Befreiung im 21. JahrhundertHelmut Thielens leidenschaftliches Plädoyer für eine Gesellschaft jenseits von Kapital und Staat
Das Jahr 1968 war unter anderem geprägt durch weltweite Studentenproteste, Notstandsgesetze, Anti-Vietnamkriegs-Bewegung, Prager Frühling und das Massaker von My Lai. Rückblickend gesehen steht die 68er-Bewegung für einen notwendigen gesellschaftlichen Aufbruch, der zur Demokratisierung der Gesellschaft beitrug. Durch die damalige Aufbruchstimmung wurde auch das angestoßen, was sich in den siebziger und achtziger Jahren als Neue Soziale Bewegungen entwickelte: Frauen-, Bürgerinitiativen-, Alternativ-, Dritte-Welt-, Ökologie- und Friedensbewegung. Was ist aus dem großen Aufbruch geworden? Der Friedensforscher und Friedensaktivist Wolfgang Sternstein beispielsweise antwortet auf diese Frage: "Eine wehmütige Erinnerung an einen großen Aufbruch, an eine Zeit, wo eine Wende zum Besseren möglich, ja geradezu unausweichlich schien. … Bis auf den wackligen Atomausstieg und den Aufschwung der regenerativen Energietechniken hat die Flutwelle der Globalisierung alles hinweggespült. Auf den großen Aufbruch folgte das große Scheitern."Siehe hierzu: Was können Einzelne in unserer Gesellschaft bewirken? . Vielleicht ist ein Blick "von außen" förderlich, um Licht am Ende der bleiernen Zeit erblicken zu können. Jedenfalls beobachtet und analysiert ein deutscher Professor von Brasilien aus, was weltweit mehr noch als in Deutschland im Gange ist. 1994 ging Helmut Thielen, der Sozialwissenschaften und Philosophie studiert hat sowie Landschaftsplanung und Internationale Agrarentwicklung, als Professor nach Campo Grande und São Leopoldo, Brasilien. Jetzt hat Thielen seinen zahlreichen Buchveröffentlichungen eine weitere hinzugefügt, die den Titel "Befreiung im 21. Jahrhundert" trägt. Steht am Beginn des Textes noch die Frage "Licht am Ende der bleiernen Zeit?", so wird beim Lesen rasch klar, dass sich das Fragezeichen aus Sicht von Helmut Thielen erübrigt. Denn er macht zwar allerlei Zusammenbrüche, Enttäuschungen, Rückzüge, Ratlosigkeit, Resignation und Zynismus aus. Gleichzeitig sieht er aber als gegebene Tatsache, "dass inzwischen praktisch schon viel Richtiges, Neues geschieht". Dass Ideen von einer anderen, besseren Welt und die Arbeit an deren praktischen Umsetzung an der Tagesordnung sind, werde nur selten bemerkt, auch, weil in der veröffentlichten Meinung allerhand dafür getan werde, dass sie verzerrt, verleumdet, verschwiegen werden. Aber es gebe sie, weltweit und mächtig und unaufhaltsam wachsend. Thielen betont die Notwendigkeit, heute zu wissen und auszuhalten, "dass wir in einer Welt leben, die in der Spannung zwischen zwei Extremen existiert: unvorstellbares Leiden von Menschen und Natur, unvorstellbare Zerstörungen, die absolut werden können, und gleichzeitig unvorstellbar reiches, vielfältiges, weltumgreifendes Leben in Widerstand, Überwindung und Schaffung einer anderen Welt." Insbesondere der Prozess der Weltsozialforen spiegele, bündele und stärke diese Aktivitäten, die in beständigem Wachstum begriffen seien. "Angesichts dieser Spannung zwischen diesen Extremen", ermutigt Thielen, "darf heute niemand sein ganz unverwechselbares persönliches ‚Licht unter den Scheffel stellen’ oder gar blind dafür bleiben. Jede und jeder kann und muss es kennen, hüten und entfachen, um es hineinzutun in das Flammenmeer, das schon da ist und die Kraft gewinnt, das Falsche in dieser Welt zu vernichten." Thielens Buch ist in fünf Teile gegliedert. Der erste ist mit "Theorie als Praxis" überschrieben. Dabei ist nicht irgendeine Theorie gemeint, "sondern eine, die uns von sich aus schon ein Stück weit befreit, voranbringt und die darum sich mit Praxis der Befreiung gut verbinden lässt." In den Mittelpunkt seiner Betrachtungen stellt Thielen Autonomie und Würde des Menschen und der Natur, die - als real-utopische Potenzen und Potentiale - seine im Buch vorgestellten Überlegungen, Analysen und Perspektiven inspirieren. Er konfrontiert Autonomie und Würde mit deren Verletzungen in der modernen Gesellschaft und deren aktueller Existenzkrise. Als Hauptverursacher sieht er die beiden mächtigsten Institutionen der modernen Welt, Kapital und Staat, um deren Überwindung es ihm zentral geht. Er macht deutlich, dass sich die Praxen, die hierfür im Gange seien, jenseits von verkehrt Trennendem, dogmatisch Festschreibendem, ängstlich Verzagtem bewegten. "Trennungen und Festschreibungen übers Kleine und Große, über Reform und Revolution, über die Massen, die Avantgarden, das