Die Situation der Afghaninnen heute“In Afghanistan wird nicht Terrorismus bekämpft, sondern Terror produziert”Bernd Drücke “An vorderster Stelle den Frauen ihre Rechte und ihre Würde zurückzugeben” - so klang im November 2001 die Begründung des damaligen Bundesaußenministers Joseph Fischer für den Beschluss der rot-grünen Regierung, sich an der Invasion der NATO-Truppen in Afghanistan zu beteiligen.Vgl.: Lana Slezic: Gezeichnet. Afghanistan - ein Land, in dem eine Frau immer noch als Eigentum des Mannes gilt, ver.di PUBLIK 01.02, Berlin, Jan./Feb. 08, S. 12 f. Auch heute wird der neokoloniale Krieg der NATO gegen die Bevölkerung in Afghanistan noch immer propagandistisch als “Befreiungskampf für die Frauen in Afghanistan” verklärt. So begründet z.B. eine Redakteurin der Wochenzeitung Jungle World die Präsenz der NATO-Truppen in Afghanistan damit, dass diese derzeit die einzigen seien, die den afghanischen Frauen “ansatzweise Schutz vor gewalttätigen Ãœbergriffen bieten”.Jungle World Nr. 35, 30.8.07, S. 20, http://www.jungle-world.com/seiten/2007/35/10544.php . Die pseudofeministische Propaganda von Laura Bush, Joseph Fischer und Co. fruchtet offensichtlich auch heute noch. Zwar lehnt eine Mehrheit der Bevölkerung in der Bundesrepublik den Kriegseinsatz der Bundeswehr in Afghanistan ab.Vgl. www.afghanistandemo.de . Der Widerstand gegen diesen Krieg ist an der “Heimatfront” aber immer noch marginal. Auch viele linksliberale Frauenrechtlerinnen, Grüne, “Antideutsche” und ehemalige PazifistInnen vergessen gerne, dass jeder Krieg ein Verbrechen an der Menschheit ist, dass jeder Krieg Vergewaltigung, Zwangsprostitution und Massenmord bedeutet. Niemand bestreitet ernsthaft, dass das 2001 gestürzte Taliban-Regime eine verbrecherische, frauenverachtende Clique war. Doch kaum eineR erinnert sich daran, dass vor allem die US-Regierung und die mit ihr verbündeten Regime in Pakistan und Saudi-Arabien die Taliban mit zig Millionen Dollar und US-amerikanischen Waffen aufgerüstet haben. Solange sie die von 1979 bis 1989 als Besatzungsmacht in Afghanistan wütende UdSSR bekämpften, waren die Taliban gehätschelte Verbündete des Westens. Ohne diese jahrelange westliche “Waffenhilfe” wären sie wahrscheinlich nie an die Macht gekommen. Wie hat sich die Situation der afghanischen Frauen seit Beginn des NATO-Kriegs 2001 verändert?Darüber findet sich auf den Titelseiten der großen Zeitungen nichts. Aber auch in hiesigen Medien lassen sich Informationen finden, die Aufschluss geben über die Situation der Frauen in Afghanistan. Dazu beigetragen haben auch die Hilfsorganisationen Terre des Femmes und medica mondiale, die kritisieren, die NATO habe ihr vermeintliches Ziel - “den Frauen ihre Rechte und ihre Würde zurückzugeben” - verfehlt. “Unsere afghanischen Kolleginnen berichten, dass sich die Situation der Frauen seit dem Sturz der Taliban kaum verbessert hat”, stellt Christa Stolle, Geschäftsführerin von Terre des Femmes, fest.Vgl.: Lana Slezic, a.a.O. Die Afghaninnen sind jetzt zwar laut Verfassung gleichberechtigt, die Wirklichkeit sieht jedoch ganz anders aus. Die Müttersterblichkeit in Afghanistan ist die zweithöchste der Welt, rund 80 Prozent der Mädchen und Frauen werden zwangsverheiratet und die Hälfte der Gefängnisinsassinnen wird aufgrund “moralischer” Verbrechen eingesperrt - also z.B. wegen Weglaufens von Zuhause oder vermeintlichem Ehebruchs, berichtet medica mondiale. Rechtlosigkeit und Gewalt gehören weitgehend zum Alltag. “Lebensumstände, die viele junge Frauen in den Selbstmord treiben”, so die mit dem World Press Photo Preis ausgezeichnete Journalistin Lana Slezic. In der tazAnett Keller: Die USA sind in Afghanistan Besatzer, Interview mit Malalai Joya, taz, Berlin, 19.9.07 und im Neuen DeutschlandKnut Henkel: “Die Fundamentalisten sitzen längst in der Regierung