Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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Ein Brief von Dan an Sami

Von Dan Bar-On

Ich habe viel Zeit gebraucht, bis ich diesen Brief in meinem Kopf fertig hatte. Wir sind so sehr mit unserer gemeinsamen Arbeit am PRIME   engagiert, dass wir oft nicht die Zeit haben, persönliche tiefergehende Gedanken und Gefühle auszusprechen und mit einander darüber zu reden. Ich liebe dich wie meinen Bruder und ich habe das Gefühl, dass es dir genau so geht. Für mich bist du der Bruder, den ich als nahen Partner im Leben nie hatte. Wir erlauben uns zuweilen einen negativen Gefühlsausbruch, aber wir haben nie über die tieferen Gründe dieser Emotionen gesprochen. Ich habe das Gefühl, dass ich in diesem meinem Brief diesen Schritt tun sollte, ja, dass die Zeit dazu reif ist.

Du weißt, dass ich sehr mit meinen Nachforschungen mit Familien von Holocaustüberlebenden und Nachkommen von Nazitätern beschäftigt bin: die Nachwirkungen des Holocaust auf uns und sie bis heute. In den letzten 20 Jahren verging kaum eine Woche, in der ich nicht noch eine Lebensgeschichte von jemandem las, der diese schrecklichen Ereignisse überlebte - oder von einem seiner Nachkommen, wie sie heute nach vielen Jahren über ihre Erfahrungen reden, wie sie dies mir oder ihren Kindern und Enkeln mitteilen. Erst in dieser Woche las ich zum ersten Mal - unter den Hunderten von Geschichten - die Geschichte einer Frau, die den Holocaust mit ihren vier kleinen Geschwistern und ihren Eltern in Polen überlebte. Die Möglichkeit eines solchen Wunders unter dem Naziregime war unvorstellbar. Dies sind die Geschichten meines Volkes und des Volkes, dessen Eltern dieses Leid über mein Volk brachten. Wie viele andere wuchs ich (zu Hause) mit diesen Geschichten auf, dass wir unter anderem deshalb hierher kamen mit der Hoffnung, solch eine Unglück möge unserm Volk, uns auch als Familie, nie wieder widerfahren.

Seit kurzem werde ich des Öfteren gefragt, wie ich selbst die beiden Sphären bei meinen Untersuchungen zu einander bringen könnte: die jüdisch-deutschen Beziehungen nach dem Holocaust und meine Arbeit zum israelisch-palästinensischen Konflikt. Für viele israelische Juden müssen diese beiden Themen vollständig getrennt werden. Vor allem fürchten sie sich vor dem vulgären Weg, sie zu einander in Beziehung zu bringen (“Was ihr gegenüber den Palästinensern tut, ist wie das, was die Nazis während des Holocaust taten”). Meine Antwort ist dann: wir müssen einen Weg finden, die Beziehungen zwischen beiden Bereichen zu beschreiben, da wir ein persönlicher Teil beider Bereiche sind. Dies war einer der Gründe, warum ich meine Dokumentation über die Verdrängung von Aggression (Bar-On, 2001) vor ein paar Jahren schrieb; ich versuchte zu beschreiben, wie ich die Beziehungen zwischen diesen beiden Bereichen sehe, da ich davon überzeugt bin, dass sie mit einander zusammenhängen. Dieser Brief soll eine weitere Bemühung sein, die Zusammenhänge zu beschreiben, so, wie ich sie sehe.

Während wir die Geschichten vom Holocaust hörten, wurde uns Kindern nicht erzählt, was sich gleichzeitig in einer anderen Gesellschaft ereignete: Deine Gesellschaft wurde 1948 durch uns zerstört - bewusst und unbewusst. Ich und ein paar andere haben verstanden (doch der größte Teil hat es noch nicht begriffen), dass es da 1948 einen absichtlichen Plan gab, um den größten Teil deines Volkes aus Israel zu vertreiben, damit wir in diesem Land eine jüdische Mehrheit haben werden.

Als wir beide mit unserem gemeinsamen Projekt der beiden Narrative begannen, und selbst als wir beide 2003 den Geschichten der Familie lauschten, die Beit Jubrin verließen, ja 1948 aus ihrem Dorf vertrieben wurden, versuchte ich mir einzureden, dass das eben Krieg war, dass dahinter keine Absicht stand, das Land von Palästinensern zu säubern, so dass wir einen jüdischen Staat haben werden. Lange Zeit tat mir dein Volk leid, aber ich versuchte, mich davon zu überzeugen, dass wir zwischen unseren beiden Arten von Gerechtigkeit kämpften und dass wir die Vergangenheit im Namen einer gemeinsamen Zukunft überwinden müssen.