Bewusstsein, die Klassen und ihre Kämpfe (und Krämpfe), den Staat und ganz vielleicht auch eine nette kleine Diktatur, … undsoweiter - die innerhalb dieser neuen Praxen und ihres Selbstbewusstseins schlichtweg nicht mehr interessieren, die daran abprallen und abblitzen." In Chiapas/Mexiko und in Porto Alegre/Brasilien, in Mumbai/Indien und auf der ganzen Welt würde ausgerufen: "Já basta! So nicht mehr, so ging es nie, so kann es nicht gehen, es geht nur anders: Nämlich: Die Welt verändern ohne die Macht zu erobern!" Den Ansatz von John Holloways Unterscheidung von der Macht-zu-tun und der Macht-über aufgreifend, stellt Thielen fest: "Jeder Mensch hat eine gleichsam natürliche Macht, zu tun, das heißt: schaffen zu können - jede/r nach seinen / ihren Fähigkeiten - und das in gemeinschaftlichem und in gesellschaftlichem Miteinander." Daran anknüpfend unterbreitet er eine real-utopische Perspektive, die mit libertärem Kommunismus und ziviler Revolution Kapital und repressive Politik überwinden will. Den zweiten Teil seiner Überlegungen nennt Thielen "Praxis als Theorie: Wege der Veränderung". Auch hier gilt nicht irgendein Handeln, sondern solches, das wichtige Qualitäten aufweist, in diesem Sinne theoretisch ist, bewusst und durchdacht, daher gut verbunden mit Theorie. Thielen stellt hier Beispiele solcher bewusster Praxis vor, wie die Landlosenbewegung in Brasilien, die partizipatorisch-demokratische Haushaltspolitik in Porto Alegre und in Rio Grande do sul sowie eine Strategie autonomer, direkt-demokratischer Entwicklung benachteiligter Regionen. Der dritte Teil widmet sich eingehend den Weltsozialforen (WSF). In ihnen vor allem sieht Thielen Praxis als Theorie. Befruchtet werden seine Überlegungen durch eigene Erfahrungen als Delegierter bei den Weltsozialforen von Porto Alegre in den Jahren 2001, 2002, 2003 und 2005. Gleichzeitig ist er als wissenschaftlicher Begleiter des WSF-Prozesses aktiv. Thielen stellt ausführlich den permanenten, weltweiten soziopolitischen Prozess der pluralen und kreativen Weltsozialforen dar, der im Süden begonnen hat. Schließlich unterbreitet er einen Vorschlag zur Zukunft der Weltsozialforen. Die im zweiten und dritten Teil des Buches dargestellten Beispiele stellen sich für Thielen als der fruchtbare Boden dar, "aus dem sich ein neues Subjekt der Arbeit an einer nach-kapitalistischen und nach-staatlichen freien und gerechten Gesellschaft entwickeln kann - ein Subjekt, vollkommen anders als alle bisherigen Subjekte, nämlich als weltweites horizontales Netz von horizontalen Netzen ‚unzähliger’ autonomer Subjekte." Im vierten Teil des Buches werden knapp, aktuell und konkret auf Lateinamerika bezogen, neue gute Wege aufgezeigt, wie es sie aus Sicht des Autors noch nie so gründlich und breit auf dem Subkontinent gegeben habe. Genau deshalb seien sie gefährdet und hätten alle Solidarität nötig. Der abschließende fünfte Teil, mit "Ermutigung" überschrieben, enthält zum einen eine Montage von inspirierenden Texten sowie eine Meditation. Wie das? Schon im ersten Teil hat Thielen die Notwendigkeit der "Revolutionierung der Subjekte zu wirklich neuen, das heißt liebesfähigen Menschen" betont, weil es sonst keine wirkliche zivile Revolution geben könne. Hier wird diese allzu oft vernachlässigte "Seelen-Seite" von Befreiung nochmals aufgenommen. Denn "es kommt eben nicht nur darauf an, zu kritisieren und zu kämpfen, sondern auch darauf, glücklich zu sein - so weit das in dieser miesen Welt, wie sie besteht, möglich ist." Insgesamt legt Helmut Thielen mit seinem neuen Buch "Befreiung im 21. Jahrhundert" wiederum ein leidenschaftliches Plädoyer für eine Gesellschaft jenseits von Kapital und Staat vor. Der Rezensent kann die Auseinandersetzung mit dem Inhalt nur empfehlen. Mit seinen produktiven Ideen und seiner manches Mal polemisch zugespitzten Kritik, mit seinen Gedanken zu Widerstand und zu konstruktiven Alternativen zeigt der Autor Wege für die dringend notwendigen Veränderungen auf. Und er ermutigt dazu, praktisch die Aufgaben anzupacken, die "in einem langdauernden Kampf um Reform(en) und Revolution(en)" liegen, "um Kleines, ohne das es nichts Großes gibt, und um Großes, ohne das Kleines belanglos oder nichtig ist." Eine reichhaltige Fundgrube mit zahlreichen Anregungen für alle, die schon heute etwas Neues und Richtiges beginnen wollen oder schon begonnen haben. Helmut Thielen: Befreiung im 21. Jahrhundert. Horlemann Verlag, Bad Honnef 2007. 334 S. 19,90 €. ISBN: 9783895022296.
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