Reiche aller Länder, bereichert Euch!Neoliberale Kernschmelze: Warum es falsch ist, die Finanzkrise isoliert zu sehenVon Mohssen Massarrat Die derzeitige Finanzkrise ist - inzwischen unbestritten - die größte Krise des Kapitalismus nach der ersten Weltwirtschaftskrise vor über 80 Jahren. Sie führt auch die Krise der Kapitalismuskritiker drastisch vor Augen. Sie alle haben diese Entwicklung zwar vorausgesagt, sich jedoch kaum damit befasst, welche Konsequenzen aus der Krise im Sinne einer emanzipatorischen Politik zu ziehen wären. Jetzt ist es an der Zeit, das Versäumte schnellstens nachzuholen. Es ist offensichtlich: die "Rettungspakete" der EU-Regierungen führen nur dazu, dass der neoliberale Kapitalismus unbeschadet davonkommt. "Ich bin fest davon überzeugt, dass genügend Menschen bereits wieder daran arbeiten, das Versagen des Systems möglichst schnell mit dem Mantel des Vergessens zuzudecken", sagt der ehemalige Daimler-Chef Edzard Reuter (FR vom 18./19. Oktober). Die Tatsache, dass Angela Merkel zunächst Hans Tietmeyer, einen der Architekten des Neoliberalismus in Deutschland, als Koordinator des Rettungspakets vorschlug, dann - nach Kritik im Parlament - ihn wieder fallen ließ, um den nächsten, ebenfalls eingefleischten Neoliberalen, Jörg Asmussen, zu präsentieren, beweist es: die Neoliberalen sind mit aller Kraft dabei, alle Zügel in der Hand zu behalten und zur Rettung des Systems Bauernopfer zu bringen. Schuld an allem sei die "Raffgier" einiger Manager. Mit untauglichen Mitteln, wie einer Gehaltsbegrenzung für Manager, soll der Wut der Bevölkerung die Spitze genommen werden. In allen Fernsehkanälen ist "Gier" der Manager das Thema - die Gier sei halt menschlich, also eine unveränderliche Konstante, zum Neoliberalismus gäbe es daher keine Alternative. Gegenüber dieser Ablenkungskampagne erfordert die Kampagnefähigkeit der Kritiker eine glasklare Analyse der treibenden Kräfte der jetzigen Krise. Handelt es sich um die Krise des finanzgetriebenen Kapitalismus oder ist die in die Krise geratene Finanzordnung selbst ein existenzieller Bestandteil des Neoliberalismus, der Anfang der siebziger Jahre den Keynesianismus abgelöst hat? Alle Indizien sprechen für Letzteres. Mehr Kapitalismus wagenDer Neoliberalismus ist nicht nur die Ursache der Finanzkrise, sondern auch der global wachsenden Armut, der Massenarbeitslosigkeit, der Agenda-Politik in Deutschland. Er ist eine politische Strategie der Millionäre und Milliardäre, der Großaktionäre, Großspekulanten und Spitzenmanager in den Konzern-Chefetagen und Banken und der faulen Kapitalisten, die ihr Kapital lieber durch Lohnsenkung und Sozialabbau zu vermehren suchten, als es durch mehr Fantasie, mehr Fleiß und eigene Kreativität für den Wettbewerb fit zu machen. Der Neoliberalismus hat wie ein Krebsgeschwür um sich gegriffen und selbst Teile des Mittelstandes in allen Volkswirtschaften an den Rand der Existenz gedrängt. In einer Allianz mit einflussreichen Politikern sowie mit ihren Propagandisten in den Medien schleusten die Neoliberalen ihre Leute in wichtige Institutionen wie IWF, Weltbank, WTO oder die Zentralbanken. Sie verschafften ihren Projekten den Segen neoliberaler Ökonomen und damit einen wissenschaftlichen Anstrich. Nicht nur Reichtum im Überfluss, auch die ungeheuren Machtpotenziale in den nationalen und internationalen Institutionen und Medien, die einem mächtigen Lobbyismus und einer ohnmächtigen Demokratie zu verdanken sind, bildeten das Rückgrat dieser Strategie. Anfang der siebziger Jahre hielten die Neoliberalen ihre Stunde für gekommen, um loszuschlagen, nachdem die Keynesianer es versäumt hatten, Keynes ökologisch und sozial zu modernisieren, um auf die Stagnation und Inflation (Stagflation) jener Zeit mit Investitionsprogrammen in Umwelt, Bildung, Gesundheit sowie schrittweiser Arbeitszeitverkürzung kreativ zu reagieren. Das Vakuum wusste der neoliberale Geist glänzend zu nutzen, er okkupierte positive Werte der 68er Bewegung wie individuelle Freiheit und Selbstbestimmung, vermengte sie mit Gier und Egoismus zu einer Erfolgsphilosophie, deren Zweck einzig darin bestand, das neoliberale Theoriegebäude mit den vier Säulen Liberalisierung, Flexibilisierung, Deregulierung und Privatisierung politisch mehrheitsfähig zu machen. Es gelang - zum Zwecke