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Ich bitte um Freiheit für mein Buch

Güte: Wassili Grossmans gewaltiges Kriegsepos “Leben und Schicksal” und seine Kriegstagebücher


Von Ekkehart Krippendorff

“Mir das Buch wegzunehmen, ist dasselbe, wie einem Vater sein Kind wegzunehmen”, schrieb der sowjetische Schriftsteller Wassili Grossman inständig 1962 an den Ersten Sekretär des ZK der KPdSU, Nikita Chruschtschow. “Das Buch” war ein epochales Manuskript von mehr als 1.000 Seiten, an dem der Autor zwölf Jahre gearbeitet hatte, um die Bilanz seiner Zeit zu ziehen - die Zeit der Sowjetunion unter Stalin, also seit den dreißiger Jahren, bis zum Kulminationspunkt des Zweiten Weltkrieges, dem Sieg von Stalingrad, dem Anfang vom Ende des nazistischen Alptraums.

Unmittelbar nach dem deutschen Überfall im Juni 1941 ermutigte die verwirrte sowjetische Führung ihr schockiertes Volk mit der literarisch-patriotischen Erinnerung an Napoleons ebenfalls im Juni begonnenes Unternehmen, das im Desaster geendet hatte: Leo Tolstois Krieg und Frieden wurde in Massenauflagen mit populären Leseanleitungen neu aufgelegt, im Herbst 1941 in 30 Folgen vom Moskauer Radio gesendet, 100.000 Exemplare allein im belagerten Leningrad gedruckt.

Dieses gewaltige Romanepos, dessen politische “Theorie” später von Philosophen wie Isaiah Berlin und Anatol Rapoport in friedensforschender Perspektive entdeckt wurde, wurde für den Kriegsberichterstatter und Armeeschriftsteller Grossman zum Vorbild: Er hat es in dieser Zeit zwei Mal gelesen - und er hat es, wenn das ikonoklastische Urteil gestattet ist, nicht nur erreicht, sondern auch übertroffen. Zwar mag seinem Roman Leben und Schicksal die aristokratische Eleganz Tolstois abgehen, aber die Schicksale und Biographien, die Gräuel und Bestialitäten, mit denen er es zu tun hatte und die er in unserem 20. Jahrhundert miterleben musste, die sind auch von anderer Qualität als die der napoleonischen Ära und verweigern sich Tolstoischer Menschenkenntnis und Psychologie.

Nicht zuletzt aber sieht und schildert Grossman seinen gesellschaftlichen Kosmos aus der Perspektive der “kleinen Leute”, der einfachen Soldaten, der politischen Bürokraten, der Kommissare und Wissenschaftler und ihrer Frauen, und nicht, wie Tolstoi, aus der militärisch-politischen Atmosphäre der Salons von Petersburg, Moskau und den Landgütern des Adels. Eine solche Perspektive muss sich der Heroisierung ihrer Protagonisten verweigern: Deren Heldentum beweist sich nur teilweise im Krieg, mindestens ebenso sehr aber an den Widersprüchen der sowjetischen politischen Realität.

Dafür ist emblematisch auch das dramatische Schicksal von Grossmans Manuskript: Kaum hatte er es 1960 zwei Zeitschriftenredaktionen zur Begutachtung vorgelegt - “frühestens in 200 Jahren” werde man das drucken können - erschien auch schon die Staatssicherheit und beschlagnahmte alle bei ihm noch vorhandenen Exemplare und machte Haussuchungen überall, wo bei Kopisten noch Durchschläge vermutet werden konnten - sogar die verwendeten Farbbänder wurden aus den Maschinen mitgenommen. Der verzweifelt-anrührende Brief an Chruschtschow: “Geben Sie meinem Buch die Freiheit wieder! Meine physische Freiheit hat keinen Sinn, wenn sich das Buch, für das ich mein Leben gegeben habe, im Gefängnis befindet. Ich bitte um Freiheit für mein Buch” - er blieb unbeantwortet. Grossman starb wenig später 1964 im Alter von 59 Jahren.

