Eine Zivile Strategie für Frieden, Sicherheit und Entwicklung in AfghanistanEin Beitrag zum Internationalen Afghanistan-Kongress vom 7./8. Juni 2008 in Hannover
Die zivile Strategie für Afghanistan, die hier als Grundlage für weitere Diskussionen in der Friedensbewegung vorgeschlagen wird, ist in hohem Maße ein politisches und nicht ein technokratisches Projekt. Wesentliche Akteure der NATO setzen aus vielerlei Gründen auf ein militärisches Vorgehen, auch wenn dadurch eine friedliche Lösung offenbar in immer weitere Ferne rückt. Die Friedensbewegung muß jedoch ihren Ansatz mit ihrem übergreifenden Ziel verbinden, militärische Interventionspolitik zurück zu drängen und zivile Konfliktbearbeitung zur gängigem Praxis werden zu lassen. Aus dieser Sicht sind die Ziele dieser zivilen Afghanistan Strategie:
Bedingungen in Afghanistan, die zu berücksichtigen sindAfghanistan ist ein Vielvölkerstaat und hat somit eine Bevölkerung mit sehr unterschiedlichen Loyalitäten. Paschtunen (ca. 40%), Tadschiken (25%), mongolstämmige Hazara (15%) und Usbeken (5%) sind die größten Völker neben vielen weiteren kleineren. Dari, Paschtu und Usbekisch sind die vorherrschenden Sprachen. Verbindend wirkt, dass fast alle Muslime sind (ca. 84% Sunniten, 15% Schiiten). Es bestehen große Unterschiede zwischen städtischer und ländlicher Bevölkerung, welche die große Mehrheit der etwa 29 Millionen Einwohner ausmachen. Sie sind insbesondere durch die dominierende Lebensweise auf dem Lande mit den Stammestraditionen stark verbunden. Modernisierung ist in der Geschichte Afghanistan immer wieder auf großen Widerstand gestoßen und hat zu Sturz oder sogar Ermordung von Herrschern geführt. Auch die Mobilisierung von Widerstand durch die USA gegen die sowjetische Invasion baute auf traditionale Orientierungen und Werte. Landesweite Kooperationsbereitschaft zur Modernisierung, wenn sie nicht der unmittelbaren Förderung der Lebensbedingungen dient, ist also nicht selbstverständlich. Ferner ist die Gesellschaft von jahrelangen Kriegen geprägt. Diese haben bestehende Strukturen teilweise zerschlagen und neue unsichere, partielle Herrschaftsformen (Warlords, Opiumkartelle) geschaffen. Eine auf Produktion beruhende Bourgeoisie ist kaum entstanden Die Langsamkeit gesellschaftlicher Veränderung ist unbedingt zu berücksichtigen. Modernisierung muß aus der Gesellschaft heraus entstehen zusammen mit der Veränderung der Produktionsstrukturen. Dabei ist es ein großes Problem, dass von allen Seiten billige Industrieprodukte ohne Rücksicht auf die eigenen Produktionen in das Land einströmen können und so entstehende eigenständige Produktionsstrukturen durch Konkurrenz zerstören oder gar nicht erst entstehen lassen. Die nachholende Industrialisierung hat noch fast immer Schutzzölle vor übermächtiger internationaler Konkurrenz benötigt. Die Taliban basieren zum Teil auf Traditionen der paschtunischen Gesellschaft. Das macht ihre Stärke aus. Sie sind eher "national" orientiert, im Gegensatz zu der internationalen Orientierung von Al Quaida. Beide sind also nicht identisch. Bindungen der Bevölkerung an die Taliban haben etwas mit Traditionen, mit Armut, Perspektivlosigkeit und mit lokalen Machtverhältnissen zu tun. Sie sind differenziert wahrzunehmen und zu behandeln. Schwarz-Weiß-Einstufungen sind gänzlich ungeeignet. Erhebliche Teile der modernen Eliten sind von den Zahlungen der Interventen abhängig und so an sie gebunden, was eine eigenständige auf die afghanischen Interessen bezogene Politik behindert. Probleme und Gefahren der gegenwärtigen SituationDie westliche Militärintervention steht vor einem doppelten Dilemma. Sie ist weder in der Lage, eine stabile und sichere Ordnung zu bewirken, noch ist dies allein durch den Abzug ihrer Truppen zu erreichen. Die Armutssituation und die "Kollateral-Opfer" der Bombardierungen veranlassen immer mehr Menschen, sich dem bewaffneten Kampf gegen "den Westen" anzuschließen. Die Bombardierungen stärken somit die Gegner der Interventionstruppen. Da die NATO als weltweite Interventionstruppe aus westlicher Sicht nicht besiegt werden darf, ist eine ständige militärische Eskalation zu erwarten, so lange keine Exitstrategie existiert. "Vietnam 1973" soll auf alle Fälle vermieden werden. Dementsprechend soll Berlin zusätzlich 250 Soldaten der Kampftruppen in den Norden schicken und wird zum Kampftruppeneinsatz im Süden gedrängt. Der Konflikt steht in einem engen Zusammenhang mit der paschtunischen Bevölkerung im pakistanischen Gebiet. Bei einer Ausweitung des Krieges auf Pakistan und - bei einem US-/Israel-Angriff - auf Iran dürfte der Krieg seine bisherigen Grenzen überschreiten und völlig außer Kontrolle geraten. Mit Eskalation und Ausweitung verschärft sich die Polarisierung zwischen islamischen Ländern und den intervenierenden westlichen kapitalistischen Staaten. Zunehmende Verfeindung und Feindbilder in den Gesellschaften werden das Ergebnis sein. Friedliche Lösungen von Konflikten auch außerhalb von Afghanistan würden immer schwieriger. Ansätze für eine zivile AlternativeDie Situation in Afghanistan kann nicht schlagartig verändert werden. Die führende NATO-Macht USA ist nicht bereit, ihre Truppen abzuziehen und auch nicht ihr Interventionsverbund die NATO. Deshalb halte ich jede Diskussion unter dem Vorzeichen "Wenn morgen alle Truppen abziehen" für völlig unrealistisch. Deshalb ist nach einer Möglichkeit der Weichenstellung hin zu Ziviler Konfliktbearbeitung (ZKB) unter den Bedingungen eines zunächst fortgeführten Krieges zu suchen. Das wird hier unternommen. Meine Ausgangsthese lautet, erst wenn die afghanische Bevölkerung eine Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse erkennen kann, wird sie sich auch für Frieden statt Konfrontation einsetzen. Eine wesentliche Verbesserung erfährt sie jedoch nicht durch die bisherigen Tätigkeiten der ISAF-Truppen. Diese können trotz aller absichtsvollen mythischen Verklärung keine systematische Politik der Entwicklung und Friedensförderung betreiben. Über 80% der deutschen ISAF-Truppen verbringen zudem ihre Einsatzzeit nur im eigenen Militärlager und beschäftigen sich mit ihrer eigenen Sicherheit. Wir fordern deshalb eine Abkehr vom Krieg und eine zivile Entwicklungs- und Friedenspolitik für Afghanistan und seine Menschen. Das ist nicht mit mehr Soldaten, sondern nur mit mehr friedenspolitischem Engagement zu erreichen. Deutschland könnte durch friedenspolitische Wende wichtige Rolle spielenDeutschland könnte hierbei eine wichtige Rolle durch eine friedenspolitische Wende seiner bisherigen Afghanistan-Politik spielen und gleichzeitig eine Exitstrategie eröffnen
Maßgebliche PrinzipienDie folgenden Prinzipien sollten maßgebend sein:
Widerstände gegen eine solche Alternative und ProblemeDieser Krieg wird nicht für die Entwicklung und Demokratisierung Afghanistans geführt. Strategische Ziele in Südasien spielen eine große Rolle. Der Militärorganisation NATO, der sich tendenziell auch Japan anschließen wird, geht es auch um die Kohärenz und die Fähigkeit der NATO, als weltweites Interventionsinstrument zu dienen. Das bedeutet, selbst bei Zweifeln an dem Erfolg der Militäraktionen in Afghanistan ist auch das höhere Ziel, das Instrument NATO zu erproben und zu sichern, von nicht zu unterschätzender Bedeutung. So würde mit der hier vorgeschlagenen zivilen Friedenspolitik, die gleichzeitig eine Exitstrategie aus dem afghanischen Sumpf wäre, Deutschland aller Voraussicht nach unter starken Druck aus den USA und auch aus der NATO geraten. Doch hat die Bundesrepublik nicht die Verweigerung einer direkten Beteiligung am Irak-Krieg