der Legitimation - all diesen Projekten das Mäntelchen "Reform" umzuhängen und in manipulativer Absicht zukunftsorientiert als "Finanzreform", "Arbeitsmarktreform" und so weiter zu deklarieren. Mit radikaler Liberalisierung, dem uneingeschränkten Wettbewerb durch Rückzug des Staates aus der Wirtschaft, meinten die Neoliberalen nicht den Rückzug ihres Staates, auf den sie jetzt schamlos zurückgreifen, sondern den der Lohnabhängigen und Gewerkschaften, um Beschäftigungsprogramme zu verhindern und Parteien, Regierungen und Parlamente dem Credo zu unterwerfen: "Mehr Kapitalismus wagen" (Friedrich Merz). In Deutschland kam der Startschuss dafür nicht zufällig vom neoliberalen Flügel der FDP, die sich nicht länger sozialliberal - stattdessen neoliberal-konservativ - gab. So wurde - orientiert an dem von Hans Tietmeyer mit verfassten Lambsdorff-Papier - 1982 die Regierungskoalition mit der SPD entsorgt und mit CDU-Kanzler Helmut Kohl der neoliberale Staat als Ziel erkoren. Mit dem Schröder-Blair-Papier zog anderthalb Jahrzehnte später das Gros der Sozialdemokraten gleichfalls ins neoliberale Lager um. Reiche wurden ermutigt, ihren Reichtum nicht zu verstecken, den Aufsteigern wurde mit der neuen Ethik, nur Reiche könnten investieren und Arbeitsplätze schaffen, das soziale Gewissen erleichtert. "Es gibt keine linke oder rechte, sondern nur eine moderne Wirtschaftspolitik", schrieb Gerhard Schröder auf die Fahnen der SPD. Dessen Wechsel zur Mitte reflektierte den Siegeszug des Neoliberalismus, dem nichts Besseres passieren konnte, als die willfährige Hilfe neureicher "Linker" in Anspruch zu nehmen, mit denen sich der Sozialstaat gemeinsam zerstören ließ. Das Ergebnis war die Agenda 2010, mit der Rot-Grün die Fundamente für den Lohnniedrigsektor (heute über acht Millionen Beschäftigte) und die Entwürdigung der Arbeitslosen durch das Hartz-IV-System schuf. Besser als gar kein JobBei wachsender Arbeitslosigkeit und Angst um den eigenen Arbeitsplatz setzte die rot-grüne Koalition mit dem Argument, mehr Flexibilität und Mobilität der Arbeit sei eine wichtige Voraussetzung für mehr Wachstum und den Abbau der Arbeitslosigkeit, die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte - die zweite Säule neoliberaler Strategie - durch. Das Ergebnis waren Ein-Euro-Jobs und Dumpinglöhne ("besser ein schlecht bezahlter als gar kein Job"). Die Lohnabhängigen waren gezwungen, sich noch stärker als bisher den Interessen des Kapitals zu unterwerfen und hinzunehmen, dass die sozialen Rechte der Arbeitnehmer immer mehr beschnitten wurden. Die Deregulierung der Kapital- und Finanzmärkte, die dritte Säule des Neoliberalismus, die der IWF - das Zentralkomitee des internationalen Neoliberalismus - weltweit (im Süden sogar mit erpresserischen Methoden) durchdrückte, erfolgte zu einem Zeitpunkt, als Hunderte von Milliarden überschüssiger Petrodollars der OPEC-Staaten mit den von der Realwirtschaft abgezweigten Kapitalüberschüssen der multinationalen Konzerne vagabundierend nach rentablen Anlagesphären suchten. Diese Ströme an Geldkapital, angetrieben durch Deregulierung und den Verzicht auf feste Wechselkurse, veränderten schlagartig Struktur und Spielregeln der internationalen Finanzordnung - die Finanzströme lösten sich von den realen Strömen der Waren und Dienstleistungen. Es entstanden teils virtuelle Geldmärkte mit täglichen Umsätzen von vielen Milliarden US-Dollar. Begleitet wurde dies von Finanz- und Rating-Agenturen, die mit so komplexen wie undurchschaubaren Finanzprodukten wie Hedgefonds, Derivaten oder Zertifikaten nicht nur die Banken und Pensionskassen, sondern auch die realwirtschaftlich tätigen Konzerne wie Siemens, Volkswagen und andere in den irrsinnigen Sog einer Scheinwelt der Finanzspekulation mit vielen sich einander ablösenden Finanzblasen hineinrissen. In Ländern wie Mexiko, Argentinien, Indonesien, aber auch Russland wurden soziale Erdbeben ausgelöst. Höhepunkt war ab Mitte 2007 die Immobilienblase in den USA, die Millionen in die Obdachlosigkeit und das internationale neoliberale Finanzsystem in den Crash trieb. Zu allerletzt spekulierten Finanzjongleure mit den Nahrungsmitteln, mit Öl und anderen Rohstoffen, verursachten so zweistellige Inflationsraten und machten Grundnahrungsmittel wie Reis und Weizen für Millionen