Ich musste Dein Narrativ und unser Narrativ der letzten 100 Jahre des 20. Jahrhunderts kennen lernen, viele Bücher lesen und Dokumentationen einsehen, um dich und einige Leute deines Volkes kennen zu lernen und ihre Geschichten zu hören, um die tiefe Verletzung deines Volkes zu begreifen - aber auch von uns, die wir nicht zur Kenntnis nehmen wollen, dass es da von einigen unserer Führer eine bewusste Absicht gab, dieses Land von Palästinensern zu säubern, um die jüdische Mehrheit dieses Staates abzusichern. Die Absicht war vielleicht in den frühen Jahren des Zionismus nicht ursprünglich vorhanden und wurde vielleicht nicht von allen zionistischen Führern geteilt, aber diese Methode wurde während der Entstehung des Staates Israel immer stärker, ja, radikalisierte sich gegenüber Deinem Volk, da man glaubte, dass dies damals der einzige Weg sei, einen unabhängigen Staat zu erlangen. Keiner dachte damals an die langfristigen Auswirkungen solcher Handlungen, mit denen wir heute noch zu kämpfen haben. Ich lernte aus diesem Prozess, dass man die Grausamkeiten, die von meinem eigenen Volk begangen wurden - auf kollektiver aber auch auf persönlicher Ebene - anerkennen kann, aber es ist viel schwieriger, die Absicht hinter diesen Handlungen unserer verantwortlichen Führung zuzuschieben.

Ich glaube, nur sehr wenige meines Volkes, besonders junge Leute, studierten Benny Morris’ Bücher und sind sich dessen bewusst, dass solch eine Absicht tatsächlich damals bestand. Manche mögen dies noch immer rechtfertigen - aber viele andere schämen sich dafür. Was sie daran hindert, unseren kollektiven (und persönlichen) Anteil an Verantwortlichkeit für diese Grausamkeiten zu übernehmen, ist die Befürchtung, dass wir bei solcher Anerkennung die Rechtfertigung für unsere unabhängige Eigenstaatlichkeit hier verlieren. Viele können die Absicht unserer Regierungen, dein Volk damals zu vertreiben (und das Leben deines Volkes seitdem unmöglich zu machen) nicht anerkennen. Sie müssten damit auch die Rechtfertigung für die Existenz eines unabhängigen Staates Israel als jüdischen Staat in Frage stellen und - als Folge unserer Anerkennung - die Rückkehr deines Volkes durch ein Rückkehrrecht erlauben. In gewisser Hinsicht besteht die Befürchtung, die Kontrolle über die Folgen unserer Anerkennung und Akzeptanz der Verantwortlichkeit zu wollen, statt den Vorteil des Prozesses anzuerkennen, der versucht, die Fehler der Vergangenheit und ihre noch immer bestehenden Auswirkungen zu korrigieren. Oder liegt hier eine tiefere Befürchtung verborgen? Schließlich gibt es in unserer Zeit keinen Präzedenzfall für Rückintegration von Bevölkerung in ein Land, um vergangene Politik ethnischer Säuberung wieder gut zu machen. Im Gegenteil - es scheint eine Erkenntnis zu geben, dass Trennung in politische ethnisch/religiöse Mehrheitsgebilde, die ethnischer Säuberung folgen, ein notwendiger erster Schritt in Richtung Versöhnung zwischen sich bekämpfenden ethnisch/ religiösen Gruppen ist.

Robert Loeb schrieb mir als Antwort auf diesen Satz: “Vielleicht ist die tiefere Befürchtung (die ich eher Horror nennen möchte) die, dass wir irgendwie versuchten, ein sicheres Heim für das jüdische Volk zu schaffen, und nun im Laufe der Zeit eine reine Ghetto-Gesellschaft schufen, der wir (einmal) zu entkommen versuchten. Oder es steckt die Befürchtung dahinter, dass es für Juden nirgendwo letzte Sicherheit gibt? Oder dass wir vielleicht die eindeutigen Zeugen der Tatsache sind, dass es für niemanden letzte Sicherheit gibt und dass es keine spezielle Erlösung (Auserwähltheit? Die Übersetzerin) für das jüdische Volk von seinem Leiden gibt. Und dass weder politischer Zionismus noch theologisches Judentum irgendeine Grundlage für eine Zuflucht in der modernen Welt ist.

