Der Verräter wohnt idyllischUN-Berichterstatter für das Recht auf Nahrung: Der Schweizer Soziologe Jean Ziegler und die Pest unserer ZeitVon Marco Lauer Er lebt am Ende der Welt, wenn die Schweiz hieße. Ein winziges Weindorf 20 Autominuten von Genf entfernt und eine halbe Stunde von Frankreich. Drei Straßen, 300 Bewohner und einer davon er: Jean Ziegler. Stimme der Armen, ihre Sirene, Schreck der Mächtigen, Freund der Medien. Ziegler, den man liebt in der Schweiz und auf der Welt. Oder hasst. Vaterlandsverräter, Dreckschleuder, Lügner. Eine Schande! Dessen zeihen ihn seine Gegner - Politiker aus dem konservativen Lager, Banker oder die Vorstände jener Weltkonzerne, die er unablässig der rücksichtslosen Profitgier bezichtigt. Jean Ziegler, im 73. Jahr seines rastlosen Lebens, ist seit September 2000 UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. Generalsekretär Kofi Annan rief ihn an damals, fragte, ob er das neu geschaffene Amt übernehmen wolle. Er, Ziegler, sei ihm dafür empfohlen worden. Der Professor der Soziologie, promovierter Jurist, viersprachig, sehr belesen, stupendes Gedächtnis, persönlich bekannt mit Sartre, Simone de Beauvoir, Che Guevara, sagte zu. Und fand darin seine endgültige Bestimmung 17 Uhr. Das dritte Haus links. Kein Name an der Klingel, die man drückt. Im ersten Stock öffnet sich eine Fenstertür, Zieglers Frau. Die Gardine vor ihr tanzt filmisch in lauer Brise. “Bonjour! Er kommt gleich. Ich mache Ihnen auf.” Neben dem Eingang ein gerahmtes Wort: Liberté - Freiheit! Ziegler kommt die Treppe herab. Weißes Hemd, drei Knöpfe geöffnet, weite Leinenhose. Er begrüßt mit eingecremter Hand und weichem Berndeutsch: “Entschuldigen Sie, ich habe noch eine Dusche genommen. Gehen Sie doch schon ins Wohnzimmer. Ich müsste nur rasch noch etwas erledigen, hä. Darf ich das?” Wischt mit der Hand durch die Luft: “Sie machen bitte, was Sie wollen.” Jene, die ihn mögen, viele, sagen, er sei von großer menschlicher Wärme. Einer, der schnell Vertrauen schenkt. Nähe auf- und Distanz abbaut. Ein Charmeur, dessen Wirkung auf Frauen erheblich sei und der diese Wirkung nicht immer ungenutzt ließe. Ziegler kommt nicht. Ein alter Eichentisch in der Mitte des Raumes. Art-deco-Möbel, dezent arrangiert. Seine Frau ist Kunsthistorikerin, Spezialgebiet Architektur. Bücherregale, in denen Stendhal steht, Rousseau, Molière und - Ziegler, seine Autobiografie. An der Wand, auf Schränken, überall: Bilder. Von seinem Sohn aus erster Ehe, von Zieglers Enkeln, seinen Eltern, seiner Schwester. Ziegler kommt wieder. Blauer Anzug, blauweiß gestreiftes Hemd, zugeknöpft, eine gewaltige Hornbrille auf der Nase. Massaker an MillionenEr fragt: “Na, isch das guat für die Prässe?” Holt Rotwein, französischen. Stößt an und haucht: “Das Leben ist kurz - und schön.” Dann stellt er das Glas ab, 17.50 Uhr: “Also, wollen wir das Interview machen? Ich habe ja leider wenig Zeit.” Die Welt und mehr noch ihre Schrecknisse drängen ihn. Bücher schreiben, Reden halten, Hoffnung machen, von morgens um sechs bis abends um zehn. Heute Genf, morgen New York, übermorgen Brasilien und nächste Woche Afrika. Ziegler ist Lichtgestalt der Globalisierungskritiker. Symbol auch, das man nutzt. Er redete als Ehrengast auf der Gegenveranstaltung zum G 8-Gipfel in Heiligendamm. Das Publikum lauschte, als ob er eine Messe hielte. Ziegler muss alles tun, alles geben. Anders kann er nicht. “Ich bin schwer milieugeschädigt. Calvinistisch