Gewaltfreier Widerstand gegen den BarrierebauDas palästinensische Dorf Ni’lin ist ein neues Zentrum des Zivilen UngehorsamsVon Sebastian U. Kalicha Um Salamuna, Al-Khader, Sarra, Qussin, Wadi Qana, Al-Ma’sara, Bil’in. Das sind einige der Namen von Gemeinden im Westjordanland, die gewaltfreien Widerstand gegen die israelische Annexionsbarriere (Mauer) und die Besatzung leisten. Das Dorf Ni’lin, im Ramallah-Distrikt, ist seit mehreren Monaten eines der neuen Zentren des gewaltfreien Widerstands in Palästina. Ni’lin liegt zwischen den beiden Dörfern Budrus und Bil’in, die beide eine zentrale Rolle im gewaltfreien Widerstand in der Westbank spielen. Bil’in ist bekannt geworden durch seinen bereits über drei Jahren andauernden gewaltfreien Widerstand gegen Besatzung und Barrierebau sowie aufgrund seiner jährlich stattfindenden internationalen Konferenz zum Thema. Budrus war im Jahr 2004 das Symbol des gewaltfreien Widerstands und war auch eine der ersten Gemeinden in der Westbank, die substantielle Erfolge ausschließlich mit gewaltfreiem Widerstand "von unten" erzielen konnte. Dass sich die widerständische Basisbewegung, ungeachtet der Repression der israelischen Armee (IDF), die seit jeher gewaltfreien Protesten mit Gewalt begegnet, und auch ungeachtet der palästinensischen Führung, die die Barriere schon längst akzeptiert hat, nicht in die Knie zwingen lässt, veranschaulicht Ni’lin besonders beeindruckend. Das Dorf hat seit 1948 ca. 80 % seines Landes verloren. Die Barriere, die ebenfalls große Flächen landwirtschaftlicher Fläche zu annektieren droht (auch hier befindet sich eine jüdische Siedlung in der Nähe), wäre der finale Todesstoß für das Dorf. Für die BewohnerInnen von Ni’lin wurde es also allerhöchste Zeit, dagegen anzukämpfen. Massiver gewaltfreier WiderstandWie auch in anderen Gemeinden, die Widerstand leisteten, begann sich in Ni’lin ein Popular Committe zu organisieren, das die Proteste koordiniert. Aktiv unterstützt wird es dabei von israelischen und internationalen AktivistInnen, vorwiegend von den Anarchists Against the Wall (AATW) und dem International Solidarity Movement (ISM). Demonstrationen werden mehrmals wöchentlich - fallweise sogar täglich - abgehalten. In Ni’lin werden auch immer wieder eigene Frauendemos organisiert. Das erklärte Ziel der Demonstrationen ist es, zu den Bulldozern und Baggern zu gelangen, die unweit des Dorfes mit den Bauarbeiten an der Barriere beschäftigt sind, um diese am Weiterarbeiten zu hindern. Mehrmals war dieses Vorhaben schon von Erfolg gekrönt: Am 1. Juli 2008 beispielsweise gelangten mehrere hundert DemonstrantInnen direkt zu dem schweren Baugerät, behinderten es erfolgreich bei der Arbeit und beschädigten es gezielt, sodass die Bulldozer, Bagger und LKWs die Baustelle fluchtartig verlassen mussten. Ein kleiner Sieg in einer schier aussichtlosen Situation. Oft gelingt dies jedoch nicht, da die IDF die Demonstration üblicherweise bereits erwartet und mit Unmengen an Tränengas, "Hartgummigeschossen" etc. fernhält, um die Bauarbeiten an diesem vom Internationalen Gerichtshof (IGH) als völkerrechtswidrig verurteilten Projekt zu ermöglichen. Eine besonders beunruhigende Entwicklung ist, dass die israelischen SoldatInnen immer öfter nicht mehr von ihren (fallweise tödlichen) "nicht-tödlichen-Waffen", sondern von scharfer Munition Gebrauch machen, um Demonstrationen aufzulösen. Eine kürzlich veröffentlichte Richtlinie der IDF diesbezüglich erlaubt bzw. fordert dies ausdrücklich, jedoch mit einer Ausnahme: Wenn sich Israelis unter den DemonstrantInnen befinden, darf scharfe Munition nicht verwendet werden. Es ist das wohlbekannte rassistische Spiel in den besetzten Gebieten. In Bil’in z.B. wurde am 13. Juni 2008 der 26-jährige Ibrahim Burnat lebensbedrohlich verwundet. Ihm wurde mit scharfer Munition die Hauptschlagader durchschossen. Aufgrund des hohen Blutverlusts hat ihn das beinahe das Leben gekostet. Doch man muss nicht notwendigerweise ein/e DemonstrantIn sein, um Gefahr zu laufen von der IDF erschossen zu werden. Am 5. März wurde der 18-jährige Wala Burnat aus Bil’in lebensbedrohlich durch fünf Kugeln verletzt, als er am Feld seiner Eltern arbeitete. Warum die SoldatInnen plötzlich das Feuer eröffneten, ist unklar. "Israeli Army get out of Ni’lin!"Um die Protestbewegung zu zerschlagen, verfolgt die israelische Armee im Falle von Ni’lin nun eine besonders harte und vor allem auch völkerrechtswidrige Linie: kollektive Bestrafung. Von 3. bis 8. Juli 2008 wurde über das Dorf eine Ausgangssperre verhängt und es von der IDF zur Gänze umstellt. Die Armee kontrollierte alle Zufahrtsstraßen und ließ nichts und niemanden in das Dorf hinein oder hinaus, Ambulanzen und Nahrungsmittel mit eingeschlossen. Selbst einer schwangeren Frau wurde es verwehrt, für die Geburt ihres Kindes ins Krankenhaus zu fahren. Doch das Dorf wurde nicht nur abgeriegelt, sondern die IDF brach in