Es sollte noch zehn Jahre dauern, bis ein letztes verstecktes Exemplar auftauchte und weitere drei, ehe eine unvollständige Fassung über diplomatische Kanäle in den Westen geschmuggelt und 1980 in der Schweiz publiziert werden konnte. Jetzt, fast ein halbes Jahrhundert später, liegt die vollständige Fassung in deutscher Sprache (und einer geglückten Übersetzung) vor. Es ist eines der größten literarischen Zeugnisse der kommunistisch-faschistischen Epoche des 20. Jahrhunderts - vielleicht das Größte.


Unmöglich, eine Synopse auch nur zu versuchen. Stichworte müssen genügen. Schon die Schauplätze und die wichtigsten Personengruppen, die dem Text zur besseren Orientierung vorangestellt sind, sind Programm: Eine weitverzweigte Familie zwischen Moskau und der Evakuierung nach Kasan, ein ausgelagertes Forschungsinstitut, eine Fabrik in Stalingrad, ein dort umkämpftes Haus, russische Militärs einschließlich des Generals Tschuikow, deutsche Militärs einschließlich Generalfeldmarschall Paulus, deutsche KZs, russische Lager, das Lubjanka-Gefängnis, Eichmann, “die Gewalthaber” Stalin und Hitler, “und viele andere Bürger und Soldaten”. Sie alle bilden, in den vielfältigsten direkten und indirekten Beziehungen zueinander stehend, den Mikro- und zugleich den emblematischen Makrokosmos, aus dem heraus sich der historische Prozess der politischen Gewalt und dann des Krieges entwickelt und in der Einkesselung und Vernichtung der deutschen 6. Armee kulminiert.

Man lese parallel dazu den Beginn des zweiten Teils von Tolstois Krieg und Frieden, um Grossmans Unternehmen voll zu würdigen. In diesem gewaltigen und gewalttätigen Geschehen eines knappen Jahrzehnts, der Achse des Jahrhunderts - Eckpunkte sind das Jahr des größten Terrors 1937 und Stalingrad 1942/43 - enthüllen sich dessen verborgene Wahrheiten in den und durch die vom Schriftsteller geschaffenen Menschen. Eine, und vielleicht die wichtigste, ist die tödliche Strukturverwandtschaft stalinistischer und nazistischer Gewaltherrschaft, die Grossman in der menschlichen Wirklichkeit, sei es der jeweiligen Lager, sei es in der Begegnung zwischen idealistischen Bolschewiki und intelligenten SS-Offizieren, die auf ihre Weise “Gutes” verwirklichen wollen, wie in einem Spiegel zum Vorschein bringt. “Da wo Gewalt ist, herrscht Kummer und fließt Blut”, erklärt ein mit spürbarer Sympathie vorgestellter Tolstoianer im Gespräch mit einem unbeirrbaren Parteikommunisten. “Ich glaube nicht an das Gute, ich glaube an die Güte, die kleine Güte, die keine Zeugen hat und keine Idee; man könnte sie die gedankenlose Güte nennen. In der Ohnmacht der gedankenlosen Güte liegt das Geheimnis ihrer Unsterblichkeit.”

Eben diese Güte ist in diesem Jahrzehnt abhanden gekommen, und Grossman findet unter seinen Menschen kaum einen, der sie lebt. Vor allem die mit geradezu religiöser Überzeugung geglaubte Idee “der Partei” hat keinen Platz für Mitmenschlichkeit und Güte. Es wird ein letztlich nie ganz auflösbares Rätsel bleiben, wie Millionen intelligenter, sensibler, hochgebildeter und für Gerechtigkeit und soziale Gleichheit moralisch-politisch motivierter Menschen im 20. Jahrhundert (und das nicht nur in der stalinistischen Sowjetunion) an diesen Mythos von “der Partei”, die größer und wertvoller sei als das Leben des Einzelnen, geglaubt haben - ein Mythos, an dem selbst Zehntausende zu Lager oder Tod unschuldig Verurteilter unerschütterlich festhielten.