Du hast Recht, dass dies ein Bereich ist, den wir als Juden unabhängig vom israelisch-palästinensischen Konflikt und seiner Lösung noch ausloten müssen. Ich denke, dazu wäre ein jüdisch religiöser Führer von besonderer Statur nötig (gibt es so jemanden?) der anführt und weiterdenkt, wie man einen Prozess initiiert. Avrum Burg hat einige dieser Probleme angesprochen. Dies lag der Agenda von Breira (?) vor 30 Jahren zu Grunde, aber wir haben mit ihr nicht einmal einen Versuch gemacht. Vielleicht ist es etwas, das in Diskussionen mit jüdischen Führern in den USA und anderswo untersucht werden sollte.”

Ich, Dan, selbst habe den Punkt erreicht, dass ich weiß, dass ich nicht mehr die Folge einer solchen Anerkennung kontrollieren kann und finde, dass solch ein Prozess notwendig geworden ist. Wenn unsere Anerkennung das Aufgeben unserer unabhängigen jüdischen Eigenstaatlichkeit zur Folge haben wird, dann wird dies meiner Meinung nach auf jeden Fall mit viel Blutvergießen verbunden sein. Ich kann den Vorteil unserer Anerkennung sehen - sie wird eine neue und positive Dynamik zwischen unsern beiden Völkern entstehen lassen, die keine Armee je erreichen wird. Ich kam zu der Schlussfolgerung, dass unsere Anerkennung auch eine neue Offenheit innerhalb deines Volk bringen wird, um unsere langjährige Weigerung angesichts des Leidens unsres Volkes während des Holocaust besser zu verstehen, und wie dieser in all den Jahren unsere Augen blendete, unsere Herzen und Ohren (für euer Leiden) verschloss.

Ich habe weniger Befürchtungen vor den Folgen eines Rückkehrrechtes deines Volkes, da ich nicht glaube, dass viele zurückkehren wollen, um ein Teil des Staates Israel zu werden. Aber wie ich schon sagte, können wir nicht die Folgen unserer Anerkennung kontrollieren.

Um zu den Zusammenhängen zwischen den beiden Bereichen zurückzukommen, will ich dir nur eine kleine Geschichte erzählen: Ein Holocaustüberlebender in einem Kibbuz in Galiläa half nach dem 1948er-Krieg Steine aus einem nahen palästinensischen Dorf wegzutragen - deren Bewohner denen des Kibbuz freundlich gesonnen, die aber trotzdem vertrieben worden waren. Aus diesen Steinen sollte ein Kulturzentrum gebaut und nach einem zionistischen Führer genannt werden. Die Geschichte wurde jahrelang nicht erzählt und erst kürzlich kam sie durch Tomer, einen jungen Mann, der in dem Kibbuz aufgewachsen ist und der nun bei Zochrot mitarbeitet, wieder ans Licht. (Z. ist eine israelische Organisation, die versucht, die Erinnerung an die [über 500] zerstörten arabischen Dörfer von 1948 zu wecken).

Dem Holocaustüberlebenden war es wahrscheinlich nicht bewusst, was er tat und er begriff nicht, dass er seine Hände dazu benützte, um den Schmerz des anderen Volkes zu vollenden, einem Schmerz, der dem seinen ziemlich ähnlich ist. (Wir wissen, dass man Schmerz nicht vergleichen kann, Schmerz ist nur verschieden - nicht mehr und nicht weniger). Er hat mit seinem Herzen Dein Volk, das dort lebte, nur deshalb nicht gesehen, weil sein Herz voll eigenem Schmerz war. Sein Mangel an Verständnis und emotionaler Offenheit ist für viele in meinem Volk bezeichnend, ja, sie verstehen bis heute nicht, wie die Ereignisse des Holocaust und die Kriege hier die Gefühle vieler Israelis jener Zeit gegenüber dem Anderen abgetötet haben. Die Befürchtung und die Illusion dies durch Gewalt zu überwinden, half mit, die Aktionen und die Absichten gegenüber deinem Volk zu radikalisieren, ohne damals andere Optionen in Erwägung zu ziehen, so wie sie auch heute vorhanden sind: nämlich positive Beziehungen zwischen unseren Völkern zu entwickeln.