erzogen, verstehen Sie? Ora et labora. Jeden Tag arbeiten und seine Pflicht tun.” Die Pflicht, das ist der Kampf. Gegen das Leid in der Welt, den Hunger, die ungerechte Verteilung zwischen Nord und Süd, der Schweiz und dem Rest der Welt. Was diesen Kampf angeht, da hält er es mit Brecht. Ein Bild von jenem hängt in Zieglers Arbeitszimmer. Es zeigt ihn mit einem Buch in der Hand. “Bewaffnet” steht darunter. Ziegler ist es auch. 16 Bücher verfasste er in den vergangenen drei Jahrzehnten. Schoss gegen die Arroganz der Macht und des Reichtums. Gegen die Schweiz, wo Ziegler letztere beiden vereinigt sieht. Sein aktuelles Werk: Das Imperium der Schande - eine Streitschrift gegen Armut und Unterdrückung. Das fünfte Buch, 1976 mit Mut und Wut niedergeschrieben, machte ihn erstmals bekannt. Die Schweiz, über jeden Verdacht erhaben wurde ein Bestseller in Millionenauflage. Darin wagte Ziegler im Land der Verschonten auszusprechen, was noch keiner zuvor wagte. Dass auch die Schweiz Dreck am Stecken habe. Leichen im Keller. Er schreibt: “Die vielen hundert Millionen Dollar, die alljährlich aus den Ländern der dritten Welt abfließen und die - in Schweizer Franken umgetauscht - in den Ali-Baba-Höhlen unter der Zürcher Bahnhofstraße lagern, sind das Blut der Armen und der Opfer von Kriminellen.” “Landesverrat”, schrie man in Bern, “Verleumdung” in Zürich. Ein Jahr später erschütterte der bis dahin größte Bankenskandal das Land. In Lugano an der italienischen Grenze wurden Mafiagelder in großem Stil gewaschen. “Die Schweiz ist ja nichts weiter als ein riesiger Banktresor für Kriminelle.” Sagt Ziegler, würgt zwischen den Fingern einen Kugelschreiber, fragt: “Darf ich noch was sagen?” Und spricht. “Das Massaker an Millionen Menschen durch den Hunger ist und bleibt der größte Skandal zu Beginn des dritten Jahrtausends. 2007 sind 36 Millionen Menschen an Hunger gestorben. 36 Millionen! Verstehst du?” Ziegler springt, wenn er eine wichtige Botschaft hat, ins Du. Das macht er mit jedem so. Er legt den Kugelschreiber zur Seite, sein Zeigefinger klopft nun auf Eiche. “Während wir hier sitzen und reden, stirbt in der dritten Welt jede fünf Sekunden ein Kind. Er hebt den Finger, sticht zweimal in die Luft: “Es könnte der Kleine sein, es könnte auch der sein. Sie alle werden ermordet. Und der reiche Norden schaut zu.” Ziegler nimmt kurz die Brille ab, reibt sich mit vier Fingern das linke Auge. “Nein, er macht sogar mit. Der Raubtierkapitalismus ist die Pest unserer Zeit. Diese Massengräber mit Hungerleichen sind von Menschen gemacht. Gemacht von Menschen, verstehst du? Weil zur Rendite der Kosmokraten, wie ich sie in meinem Buch nenne, nicht die Bekämpfung des Leids und des Hungers gehören.” Aus Stirnfalten werden Furchen: “Die Nestles und Pfizers dieser Welt haben ja nur die Maximierung ihrer eigenen Profite im Kopf.” Da unten ist die Schweiz zu EndeUnternehmen als Massenmörder? Übertreibt Ziegler? Im Eifer seines Gefechts? Er beugt sich vor, nimmt den linken Brillenbügel in den Mund. “Man muss ja die Leute des Raubtierkapitalismus hart angreifen. Sonst hat es keinen Sinn, verstehst du? Wenn ein Fenster zu ist und du kannst es nicht öffnen, dann musst du die Scheibe einschlagen. Deswegen spitze ich meine Sprache zu.” Ein leichter Wind weht herein durch die offene Terrassentür. Ziegler blickt nach draußen, sagt: “Voilà, jetzt trinken wir mal wieder etwas. Der Mensch muss ja auch leben.” Man steht