Uri Avnery: SchlussbilanzVon Uri Avnery, 04.10.2008 IM UMGANGSSPRACHLICHEN israelischen Hebräisch sagen wir, wenn jemand etwas entdeckt, was schon alle kennen: "Guten Morgen, Elijahu!" Warum Elijahu? Das weiß ich nicht. Jetzt könnte man sagen: "Guten Morgen, Ehud!" Das sagte ich mir, als ich das sensationelle Interview las, das Ehud Olmert in dieser Woche, am Vorabend zum jüdischen Neujahrsfest, der Tageszeitung "Yediot Aharanot" gab. AM ENDE seiner politischen Karriere, nachdem er vom Ministerpräsidentenposten zurückgetreten war, während Zipi Livni dabei ist, eine neue Regierung zu bilden, sagte er erstaunliche Dinge - nicht an sich erstaunlich - aber deshalb sicher erstaunlich, weil sie aus seinem Munde kamen. Für diejenigen, die es nicht mitbekommen haben, hier noch einmal, was er sagte:
DIE ERSTE Reaktion war, wie ich schon sagte: Guten Morgen, Ehud. Ich erinnerte mich an meinen verstorbenen Freund, den Dichter, der unter dem Namen Yebi bekannt war. Vor etwa 32 Jahren, nachdem ein halbes Dutzend arabischer Israelis getötet worden waren, als sie gegen die Enteignung ihrer Ländereien demonstrierten, kam er sehr aufgeregt zu mir und rief: ‚Wir müssen etwas tun’. Also entschieden wir uns, Kränze auf die Gräber der Getöteten zu legen. Wir waren zu dritt: Yebi, ich und der Maler Dan Kedar, der letzte Woche starb. Allein diese Geste weckte einen Sturm des Hasses gegen uns, derart, wie ich es bis dahin und auch später nicht erlebt hatte. Wenn seitdem in Israel jemand etwas zu Gunsten des Friedens sagte, platzte er heraus: "Wo war er, als wir Kränze auf die Gräber legten?" Das ist eine normale Frage, aber wirklich völlig irrelevant. Olmert, der sein Leben lang gegen unsere Positionen kämpfte, nimmt sie jetzt anscheinend an. Das ist die Hauptsache Es sollte also nicht "Guten Morgen, Ehud", sondern "Willkommen, Ehud!" heißen. Es stimmt schon, wir haben diese Dinge bereits vor 40 Jahren gesagt. Aber keiner von uns war amtierender Ministerpräsident. Diese Dinge waren zwar schon gesagt und in Einzelheiten von vielen guten Leuten buchstabiert worden, wie von jenen, die den Gush Shalom-Entwurf für einen Friedensvertrag zusammenstellten oder das Nusseibeh-Ayalon-Dokument oder die Genfer Initiative. Aber keiner von ihnen war ein amtierender Ministerpräsident. Und das ist das Wichtigste. ES SOLLTE nicht vergessen werden: in der Periode, in der sich in Olmerts Kopf diese Gedanken bildeten, erlaubte er den Siedlungen, sich auszudehnen, besonders in Ost-Jerusalem. Das lässt eine unausweichliche Frage hochkommen: meint er denn wirklich, was er sagt? Täuscht er nicht, wie er es zu tun pflegt? Ist es nicht wieder eine Manipulation ? Dieses Mal neige ich dazu, ihm zu glauben. Man kann sagen, die Worte klingen ehrlich. Nicht nur die Worte selbst sind wichtig, sondern auch der Ton, in dem er sie sagt. Die ganze Sache klingt wie das politische Testament einer Person, die sich mit dem Ende ihrer politischen Karriere abgefunden hat. Diese Worte haben einen philosophischen Klang. Es ist die Beichte einer Person, die zweieinhalb Jahre im höchsten Amt als Entscheidungsträger des Landes saß, die die Lektionen aufgenommen und Schlussfolgerungen gezogen hat. Man könnte fragen: Warum kommen solche Leute erst am Ende ihrer Amtszeit zu ihren Schlussfolgerungen, wenn sie nicht mehr in der Lage sind, die klugen Dinge zu realisieren, die sie vorschlagen? Warum formulierte Bill Clinton seinen Vorschlag für einen israelisch-palästinensischen Frieden während seiner letzten Tage im Amt, nachdem er acht Jahre unverantwortlich in dieser israelisch-palästinensischen Arena gespielt hat? Und warum gestand Lyndon Johnson, dass der Vietnamkrieg von Anfang an ein schrecklicher Fehler war, nachdem er selbst den Tod von Tausenden von Amerikanern und Millionen von Vietnamesen zu verantworten hatte? Eine oberflächliche Antwort liegt im Wesen des politischen Lebens. Ein Ministerpräsident hastet von Problem zu Problem, von Krise zu Krise. Er ist Versuchungen und Druck von außen und dem Stress von innen ausgesetzt, auch von Koalitionsstreitereien und innerparteilichen Intrigen. Er hat weder die Zeit noch die Distanz, um Schlussfolgerungen zu ziehen. Die zwei ein halb Jahre von Olmerts Amtszeit waren voller Krisen, vom 2. Libanonkrieg, für den er verantwortlich war, bis zu den Korruptionsermittlungen, die ihn überallhin verfolgten. Erst jetzt hatte er die Zeit und vielleicht die philosophische Einstellung, um