der Folge auch in rund 20 Häuser ein, verhaftete AktivistInnen, schoss mit Tränengas und scharfer Munition im Dorf herum und ließ Handzettel zurück, auf denen zu lesen war, dass die Belagerung und die Ausgangsperre erst dann enden würden, wenn die Demonstrationen gegen die Barriere aufhörten. Die BewohnerInnen von Ni’lin zeigten sich von all den Drohungen jedoch wenig beeindruckt, errichteten Barrikaden, um die Armee an der Invasion des Dorfes zu hindern und brachen in einem Akt des Zivilen Ungehorsams die Ausgangssperre, um auch weiterhin zu demonstrieren. Diese Demonstrationen wurden brutal niedergeschossen und mehrere AktivistInnen durch scharfe Munition schwer verletzt. Der Rote Halbmond versuchte mehrmals, mit den israelischen SoldatInnen, die die Zufahrtsstraßen zum Dorf versperrten, zu verhandeln, um in das Dorf fahren zu dürfen und die Verletzen behandeln zu können. Als der Rote Halbmond es rund 20 Mal versuchte und keine Erlaubnis erhielt, drohten die SoldatInnen schließlich damit, auch auf die Ambulanz das Feuer zu eröffnen, sollten sie noch einen Versuch starten, in das Dorf zu gelangen. Auf einen Ambulanzwagen der Palestinian Medical Relief Society wurde das Feuer eröffnet. Es fanden sich über ein Dutzend Einschusslöcher in dem Rettungswagen. Während der Belagerung fanden auch verstärkt Solidaritätsdemonstrationen rund um das Dorf statt. AktivistInnen aus Bil’in und Budrus kamen gemeinsam mit israelischen und internationalen AktivistInnen, um den Belagerungsring zu durchbrechen. Auch diese Versuche hatten zahlreiche Verhaftungen zur Folge. Der Kampf geht weiterGleich nachdem die Ausgangsperre wieder aufgehoben wurde und ein Offizier der IDF verlautbarte, er habe die Zusage der BewohnerInnen, in Zukunft keine Proteste mehr abzuhalten, antwortete das Popular Committee, dass es solche Gespräche, geschweige denn diese Zusage nie gegeben hätte und dass sich die BewohnerInnen von Ni’lin das Recht, für ihre fundamentalen Menschenrechte und gegen die Konfiszierung ihres Landes einzutreten, nicht nehmen ließen und die Proteste deshalb weitergehen würden. Schon wenige Tage später fanden erneut Demonstrationen statt, bei denen es wieder zahlreiche Verletze gab. Am 20. Juli veröffentlichte die israelische Menschenrechtsorganisation B’tselem ein schockierendes Video. Es zeigt, wie ein verhafteter palästinensischer Aktivist aus Bil’in, der an einer Solidaritätsdemonstration für Ni’lin teilnahm, verhaftet, an den Händen gefesselt und die Augen verbunden, von einem Soldaten vor einen Militärjeep gestellt wird, wo ihm ein anderer Soldat, der direkt vor ihm steht, in den Fuß schießt, was in Israel und international zu empörten Reaktionen führte. Die Antwort der IDF folgte prompt: Der Vater des Mädchens, das den Vorfall aus ihrem Zimmerfenster zufällig gefilmt hatte, wurde wenige Tage später bei einer Demonstration verhaftet. Aber auch der Kommandant für die Region, Omri Bruberg, musste aufgrund dieses Vorfalls zurücktreten. Der traurige Höhepunkt der Proteste wurde erreicht, als Ni’lin seine ersten Todesopfer zu beklagen hatte: der 10-jährige Ahmed Moussa wurde am 26. Juli von einer Kugel der IDF tödlich im Kopf getroffen. Am 29. Juli wurde dem 17-jährigen Yusef Amira vor seinem Haus mit mehreren "Hartgummigeschossen" (also Stahlkugeln mit einer dünnen Hartplastikschicht) in den Kopf geschossen. Er verstarb wenige Tage später im Krankenhaus. Die tragischen Ereignisse und Todesfälle führten auch immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Steine werfenden palästinensischen Jugendlichen und der IDF. Diese wiederum attackierte u.a. die Begräbniszüge von Ahmed und Yusef, was die Emotionen noch zusätzlich hoch kochen ließ. Auch in Tel Aviv demonstrierten AktivistInnen von Gush Shalom und AATW aufgrund der tragischen Ereignisse in Ni’lin vor den Häusern von Verteidigungsminister Ehud Barak und Oberst Aviv Reshef, was zu über 20 Verhaftungen führte. In einem Statement der AATW war zu lesen: "An einem Ort, wo es sich eine Armee erlauben kann, unbewaffnete DemonstrantInnen Tag für Tag zu töten, überrascht es uns nicht, dass DemonstrantInnen, die gegen solche Taten protestieren, verprügelt und verhaftet werden." All die ermutigenden und erschreckenden Erfahrungen von Ni’lin veranschaulichen einmal mehr, wie gefährlich bzw. lebensbedrohlich es für AktivistInnen in Israel/Palästina ist, gewaltfrei Widerstand zu leisten. Ermutigend ist vor allem, dass die Basisbewegung in Ni’lin und ihre UnterstützerInnen aus Israel und dem Ausland, trotz der tragischen Todesfälle, zahlreichen Verhaftungen und hunderten teils schweren Verletzungen, den gewaltfreien Basiswiderstand am Leben erhalten und weiterhin gegen die Besatzung und den völkerrechtswidrigen Barrierebau ankämpfen. Informationen zu laufenden Aktionen und Kampagnen: Quelle: graswurzelrevolution 331 september 2008. 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