Vom Sinn der Ökonomie: Phantasie und neue MaßstäbeDie aktuelle Krise wird nicht zum Post-Kapitalismus führen, sondern nur zu anderen Regimen der Akkumulation. Trotzdem ist es sinnvoll, über Alternativen nachzudenken\nVon Raul Zelik Epochenwechsel. In Anbetracht der neoliberalen Krise erstrahlt das fordistische Zeitalter in neuem Licht: Das Fließband garantierte stolze Produktivitätszuwächse. Gewinne und Reallöhne stiegen gleichermaßen. Gute Einkommen garantierten den Absatz der Massenproduktion, und aus den gefüllten Staatskassen konnten antizyklische Infrastrukturprogramme finanziert werden. Wer von der Neuauflage einer vergleichbaren Strategie träumt, sollte allerdings daran erinnert werden, dass dieses Modell nicht einfach von gierigen Neoliberalen weggeputscht wurde. Fordismus und staatliche Interventionspolitik scheiterten in den siebziger Jahren an immanenten Problemen: Ressourcen wurden knapper, die Endlichkeit der Natur spürbar. Der Massenkonsum war zunehmend gesättigt, und nicht zuletzt hatten auch die Arbeiter genug: Sie verweigerten sich stupiden Tätigkeiten oder verlangten Löhne oberhalb des Produktivitätszuwachses. Wenn jedoch Löhne schneller wachsen als die Produktivität, reagiert die Unternehmerseite in der Regel mit Preissteigerungen, um eine Umverteilung des Reichtums zu verhindern. Auf diese Inflationsdynamik reagierte die US-Notenbank bereits unter Präsident Carter, also vor dem Siegeszug der Neoliberalen, mit jener Hochzinspolitik, die der fordistischen Akkumulation das Wasser abgrub und den Boom des Finanzsektors einleitete. Die neoliberalen Vordenker handelten dabei durchaus im gesamtkapitalistischen Interesse. Sie sorgten dafür, dass sich Kapital wieder vermehren konnte: durch eine Senkung des Lohnanteils, durch Transferleistungen hoch verschuldeter Staaten wie Brasilien und Mexiko (aber auch der realsozialistischen Länder Polen und Jugoslawien) und die Schaffung neuer Wachstumsbranchen. 30 Jahre lang war der heute als "gierig" geschasste Finanzsektor - neben den Informationstechnologien - Motor dieser Entwicklung. Während die neoliberale Politik Grundlagen bereit stellte: Die Deregulierung der Märkte eröffnete (im Zusammenspiel mit der Konstituierung eines globalen Raums) den Finanzakteuren ganz neue Möglichkeiten. Die Kreation immer neuer - abgeleiteter - Produkte erweiterte das zirkulierende Kapitalvolumen, was sich wiederum als Wachstum ausdrückte. Dass der Kapitalismus in diesem Zusammenhang radikal anderen Logiken zu folgen begann, ist hinlänglich bekannt: Kurzfristige Rentabilitätsentwicklungen und spekulative Erwartungen wurden zum zentralen unternehmerischen Kriterium. Die Folge war die profitable Abwicklung von Produktion. Diese Entwicklung zeigt ein schönes Paradox: Der Übergang zur finanzgetriebenen Ökonomie war systemrational. Er garantierte hohe Akkumulationsraten. Gleichzeitig war dieses Modell allerdings in hohem Maße irrational. Die Erzeugung finanziellen Reichtums ging immer stärker mit der Vernichtung nicht-finanziellen Wohlstands einher. Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, mit welchen Banalitäten sich auch kritische Stimmen zur Zeit beschäftigen. Slavoj Zizek beispielsweise diskutierte unlängst in der Zeit, dass Märkte stets der Regulation bedürfen. Welche Neuigkeit! Der prinzipiellere Zusammenhang wird dagegen kaum beleuchtet: Dass sich das Kernprinzip kapitalistischen Wirtschaftens - der Sachzwang zur Akkumulation - zunehmend als gesamtökonomischer Unsinn entpuppt. Eine einfache Rückkehr zur Staatsintervention kann dieses Problem nicht beheben. Das finanzgetriebene