Hunger leidender Menschen in Asien und Afrika zu Luxusgütern. Die grassierende öffentliche Verschuldung vieler Staaten, hervorgerufen durch sinkende Steuern für Unternehmer und Reiche, führte zu einem massiven Druck auf Regierungen, öffentliche Güter wie Post, Bahn und Telekommunikation, Energie- und Wasserversorgung, Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen, aber auch die Daseinsvorsorge zu privatisieren - die vierte Säule des Neoliberalismus - um so neue Anlagesphären für das überschüssige Kapital zu kreieren. Die Zeit ist reifFür die Realwirtschaft besonders verhängnisvoll waren die horrenden Renditen von 25 Prozent und mehr, die bei kurzlebigen internationalen Finanztransaktionen erzielt werden konnten. Dadurch wurde nicht nur der Kapitalkreislauf durch steigende Kapitalumschlagszahlen unnötig beschleunigt, der Rationalisierungsdruck erhöht und Arbeitsplätze vernichtet. Unternehmensverbände und Politiker bekamen auch Argumente ins Haus geliefert, um massive Kostensenkungen auf der Lohnseite, zerstörte Sozialsysteme, durch Outsourcing und Verlagerung in Billiglohnregionen vernichtete Arbeitsplätze, verlängerte Arbeitszeiten und ein erhöhtes Renteneintrittsalter als ethisch bedenkenlos durchzusetzen. Die steigenden Gewinne als Folge sinkender Löhne wie in Deutschland verursachten zusätzliche Kapitalüberschüsse, die aus der Realwirtschaft abgezogen und in den Finanzsektor hineingepumpt wurden. Damit schließt sich auch der Kreis im neoliberalen Kapitalismus zwischen Liberalisierung der Wirtschaft, Deregulierung der Finanzströme, Privatisierung der öffentlichen Güter und Flexibilisierung der Arbeitsmärkte einerseits und der Umverteilung von unten nach oben andererseits. Durch geschickte Instrumentalisierung der Globalisierung schaffte es der Neoliberalismus mit einem Schlag, die Nationalstaaten, die Gewerkschaften, linke Parteien, besonders die Sozialdemokratie, politisch in die Defensive zu treiben, den sozialen Errungenschaften der Arbeiterbewegung den Kampf anzusagen und konservative wie liberale Parteien für die Durchsetzung ihrer Umverteilungsstrategie weltweit vor ihren Karren zu spannen. Der Neoliberalismus entwickelte sich zu einem Kommunikationsschlüssel, zu einem wirkungsvollen Code mit der Botschaft: Reiche aller Länder bereichert Euch! Auch Arme werden besser dastehen, wenn Ihr reicher werdet! Daher sollte der Versuch der politischen Elite, durch Rettungsmaßnahmen eine Wende vorzutäuschen, verhindert werden. Gelingen kann das nur, wenn der Neoliberalismus als Ganzes in den Vordergrund gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen gerückt wird, um eine breite anti-neoliberale politische Allianz von sozialen Bewegungen - von Attac und den Gewerkschaften bis hin zu Liberalen und Sozialdemokraten - zu bündeln, von der sich auch der vom Neoliberalismus gezeichnete Mittelstand angesprochen fühlen könnte. Den Finanzjongleuren müsste mit der Annullierung aller neu geschaffenen Gesetze zur Deregulierung der Finanzströme und mit Verboten der neuen Finanzprodukte das Handwerk gelegt werden. Auch müssten die Steueroasen geschlossen sowie die Privatisierung aller öffentlichen Güter zurückgenommen werden. Die Zeit ist reif für eine Gegenbewegung hin zu einer fairen Teilung der Arbeit durch Arbeitszeitverkürzung, zu einem existenzsichernden Einkommen ohne entwürdigende Kontrollen und zu einem gesetzlichen Mindestlohn. Diese Ziele, die Jahrzehnte hinter dem neoliberalen Schleier verschwanden, sollten jetzt auf die politische Agenda gesetzt werden. Mohssen Massarrat, geboren im Iran, ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Universität Osnabrück. Seit Jahren aktiv in der Friedensbewegung, war er Mitbegründer der "Koalition für Leben und Frieden". Mohssen Massarrat hat zahlreiche Bücher zu den internationalen Wirtschaftsbeziehungen, zu ökologischen Fragen, zum Mittleren und Nahen Osten sowie zur Friedens- und Konfliktforschung geschrieben, unter anderem Globalisierung und Nachhaltigkeit. Bausteine einer neuen Weltordnung sowie Amerikas Weltordnung. Hegemonie und Kriege um Öl. Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung 44 vom 31.10.2008. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Mohssen Massarrat und des Verlags. Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
|