Wer diese kollektive Pathologie von innen her, aus dem seelischen Weltbild und Selbstverständnis überzeugter russischer Kommunisten wenigstens annähernd verstehen möchte - und ohne ein solches Verständnis bleibt Wesentliches im 20. Jahrhundert im Dunkeln -, der muss sich auf diese unheimlichen psychologischen Tiefenbohrungen Grossmans einlassen. Aber auch wie der “real existierende Sozialismus” im täglichen Leben funktionierte, mit welchen Gefühlen und Gedanken die Menschen unter der ständigen Angst vor Denunziation und Verhaftung lebten, mit erpressten Loyalitätsbekenntnissen, teuflischen Prügel-Verhören, wie Einzelne plötzlich zur Unperson werden und die Freunde nicht mehr grüßen, das Ausfüllen eines geradezu absurd-detaillierten Fragebogens - das alles ist ebenso grauenvoll, wie die gleichzeitig mobilisierte Energie der einfachen Soldaten, der Kommissare und Offiziere im Kampf gegen die imposante deutsche Kriegsmaschine ohne alle falschen Töne bewundernswert ist.

Nichts von dieser historischen Leistung wird zurückgenommen, wenn der berichtende Schriftsteller resignierend erkennen muss, dass die Erwartung, der Sieg von Stalingrad werde eine Periode der Freiheit für die sowjetische Gesellschaft einleiten, eine tragische Illusion gewesen sein wird. Und doch durchströmt dieses Epos ein Gefühl von verhaltenem Optimismus und von stillem Vertrauen auf das humane Potenzial der russischen Gesellschaft; allein die Tatsache, dass dieses Buch geschrieben werden konnte und seine Freiheit Jahrzehnte später wiedererlangte, ist eine tröstliche Beglaubigung solcher verborgener Hoffnung.

Grossmans Schicksalsroman ist auch ein explizit jüdisches Buch: Als ein roter Faden zieht sich die zweifellos autobiographische Entdeckung der jüdischen Identität eines seiner wichtigsten Protagonisten, des Physikers und Mathematikers Strum, durch die Handlung. Er muss die bittere Erfahrung machen, dass Juden in der Sowjetunion (und in etwas geringerem Maße auch nicht-russische Nationalitäten) unter dem Generalverdacht der Staatsfeindschaft stehen, obwohl sie gerade in der Wissenschaft bedeutende Leistungen erbringen: Die Ideologie des “Sozialismus in einem Lande” war alles andere als internationalistisch und humanistisch.

Grossman hütet sich zwar, den mörderischen Antisemitismus der deutschen Politik damit auf dieselbe Ebene zu stellen, und doch drängt auch an diesem Punkt eine erzählerisch nahegelegte Engführung die pathologische Verwandtschaft von Nazismus und Stalinismus auf - schon allein durch die Thematisierung von Gulag- und KZ-System im Kontext der kosmischen Dimension dieses alles Bisherige und historisch Bekannte in Schatten stellenden Armaggedon “Stalingrad”, an dessen welt- und menschheitsgeschichtlicher Bedeutung kein ernsthafter Zweifel zugelassen wird. In den Worten des jüdischen Physikers Strum: “Ich habe das seltsame Gefühl, daß unser Widerstand in Stalingrad der Widerstand Newtons und Einsteins ist, daß unser Sieg an der Wolga den Sieg der Ideen Einsteins bedeutet. Die Faschisten haben den genialen Einstein vertrieben mit dem Erfolg, daß ihre Physik zur Physik der Affen degeneriert ist. Aber Gott sei Dank haben wir den Vormarsch des Faschismus aufgehalten, und so ist alles eins geworden - die Wolga, Stalingrad, das bedeutendste Genie unserer Epoche, Albert Einstein, das Kuhdorf im hintersten Hinterland, die analphabetische alte Bäuerin, die Freiheit, die alle so dringend brauchen …”