Modell setzte sich um 1980 ja gerade deshalb durch, weil der keynesianisch regulierte Fordismus strukturelle Wachstumsgrenzen erreicht hatte. Gefragt wäre deshalb system-alternative Phantasie. Die These, dass es innerhalb des Kapitalismus keine Lösungen gibt, ist für sich genommen nun zugegebenermaßen auch nicht besonders originell. Denn: Was bedeutet es, den Kapitalismus "abzuschaffen"? Über Verstaatlichungsstrategien muss im historischen Rückblick nicht viel gesagt werden. Sie ermöglichte eine nachholende Entwicklung, führte jedoch - trotz wichtiger Unterschiede zwischen den Modellen - in der UdSSR, China und Jugoslawien zu ähnlichen Ergebnissen: Die Staatsökonomien zeichneten sich durch Mangel, den ineffizienten Umgang mit Ressourcen, Innovationsblockaden und die Herausbildung neuer Klassenstrukturen aus. Auch die neueren Erfahrungen aus Venezuela deuten in eine ähnliche Richtung. Aber was wäre dann eine nicht-kapitalistische Ökonomie? Im Kern geht es um etwas Simples: um eine gesellschaftliche Kontrolle ökonomischer Handlungen. Es ist nicht länger der "Sachzwang" zur Kapitalvermehrung, der eine Gesellschaft hetzt, sondern umgekehrt entscheidet eine Gesellschaft, was sie an Gütern und Dienstleistungen erwünscht und wie sie diese produziert. Sie verständigt sich darüber, welche Formen von Arbeit akzeptabel sind, was umweltverträglich ist, wie Reichtum verteilt wird - also über Kriterien, die ansatzweise auch heute diskutiert werden. Diese Verständigung muss nicht ausschließlich in Form von Planung erfolgen. Immerhin spricht einiges für das klassisch-liberale Argument von Ludwig van Mises, wonach Ökonomie - wie jeder lebendige soziale Prozess - nicht komplett vorausgedacht werden kann. (Es sei denn, es handelt sich um Kommandobeziehungen.) Doch Mises´ Argument wäre kein prinzipieller Einwand. Politische Entscheidungen können schließlich auch im Nachhinein regulierend wirken. Warum fällt es uns so schwer, festzuhalten, dass der Kapitalismus, dessen Beschleunigungstendenzen einen gewaltigen Entwicklungsschub ausgelöst haben, seine historische Schuldigkeit getan hat? Die früher in solchen Fällen regelmäßig vorgebrachte These, dass die Konkurrenz dem menschlichen Charakter innewohnt und es bei Ausschaltung dieses "natürlichen" Antriebs zu realsozialistischer Verwahrlosung kommt, mutet heute etwas überholt an. In den Management-Etagen werden kooperative soft skills höher geschätzt als das testosterongesteuerte Verhalten von Alpha-Tieren. Aus unserem eigenen Alltag wissen wir, dass persönliche Bereicherung keineswegs das zentrale Handlungsmotiv darstellt, sondern es Freischaffenden viel häufiger darum geht, etwas auszuprobieren. Und bemerkenswert ist schließlich auch, dass seit 2002 Dutzende von argentinischen Unternehmen, die von ihren Besitzern in den letzten Jahren geschlossen werden "mussten", nach einer Besetzung durch die Belegschaft in Selbstverwaltung wirtschaftlich weiterbetrieben worden sind. Wenn heute also ausgehandelt wird, was auf den finanzgetriebenen Kapitalismus folgt, warum setzen wir uns dann nicht zunächst mit den ideologischen Prämissen auseinander? Rendite, Wachstum, ja selbst die Schaffung von Arbeitsplätzen besitzen an sich keinerlei ökonomischen Wert. Das eigentliche Ziel des Haushaltens ist es, Mittel so einzusetzen, dass eine Gemeinschaft gut leben und unangenehme Tätigkeiten reduzieren kann. Dafür ist Innovation, aber kein Wachstum notwendig - dieses kann sogar schädlich oder, wenn systemische Grenzen erreicht werden, lebensbedrohlich werden. Der Kapitalismus des 21. Jahrhunderts jedoch bemisst Effizienz