Schlussfolgerungen zu ziehen. Das ist die Bedeutung dieses Interviews: der Sprecher ist eine Person, die zweieinhalb Jahre im Zentrum nationaler und internationaler Entscheidungsfindung stand, eine Person, die Druck und Berechnungen ausgesetzt war, eine Person, die persönliche Kontakte mit den Führern der Welt und den Palästinensern hatte. Eine normale Person, nicht brillant, kein tiefsinniger Denker, ein Mann der politischen Praxis, der die Dinge wohl "von dort sah, die man aber nicht von hier sehen kann." Er hat der Öffentlichkeit eine Art Bericht zur Lage der Nation geliefert, ein Resümée der Realität Israels nach 60 Jahren seiner Existenz und nach 120 Jahren der zionistischen Unternehmungen. MAN KÖNNTE auf die riesigen Lücken bei dieser Schlussbilanz hinweisen: keine Kritik der zionistischen Politik der letzten fünf Generationen - aber das ist etwas, das man wirklich nicht von ihm erwarten kann. Da gibt es auch keine Empathie mit den Gefühlen, den Hoffnungen und Traumata des palästinensischen Volkes, keine Erwähnung des Flüchtlingsproblems (es ist bekannt, dass er bereit ist, nur gerade ein paar Tausend im Rahmen von "Familienvereinigung" wieder aufzunehmen). Es gibt auch kein Schuldeingeständnis für die verheerende Vergrößerung der Siedlungen. Diese Liste könnte noch lange fortgesetzt werden. Die primitive Basis seiner Weltsicht hat sich nicht verändert. Das wurde durch das folgende verwunderliche Statement deutlich: "Jeder kleinste Teil des Gebietes zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer, den wir aufgeben werden, wird in unsern Herzen brennen … Wenn wir in diesen Gebieten graben, was werden wir finden? Reden von Arafats Großvater oder von Arafats Ur-Ur-Ur-Großvätern? Wir finden dort die historischen Erinnerungen des Volkes Israel!" Das ist natürlich vollkommener Unsinn. Das hat nichts mit historischen und archäologischen Nachforschungen zu tun. Der Mann wiederholt nur Ansichten, an denen er von früher Jugend an festhält; er drückt sich rein gefühlsmäßig aus. Jeder, der an dieser Ideologie klebt, dem wird es sehr schwer fallen, die Siedlungen aufzulösen und Frieden zu machen. Aber trotzdem - was steht nun in diesem Testament? Es ist ein unmissverständlicher und endgültiger Abschied von "Ganz Erez Israel" von einer Person, die in einem Zuhause aufgewachsen ist, über dem das Irgun-Emblem wehte: die Karte von Erez Israel auf beiden Seiten des Jordan. Für ihn hat sich der Irgun-Slogan "Nur so!" in ein " Alles nur s o nicht!" verwandelt. Es unterstützt unmissverständlich die Teilung des Landes. Dieses Mal hört sich sein Festhalten am Prinzip von "Zwei Staaten für zwei Völker" viel aufrichtiger an, nicht wie ein Lippenbekenntnis oder wie ein Taschenspielertrick. Seine Forderung, "die Grenzen des Staates Israel festzulegen" ist im zionistischen Denken wie eine Revolution. Olmert hat schon in der Vergangenheit gesagt, dass der Staat Israel "am Ende ist", wenn er nicht einer Teilung des Landes zustimmt - wegen der "demographischen Gefahr". Dieses Mal hat er diesen Dämon nicht heraufbeschworen. Jetzt spricht er als Israeli, der über die Zukunft Israels als eines fortschrittlichen, konstruktiven, friedlichen Staates denkt. All dies ist nicht als Vision für die ferne Zukunft vorgebracht worden, sondern als Plan für die Gegenwart. Er fordert, dass jetzt eine Entscheidung getroffen wird. Es klang fast wie ‚Lasst mich noch ein paar Monate weitermachen - und ich werde dies tun’. Die unausgesprochene Voraussetzung ist, dass die Palästinenser für diesen historischen Wendepunkt bereit sind. Und er hat eine israelische Position festgelegt, die in keiner zukünftigen Verhandlung rückgängig gemacht werden kann. DIES IST das Testament des Ministerpräsidenten, und es ist offensichtlich für den nächsten Ministerpräsidenten gedacht. Wir wissen nicht, ob Zipi Livni bereit ist, solch einen Plan zu erfüllen, oder was sie über dieses Testament denkt. Sie hat zwar vor kurzem ähnliche Ideen geäußert, aber jetzt betritt sie den Hexenkessel des Ministerpräsidentenamts. Man kann nicht wissen, was sie tun wird. Ich wünsche ihr nur eines: dass sie am Ende ihrer Tage als Ministerpräsidentin sich nicht für ein Interview hinsetzen muss, in dem sie sich dann dafür entschuldigen muss, die historische Gelegenheit, Frieden zu machen, versäumt zu haben. Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz; vom Verfasser autorisiert.
Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
|