Erinnerungen an Stadtteile in Gazavon Amria Hass, Haaretz, 13.02.2008 Als ich den israelischen Vorschlag hörte, ganze Stadtteile Gazas zu vernichten, dachte ich an Yafna, eine Fünfzehnjährige in ihrem Stadtteil in Gaza. Ich kannte sie seit ihrem ersten Lebensjahr. Ihre immer sehr neugierigen Augen sind nun hinter einer schmalrandigen Brille. Sie hat eine etwas raue Stimme, sie ist quietsch vergnügt und doch ruhig, beharrlich, in Englisch und Mathe gut, hilft im Haushalt und versucht, ihre beiden jüngeren Geschwister zu beruhigen, die Energiebündel sind - und (anders als sie) sehr geschwätzig. Sie surft gerne im Internet und hat viel Kontakt mit ihren Freunden übers Internet. Im Abstand von ca. hundert Meter von ihrem Haus, im Stadtteil Gazas Tel al-Hawwa sind auch schon einige Häuser von israelischen Bomben zerstört worden. Ich erinnere mich natürlich auch an den Stadtteil Saja’iyya. Aber ich habe den Namen der jungen Frau vergessen, die gerade damit begonnen hat, ihre Dichtung zu veröffentlichen, persönliche Gedichte in Moll-Tonart. Die Seiten der Zeitung, in der sie erschienen sind, lagen auf dem Tisch in der gemieteten Wohnung ausgebreitet. Sie war sehr aufgeregt. “Einen Stadtteil vernichten” - auch wenn ich nicht weiß, in welchem Stadtteil von Khan Yunis M. lebt, eine durch und durch Feministin, so erinnere ich mich an sie: ihre kritische und scharfe Zunge zielte auf Offizielle jeden Ranges. Sie war die erste Frau, die ich in Gaza Wasserpfeife rauchend sah. Ich nehme an, sie gehört zu den wenigen Frauen, die ohne Kopftuch gehen. Leider haben wir den Kontakt verloren. Gelegentlich höre ich etwas über sie über eine gemeinsame Freundin, zum Beispiel wie nah sie neulich an der Stelle war, wo ein israelischer Hubschrauber Granaten abschoss. “Frage nach der Schule und du wirst zu unserm Stadtteil kommen”, sagte Bassam einmal. Später, als ich mich in den Gassen des Jabalya-Flüchtlingslagers verlaufen hatte, klang er ungeduldig. “Ich hatte vergessen, dass du nicht hier aufgewachsen bist”, und es war mir nicht klar, ob er das im Ernst meinte. Er sagte mir, ich solle, wenn nötig, gegen den Verkehr fahren. Wenn die ganze Welt Kopf steht, warum sollen wir dann gerade gehen?”, erklärte er. Ich denke, dass seitdem Pflastersteine und Asphalt den Sand in den Gassen dieses Stadtteiles ersetzt haben. Ich weiß nicht, ob die Leute inzwischen die Betonwände ihres Wohngebäudes angestrichen haben, das sie anstelle der ursprünglichen Flüchtlingshütte gebaut haben und so aber auch die Gassen zu sehr engen Spalten haben werden lassen. Schließlich ist es uns israelischen Journalisten seit über einem Jahr nicht mehr erlaubt den Gazastreifen zu betreten. Während einer der Überfälle auf Jabalya im Oktober 2004 - um den Terror zu bekämpfen und ihn für immer verschwinden zu lassen (aber diesmal wirklich für immer) - wurde das Haus von Bassams Eltern fast das Opfer solch einer Vernichtung, genau wie Dutzende von Häusern, die schon zerstört worden waren. Nicht durch Bombardement, sondern durch Armee-Bulldozer. Andere Häuser wurden durch Granatbeschuss schwer beschädigt. Die Menschen flohen vor den Bulldozern und dem Granatbeschuss. Sie wurden zum zweiten Mal Flüchtlinge. Deshalb weigerten sich Bassams Eltern und seine Großmutter, ihre Wohnung zu verlassen. Ein Markt unter freiem Himmel, den ich als sehr geschäftig, bevölkert und farbenprächtig in Erinnerung habe, war der in den Gassen des Stadtteils im Nordwesten. Da stand immer jemand hinter einem Berg von Guaven oder Bananen, der Bassam kannte und der uns mit einem breiten Lachen und etwas Hebräisch Früchte verkaufte. In diesem Stadtteil wohnte ein Cousin von Bassam, der in einer streng koscheren, Aschkenasi-Konditorei in Jaffa gearbeitet hatte, bis die Arbeitsgenehmigungen ungültig gemacht wurden. Ich frage mich, ob seine Konditorei, die er später in Jabalya eröffnete und die Rugelach (?) und Hörnchen verkaufte, noch geöffnet ist. In einem typischen Haus von Fatah-Aktivisten, einer Flüchtlingsfamilie aus Huleiqat (Heletz) nun im Nasser-Stadtteil von Gaza wurde mir mal vorgeschlagen, zum Islam überzutreten, damit ich in den Himmel komme. Es war die Großmutter, die sich um meine Zukunft Sorgen machte. Als ihr Sohn ein Gefangener in einem israelischen Gefängnis war, sah sie im Fernsehen, wie Soldaten seinen Sohn gefangen nehmen wollten und wie seine Frau ihn zu befreien versuchte. Das war während der ersten Intifada. Nicht weit davon entfernt ist die Wohnung von N., einer Lehrerin und ihrer Familie. Ich bin immer wieder erstaunt, wie mädchenhaft ihr Gesicht wirkt, wenn sie ihren Schleier wegnimmt, um ihr kurz geschnittenes Haar aufzudecken. Ihr achtjähriger rechthaberischer Sohn hat ernsthafte Klagen über die Hamas, obwohl sein Vater ein Aktivist in dieser Bewegung ist. Wenn er gefragt wird, ob er für Hamas oder Fatah ist, sagt er sei für Allah. Aber als vor einem Jahr der Kampf zwischen beiden Bewegungen ausbrach, hörte er auf zu sagen, er sei für Allah, weil er wusste, das würde als Unterstützung für Hamas interpretiert. Die Bewohner des Stadtteils haben aufgehört, die Granaten, Bomben und Raketen zu zählen, die in der Nähe ihrer Häuser gefallen sind und Freunde und Bekannte getötet und Schulkinder schwer verletzt und Häuser von Verwandten zerstört haben. Abu Aouni vom Shabara-Flüchtlingslager in Rafah sitzt gerne vor der Tür. Dieser Stadtteil wird Bureir nach seinem alten Dorf genannt, das zerstört wurde und auf dessen Land nun der Kibbutz Bror Hayil steht. Er ist groß und hat (trotz Herzbeschwerden) vom Zigarettenrauchen eine heisere Stimme und die Hände eines Bauern. In seinen Erinnerungen zerbröckelt er die verlorenen Erdklumpen. Auch er hat aufgehört zu zählen, nämlich die Häuser, die die israelische Armee seit 1967 in Rafah zerstört hat, obwohl sein Sohn, ein Mitarbeiter einer Menschenrechtsorganisation, seit 2000 sorgfältig jedes dieser Häuser und die Stadtteile zählt. Stadtteile vernichten - ist das etwas Neues? Fragen die Bewohner von Rafah. Deutsche Übersetzung: Ellen Rohlfs Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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