immer noch mit Kennziffern, die Zerstörung systematisch doppelt registrieren. Die Inwertsetzung öffentlichen Wassers beispielsweise erhöht das Wachstum von Privatunternehmen und erhöht den Arbeitszwang für Konsumenten, die mehr Lebenszeit aufwenden müssen, um das gleiche Gut zu erhalten. Mit Ökonomie hat das wenig zu tun. Schon eher mit Herrschaft und abstrakter Mathematik. Welchen Kriterien müsste alternatives Haushalten dann folgen? Mit jenen Mitteln, die tatsächlich knapp sind - also vor allem der Natur -, muss sparsam umgegangen werden. Dafür braucht es Effizienzermittlung und Innovation. Der Realsozialismus hatte darauf kaum Antworten parat, weil er zentral voraus zu denken versuchte und jede autonome Korrektur im System die Legitimität der politischen Führungsgruppe in Frage stellte. Für knappe Güter (im Übrigen gibt es auch Güter, die nicht knapp sind, so etwa die intellektuelle Produktion) geht es also weiter um die Suche nach einer optimalen Allokation. Diese muss - wie es auch im Kapitalismus gang und gebe ist - sowohl durch Vorausplanung als auch durch ex post ermittelte Kosten-Nutzen-Rechnungen bestimmt werden. Kapitalvermehrung ist jedoch kein guter Maßstab für Ressourceneinsatz. Genauso wenig wie Verdrängung und Existenzangst ein gesamtwirtschaftlich nützliches Verhalten von Individuen hervorbringen. Völlig klar: Das Kapital ist nicht nur scheinbarer Sachzwang, sondern vor allem ein soziales Verhältnis. Wenn sich Kapital nicht mehr vermehrt, können Kapitalbesitzer nicht mehr von Rendite leben. Eine Mehrheitsentscheidung für eine andere Ökonomie würde das Zwangssystem Kapitalismus deshalb nicht einfach beseitigen. Eine besitzende Mehrheit wird ihre Vorteile zu verteidigen wissen. In Anbetracht realer Kräfteverhältnisse wird der sich abzeichnende Epochenbruch deshalb kaum zum Post-Kapitalismus, sondern nur zu neuen Akkumulationsregimen führen. Trotzdem ist es sinnvoll, die Frage nach Alternativen zu stellen. Dass der Wohlfahrtsstaat fundamentale Verbesserungen mit sich brachte, hatte nicht zuletzt damit zu tun, dass es im 20. Jahrhundert Alternativen zu geben schien. Das Fließband geht eben nicht zwangsläufig mit Arbeitsschutz einher. Es kann auch im 14-Stundentakt laufen. Wenn heute also neue Modelle der Regulation ausgefochten werden, müssen Linke prinzipiell andere Maßstäbe ins Gespräch bringen: Diejenigen, die kein Millionenvermögen besitzen, haben kein prinzipielles Interesse daran, dass die Produktion wächst oder Deutschland Exportweltmeister ist. Für uns ist viel wichtiger, dass ökonomische Entwicklung in Kennziffern der Lebensqualität ausgedrückt wird - Zugang zu Bildung und Gesundheit, eine unbelastete Umwelt etc. Für uns ist von Bedeutung, dass politische Regulation (durch Steuern, Gesetze, direkte Eingriffe und so weiter) jenes Wirtschaften belohnt, das Kooperation und die Einsparung von knappen Ressourcen fördert. Das solche Unternehmen unterstützt, in denen solidarische und demokratische Arbeitsbeziehungen entwickelt werden. Sprechen wir also über den ureigensten Sinn von Ökonomie: über das Verhältnis von Einsatz und gesellschaftlichem Nutzen. Sprechen wir über Kriterien, die vom Zwang zur Akkumulation verdeckt werden. Raul Zelik ist Schriftsteller und lehrt zur Zeit als Gastprofessor Politikwissenschaften an der Nationaluniversität in Bogota. Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung 52 vom 26.12.2008. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Raul Zelik und des Verlags. Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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