Leben rufen, die auf dem Gebiet der Erziehung (Familie, Schule, Jugendorganisationen), der Medien, des intellektuellen und spirituellen Lebens der Kunst, der Wissenschaft und Technologie, des sozialen und wirtschaftlichen Lebens, der Politik und der Ökologie eine neue Kultur des Friedens und der Gewaltfreiheit aufzubauen bestrebt sind. Diese Kultur tritt für Gerechtigkeit, die Achtung der Menschenrechte, für Gleichwertigkeit der Geschlechter, ethnischer Gruppen und Minderheiten, für Abrüstung, Kriegsprävention, gewaltfreie Konfliktlösung und den Aufbau von Friedensdiensten ein. In Österreich können wir von einer guten Ausgangslage sprechen, da auf zahlreichen Ebenen bereits Ansätze mit dieser Zielsetzung bestehen. Es wird darum gehen, diese Initiativen mit Energie und Beharrlichkeit auszuweiten, zu vernetzen und in den internationalen Zusammenhang zu stellen. Wir sind uns jedoch der Schwierigkeiten bewusst, mit welchen die Dekade konfrontiert ist. Denn sie steht gegen den Zeitgeist, gegen Konzepte und Interessen in Wirtschaft und Politik, gegen Machtmissbrauch und Egoismen auf allen Ebenen. Aus eigener Erfahrung kennen wir jedoch auch die Wirksamkeit, die von der beharrlichen Kraft der Wahrheit, der Gerechtigkeit, der Menschlichkeit und Liebe ausgeht: sie ist fähig, Gewissen aufzuschließen und Strukturen umzugestalten. Wir kennen Großzügigkeit und Idealismus in den Herzen von Kindern und Jugendlichen und ihr Suchen nach der befreienden Kraft der Gewaltfreiheit. Wir setzen nicht auf eine leere Utopie, die ein endgültiges Friedensreich vortäuscht. Doch wir bauen auf die vielen kleinen, kreativen Schritte, die in den kommenden zehn Jahren Unrecht mindern, Grundlagen für ein friedliches Miteinander bauen und stärken werden, um so Leid und Tränen vieler Kinder der Welt in Freude am Leben zu verwandeln.
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