Meine Gesellschaft ist aus mehreren Schichten zusammengesetzt. Das will ich hier in etwas vereinfachender Form darstellen: die jüdischen Pioniere kamen vor dem Holocaust (die Aschkenasi-Vorherrschaft), die Holocaustüberlebenden, auf die die ersten hinuntersahen, weil “sie nicht kämpften und wie Schafe zur Schlachtbank gingen”. Die dritte Schicht waren die Juden, die aus arabischen Ländern kamen und die von den ersten beiden Gruppierungen wirtschaftlich benachteiligt wurden und die sich der Aschkenasi-Herrschaft beugen mussten. Vor noch nicht langer Zeit kam die vierte Gruppe: die Juden aus der Sowjetunion. Und dann gibt es noch Untergruppen unter diesen (die National-religiösen etc.). All diese Gruppen wuchsen damit auf euch nicht zur Kenntnis zu nehmen (ignorierten euch total), um euch später in jeder Weise zu demütigen. Dies ist eines der Elemente, auf die unsere Gesellschaft aufgebaut wurde. Da diese Gruppierungen die unter sich bestehenden Spannungen nicht zu lösen imstande sind, haben sie eine Entschuldigung, sich nicht mit Beziehungen zu deinem Volk zu beschäftigen.

Meine eigene Befürchtung und Verzweiflung hängt mit der Tatsache zusammen, dass der größte Teil meines Volkes nicht in der Lage ist, zu der Schlussfolgerung zu kommen, zu der ich, wie ich hier oben beschrieb, gekommen bin: für sie ist die Existenz eines jüdischen Staates unerlässlich, egal was dabei geschieht (selbst zum Preis von mehr Morden, mehr Toten, auch wenn es zu einer korrupten Gesellschaft wird). Für den größten Teil meines Volkes ist die Anerkennung der vergangenen Absichten und Grausamkeiten keine Option. Es geht ihnen nur darum, dass Israel ein jüdischer Staat wird. Viele sind zwar politisch bereit, euch in den besetzten Gebieten einen Staat zuzubilligen. Ich fürchte nur, dass für den größten Teil meines Volkes es auf Grund der Folgen der Vergangenheit es viel wichtiger ist, einen starken jüdischen Staat zu haben, als einen Prozess mit verändernder Dynamik zwischen unseren Völkern. Ich bin davon überzeugt, dass wenn wir einen Weg finden, einige Generationen lang ohne bewaffneten Konflikt euren Staat neben einem jüdischen Staat zu schaffen, dies dann einen Prozess in Gang bringen könnte, in dem mehr Menschen meiner Gesellschaft zu einer ähnlichen Schlussfolgerung kommen wie ich. Bis dahin habe ich das Gefühl, dass ich mich für das, was unsere Führung und unser Volk 1948 und seitdem mit Absicht getan haben, bei dir entschuldigen muss. …Selbst wenn man die politischen und menschlichen Umstände verstehen kann, die diese Blind- und Taubheit unsrerseits erzeugt haben, so rechtfertigt dies nicht die Art und Weise, mit der wir mit deinem Volk umgegangen sind. Ich bin davon überzeugt, dass diese meine Entschuldigung dir einseitig zugestanden werden muss - ohne dass ich von deinem Volk dafür etwas erwarte.

Dieser Brief wurde am jüdischen Neujahrstag, 8. September 2007, von Dan Bar-On (Israel) an Sami Adwan (Palästina) geschrieben. Übersetzung: Ellen Rohlfs

Dan Bar-On wurde 1938 in Haifa als Sohn deutsch-jüdischer Eltern geboren. Nur knapp waren sie dem Holocaust entkommen. Mehr als zwei Jahrzehnte lebte und arbeitete Dan Bar-On in einem Kibbuz. Er studierte Psychologie und spezialisierte sich auf die Therapie von Holocaust-Überlebenden. Nach seiner Dissertation unternahm er als Erster eine Feldstudie, um die moralischen und psychologischen Nachwirkungen des Holocaust auf Kinder von Nazi-Tätern zu untersuchen. Er gründete die Gruppe “To Reflect and Trust”, in der sich Nachkommen von Nazi-Tätern und Nazi-Opfern konstruktiv viele Jahre miteinander auseinander setzten. Dan Bar On veröffentlichte mehrere Bücher zu diesem Thema.

Dan Bar-On ist Professor für Psychologie an der Ben-Gurion-Universität in Beer Sheva und zusammen mit Professor Sami Adwan von der Universität Bethlehem Co-Direktor von PRIME , dem Peace Research Institute in the Middle East. Für sein Engagement für Frieden und Verständigung wurden ihm u.a. das Bundesverdienstkreuz (2001), der Alexander-Langer-Preis (2001) sowie der Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis (2003) verliehen.

 

Veröffentlicht am

29. Dezember 2007

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