Karsai”. Menschenrechtspreisträgerin Malalai Joya über die Situation in ihrer Heimat Afghanistan, ND, Berlin, 19.2.08 wurden Interviews mit der bekannten afghanischen Frauenrechtlerin Malalai Joya veröffentlicht. Sie gründete während der Taliban-Herrschaft ein Kranken- und ein Waisenhaus. Bekannt wurde die Abgeordnete 2003, als sie die Strafverfolgung der Kriegsfürsten und Drogenschmuggler forderte. Seitdem hat sie vier Mordversuche überlebt. Joya wurde im Mai 2007 vom Parlament suspendiert, nachdem sie die Warlords scharf kritisiert hatte. Auf der Berlinale wurde ihr nun der Internationale Menschenrechtspreis von der Initiative Cinema for Peace verliehen. “Wir brauchen Hilfe, aber keine Besatzung”, so Joya im taz-Interview. “Für Afghaninnen ist die Lage heute schlimmer als unter den Taliban. Denn Warlords der Nordallianz führen, unterstützt von den USA, ein Schreckensregiment. Die USA haben sich den übelsten aller denkbaren Verbündeten geholt: die Kriegsfürsten der Nordallianz, die für furchtbare Verbrechen verantwortlich sind. Sie morden und vergewaltigen weiter. Die Lage der Frauen ist hoffnungslos. Hunderte Frauen verbrennen sich jährlich selbst, oder sie nehmen sich den Strick, weil sie an Männer verkauft werden wie Vieh. 80 Prozent der Ehen sind erzwungen. (…) Es gab Hilfe für Bildung, aber das meiste ist in die Taschen korrupter Warlords und Druglords geflossen, die mit unserer Regierung kooperieren.” Das afghanische Bevölkerung sei gefangen zwischen zwei Feinden: den Taliban und den Kriegsfürsten. “Erstere sind Gegner der USA, Zweitere sind Partner. Beide haben aber furchtbare Verbrechen begangen. (…) Karsai ist eine Geisel der Fundamentalisten, die in unserem Parlament inzwischen die Oberhand haben, und schließt Kompromisse mit ihnen.” Joya fordert einen Abzug der internationalen Besatzungstruppen aus Afghanistan. Solange diese Truppen nur den falschen Kurs der USA unterstützen, mache es keinen Sinn, dass sie da sind. Die Gewaltspirale werde sich weiterdrehen, solange die USA Mörder und Diebe unterstützen. “Wir brauchen Hilfe, aber keine Besatzung wie derzeit. Keiner der Staaten, die Truppen in Afghanistan haben, versucht der fatalen Politik der USA etwas entgegenzusetzen. In Afghanistan wird nicht Demokratie geschaffen, sondern die Demokratie verhöhnt. Es wird nicht Terrorismus bekämpft, sondern Terror produziert”, kritisiert die Feministin. Ähnlich aufschlussreich ist ein Interview mit Nabila Waseq, Koordinatorin eines Frauenprojekts von medica mondiale in Kabul“Viele Frauen zünden sich an”, Interview mit Nabila Waseq, taz, 8.10.07: Sechs Jahre nach dem Taliban-Sturz seien die Frauen in Afghanistan von Freiheit weit entfernt, beobachtet die Frauenprojekt-Leiterin Waseq. Missbrauch durch Verwandte gelte als normal. Die Lage habe sich nach sechs Jahren Krieg gegen die Taliban kaum verbessert. “Die Kriegsjahre haben eine Kultur der Gewalt etabliert, an der sich bis heute nichts geändert hat. Frauen sind auch heute noch in ihrem Alltag einem enormen Maß an Gewalt ausgesetzt. Es ist zum Beispiel völlig normal, dass Frauen von männlichen Verwandten geschlagen und sexuell missbraucht werden. Zwangsehen sind an der Tagesordnung. Immer mehr Frauen sehen den einzigen Ausweg darin, sich umzubringen, viele zünden sich einfach an. Wir haben eine Studie zu Selbstverbrennungen gemacht, im Wesentlichen sind Zwangsehen der Grund für diese Verzweiflungstaten.” In den ländlichen Regionen dürften viele Mädchen weiterhin nicht zur Schule. Traditionelle Konfliktlösungen nach der Art des Badla seien an der Tagesordnung. Nach diesem Brauch wird zur Beilegung eines Konflikts zwischen Familien ein Mädchen zur Wiedergutmachung “übergeben”. “Und auch viele Frauen glauben, Männer hätten das Recht dazu”, beschreibt Nabila Waseq. In der Kunduz Provinz habe eine Frau