gut ertragen können? Außerdem würde damit eine fruchtbare Auseinandersetzung innerhalb der NATO über den Sinn weltweiter militärischer Interventionspolitik angeregt werden. Der Schutz ziviler HelferInnen ist ein Problem. Denn es ist nicht auszuschließen, dass solche Projekte von Al Quaida, Taliban-Gruppen oder auch von rivalisierenden Kräften der afghanischen Bevölkerung (z. B. bei Entwicklung von Alternativen zur Opium-Produktion) angegriffen werden. Es ist ferner nicht auszuschließen, das solche Projekte auch von den NATO-Truppen in ihre Kampfhandlungen mit oder ohne Absicht einbezogen werden. Das Argument, Hilfe und Entwicklung bedürfe des militärischen Schutzes greift dennoch nicht. Denn erstens ist das ISAF-Militär nicht in der Lage, die zivilen Helfer zu schützen und zweitens halten die Afghanen Helfer unter militärischem Schutz nicht für neutral, sondern für einen Teil der militärischen Intervention. Dies um so mehr, wenn ISAF zur kämpfenden NATO-Truppe wird und ‚Zivilmilitärische Zusammenarbeit’ (CIMIC bzw. ZMZ) praktiziert wird. Entwicklungshelfer sehen sich deshalb eher durch Militär gefährdet als gefördert. Die Abstimmung von Projekten mit den jeweiligen Kräften vor Ort und deren Beteiligung dürfte die beste Sicherung sein. Interessen an einer zivilen AlternativeSollten die Wahlen in den USA zu einem Parteienwechsel in der Präsidentschaft führen, so ist nicht auszuschließen, dass die neue Administration durchaus interessiert sein könnte, sich von dem Ballast des Afghanistan-Krieges zu befreien und eine solche Alternative unterstützen oder zumindest tolerieren würde. Kleinere NATO-Staaten könnten ebenfalls ein Interesse haben, sich dem interventionistischen Militärkurs der USA und der NATO zu entziehen, da sie sich von zivilen Strategien viel bessere wirtschaftliche Möglichkeiten in Nah- und Mittelostasien versprechen. Die EU, die oftmals ihre Abhängigkeit von der US-Hegemonialpolitik beklagt, könnte darin eine Chance sehen, ihre eigene Selbständigkeit auszuweiten. Dies würde voraussichtlich zu Richtungskämpfen innerhalb der EU führen, was ganz im Sinne der Friedensbewegung wäre, da dann die interventionistischen Tendenzen der EU zur Diskussion gebracht würden. Eine zivile Alternative könnte auch von Seiten der asiatischen Anliegerstaaten unterstützt werden, da sie die US-Interventionspolitik mit Sorge betrachten. In Iran könnte sie als eine Stärkung der eigenen Sicherheit gegenüber Angriffstendenzen der USA verstanden werden. Aufgaben für soziale Bewegungen und Nicht-Regierungsorganisationen (NROs)In der Bundesrepublik wird es vor allem darum gehen, eine breite Diskussion über diese Alternative in Gang zu setzen, die über verschiedene Aktionsformen sowohl die Gesellschaft wie auch die Abgeordneten des Bundestages erreicht. Die alleinige Forderung nach Abzug der NATO und damit auch der Bundeswehr ist unzureichend, weil damit keine strategische Perspektive verbunden ist. Es ist ferner erforderlich, eine breite Aufklärung über die Hintergründe und die Wirklichkeit des deutschen Militäreinsatzes in Afghanistan zu betreiben. Außerdem sollte möglichst bald mit einer Ausarbeitung der Details der Alternative begonnen werden, um das Konzept zu konkretisieren. NROs, die bereits in Afghanistan arbeiten, könnten in Hearings ihre Erfahrungen zur Verbesserung der Alternative einbringen. Insgesamt handelt es sich um eine ambitiöse und komplexe zivile Alternative, deren Ziele über Afghanistan hinaus in den Bereich grundsätzlicher politischer Weichenstellung gehen. Man kann durchaus von einem Schritt auf dem Wege zum Vorrang für zivile Konfliktbearbeitung sprechen. Es lohnt sich also, dafür einzutreten und zu arbeiten. FußnotenVeröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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