Am Ende dieser Lektüre, für die man einen langen Atem braucht, ist man erschöpft, erschlagen, und erst einmal sprachlos - aber zugleich stellt sich ein Gefühl des Verlassenseins ein: Man möchte mehr und weiteres wissen über “Leben und Schicksal” der Menschen, mit denen man als Leser so intensiv gelebt und gelitten hat; im Gegensatz zu Tolstoi versagt uns Grossman einen solchen Epilog - er schreibt noch als Zeitgenosse seiner Figuren. Aber das Russland einer solchen Geschichte und Gegenwart, einer solchen großen Literatur, das gehört zu Europa, was immer man in der EU und unseren Parlamenten politisch davon halten mag.


Besonders für deutsche Leser als die gewissermaßen direkt Betroffenen gibt es noch einen zweiten Grossman-Blick auf die Sowjetunion im Krieg: Der englische Militärhistoriker Antony Beevor hat, zufällig zeitgleich mit Leben und Schicksal, die Artikel und Notizbücher des Kriegskorrespondenten Grossman, der er vor allem war, herausgegeben und in einen kommentierten Zusammenhang gebracht, der sich wie ein zweiter Roman liest, aber ein Sachbuch ist. Ein Schriftsteller im Krieg lässt miterleben, wie der Krieg von den sowjetischen Soldaten, aber auch den Zivilisten, den schutzlosen Opfern gelebt und der anfangs scheinbar unaufhaltsame deutsche Siegeszug erlebt wurde. Geradezu unbeschreiblich das Chaos und die Konfusion des von den Stalinschen “Säuberungen” geschwächten Offizierscorps und darum die oft sinnlos geopferten Soldaten - da erscheint der wahrhaftig heroische Widerstand bei Stalingrad und die von dort ausgehende Wende wie ein Wunder.

Grossman wird danach zu einem der genauesten Chronisten der deutschen Massenmordstrategie, die sich den Befreiern auf ihrem Vormarsch furchtbar enthüllt: Seine nüchterne, auf Augenzeugenberichten basierende Rekonstruktion des Funktionierens des Todeslagers Treblinka wurde später dem Nürnberger Prozess vorgelegt - sie gehört als eines der erschütterndsten Dokumente seiner Art in unsere Schulbücher. Trotzdem verschließt Grossman in seinen (an diesem Punkt oft zensurierten) Aufzeichnungen nicht die Augen vor den Verbrechen der eigenen Leute, vor den Grausamkeiten, den Vergewaltigungen und Morden aus der entfesselten Brutalität des Siegers. Am Ende, im brennenden und zerstörten Berlin angekommen, stellt er eine scheinbar naive Frage, auf die es in der Tat keine vernünftige Antwort gibt: “Millionen unserer Soldaten haben die guten Straßen zwischen den Dörfern, die deutschen Chausseen erlebt. Sie haben die doppelstöckigen Häuser in den Vororten mit Strom und Gas, mit Bad und wunderbar gepflegten Gärten gesehen. Sie haben die Villen der Berliner Bourgeoisie, den unglaublichen Luxus der Schlösser, Gutshäuser und Herrensitze erblickt. Und tausende Soldaten schauen sich um und wiederholen die zornige Frage: Warum sind sie in unser Land gekommen? Was wollten sie von uns?”

Wassili Grossman Leben und Schicksal. Aus dem Russischen von Madeleine von Ballestrem, Arkadi Dorfmann. Elisabeth Markstein und Annelore Hellbeck. Mit Nachworten von Jochen Hellbeck und Wladimir Woinowitsch. Claassen, Berlin 2007, 1088 S., 24,90 EUR

Antony Beevor, Luba Vinogradova Ein Schriftsteller im Krieg. Wassili Grossman und die Rote Armee 1941-1945. Aus dem Englischen von Helmut Ettinger. Bertelsmann, München 2007, 480 S., 24,95 EUR

Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung   13 vom 28.03.2008. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Ekkehart Krippendorff und des Verlags.

Veröffentlicht am

05. Mai 2008

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