ihr Kind für zehn US-Dollar verkauft, in einer anderen Provinz waren es 1200 Afghani, umgerechnet 24 US-Dollar, die für ein Kind verlangt wurden. “Frauen, die so arm und hilflos sind, dass sie ihre Kinder verkaufen - wo gibt es das? 90 Prozent der Afghanen sind arm, auch wenn die Regierung das abstreitet”, beklagt Joya im Neuen Deutschland. Die Sicherheitslage in Afghanistan ist katastrophal und hat sich seit Ende 2005 weiter verschlechtert. Bombenanschläge und Selbstmordattentate auf nichtmilitärische Ziele nahmen stark zu.Siehe http://www.crisisgroup.org/home/index.cfm?l=1&id=4485 . Die Zahl der Selbstmordattentate stieg von 27 (2005) auf 139 (2006), Bombenanschläge nahmen von 783 (2005) auf 1.677 (2006) zu und auch die direkten Angriffe auf die westlichen Truppen (mit leichten Waffen, Granaten etc.) verdreifachten sich von 1.588 (2005) auf 4.542 (2006). Im Jahr 2007 erhöhten sich die durchschnittlichen monatlichen Auseinandersetzungen nochmals um 30 Prozent, was Anthony Cordesman, einen der führenden US-Militärexperten, zu der Schlussfolgerung veranlasst: “Die meisten Experten kommen zu dem Ergebnis, dass sich die Sicherheitslage im Jahr 2007 kontinuierlich verschlechtert hat.”Cordesman, Anthony H.: Armed Nation Building: The Real Challenge in Afghanistan, CSIS, Nov. 07, S. 28.
PerspektivenDie Gründerin von medica mondiale, Monika Hauser, kritisiert die mangelnde Zivilhilfe aus der Bundesrepublik: “Weniger als ein Viertel der jährlich 530 Millionen Euro aus Deutschland fließt in den zivilen Aufbau, der große Rest geht in den Militärhaushalt - dieses Verhältnis muss sich ändern; und es muss ein viel größerer Teil für die Unterstützung von Frauen bereitstehen.” Die Bundesregierung gibt an, dass 2002 bis 2010 für den zivilen Wiederaufbau Afghanistans über 900 Millionen Euro angesetzt sind. Der Einsatz der Bundeswehr kostete dagegen bisher schon 1,9 Milliarden Euro. Es geht der deutschen Regierung eben nicht darum, der hungernden afghanischen Bevölkerung zu helfen oder menschenfreundliche Lebensbedingungen zu ermöglichen. Aufgabe der Bundeswehr ist es, im Dienste der geostrategischen Interessen des “Westens” und als Teil der NATO-Besatzungsmacht Afghanistan zu beherrschen und perspektivisch in die kapitalistische Weltordnung einzugliedern. “Wir wollen keine Besatzung, sondern eine Befreiung und Demokratie. Die bekommt man nicht geschenkt und die bringt man auch nicht mit der Waffe in der Hand. Wir brauchen Hilfe, wir brauchen Unterstützung, doch die Befreiung in Afghanistan hat viel mehr unschuldigen Menschen das Leben gekostet als der 11. September in den USA”, folgert Joya. Es gebe genügend gut ausgebildete Leute, deren Hände nicht blutbefleckt sind, deren Stimmen werden kaum gehört. Solange die Warlords an der Macht sind, werde es keinen Frieden in Afghanistan geben. Malalai Joya: “Wir leben in einem besetzten Land und die einzige Hoffnung ist eine demokratische Bewegung in Afghanistan. Dafür brauchen wir Unterstützung aus aller Welt. Wohl gemerkt, ich spreche von Unterstützung, nicht von der Besatzung, die alles nur noch schlimmer gemacht hat. Heute stehen immer mehr Menschen gegen die Regierung auf, weil sie eben nicht demokratisch ist und das Land nicht im Sinne der Bevölkerung regiert.” Menschen wie Malalai Joya machen Mut. Sie zeigen, dass es auch in dem seit fast 30 Jahren vom Krieg zerstörten Afghanistan Menschen gibt, die sich couragiert für ein menschengerechtes Leben aller einsetzen. Menschen wie Malalai Joya, soziale Bewegungen, DeserteurInnen, KriegsdienstverweigerInnen, Flüchtlinge, pro-feministische, antimilitaristische und pazifistische Gruppen verdienen unsere Solidarität.
Quelle: graswurzelrevolution 327 märz 2008 FußnotenVeröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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