auf, geht hinaus in den Garten, mediterran angelegt und eingefasst von einer Natursteinmauer. Der Blick reicht über eine weite, grüne Ebene bis zu den weißen Gipfeln von Savoyen. “Da unten”. zeigt Ziegler mit ausgestrecktem Arm, “keine 300 Meter von hier, ist die Schweiz zu Ende.” Er lächelt. “Gott sei Dank.” Zwischen der Ebene und den Savoyen liegt, nur matt schimmernd am Horizont, was Ziegler prägte: Genf. Dort hat er sein UN-Büro, dort studierte er Soziologie, “die Waffe in der Hand der Unterdrückten”. Dort wurde er 1977 auch Professor der Soziologie und zwei Jahre später Parlamentarier für die Sozialisten der SP. Dort wurde er ein anderer. Denn Jean war mal Hans. Geboren 1934 in Thun, Schweizer Garnisonsstadt unweit Bern. Die Eltern impften ihn mit calvinistischer Demut: “Mach di Sach!” Halt den Mund, sollte das heißen. Sei folgsam, dankbar für alles. Wir haben es doch gut hier in der Schweiz. Doch Ziegler, “die Trommel der Auflehnung schon früh im Kopf”, wie er in seiner Autobiografie schreibt, möchte fort. Seinen Horizont erweitern, weil ihm die erhabenen Viertausender, die das Städtchen Thun umstehen, “irgendwann wie Bretter vor den Köpfen erschienen.” Er geht 1953 mit ein paar Worten Französisch für einige Jahre nach Paris, um die Rechte zu studieren. Konvertiert zum Katholizismus. Lernt, neugierig, selbstbewusst, intelligent, Sartre kennen und Simone de Beauvoir. Konvertiert zum Sozialismus. Bewirbt sich dann für eine Assistentenstelle der Vereinten Nationen im Kongo, der von Belgien gerade in die Unabhängigkeit entlassen wird, 1961. Sieht Kinder “im Elend verrecken, weil Belgien sich einen Dreck schert, wie es mit dem Kongo weitergeht.” In dem Augenblick schwört er sich: “Nie mehr - nicht einmal rein zufällig - möchte ich auf der Seite der Henker stehen.” Schau dich um, JeanIn Genf, drei Jahre später, traf er auf Che Guevara, der einer Konferenz im Intercontinental beisaß. Ziegler, Bewunderer Ches, begleitete ihn während der sechs Wochen der Konferenz, fuhr ihn durch die Stadt in den Sitzungspausen. Am Ende wollte ihm Ziegler, 30-jährig und glühend für die Idee einer besseren Welt, nach Kuba folgen. Den Sozialismus in seiner reinen Form erleben. Doch Che beschied ihm: “Schau dich um, Juan. All die Banken, Versicherungen, die teuren Hotels, die mächtigen Firmen. Hier bist du im Gehirn des Ungeheuers! Was willst du mehr? Dein Schlachtfeld ist hier.” Ziegler entschied, den Rat anzunehmen. In Genf zu bleiben. Zu kämpfen. Bis heute. Und für wie lange noch? Ziegler, reich nur an Schulden aus unzähligen Verleumdungsklagen, wird nicht aufhören, weiter schießen und also weiter schreiben. Er kann jetzt nicht plötzlich schweigen, nur weil die Zeit auch für ihn keine Pause einlegt und ihn bald 74 werden lässt. Dafür ist seine Stimme zu wichtig. Vor sechs Wochen bekam er Besuch von der Witwe Che Guevaras. Alle paar Jahre sehen sich die beiden. Bei der Verabschiedung sagte sie ihm: “Er hat dich gemocht!” Ziegler sagt: “Che war ein wirklich großer Kämpfer.” Er dreht seine Handflächen nach oben. “Ich bin ja nur ein ganz banaler, kleinbürgerlicher Mensch.” Jean Ziegler begleitet bis hinaus zum Auto. Er umarmt und küsst auf die Wange. “Alles Gute für dich.”
Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung 16 vom 18.04.2008. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags. Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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