Helmut Gollwitzer: “Ohne Waffen leben”Helmut Gollwitzer, einer der bedeutendsten Theologen des 20. Jahrhunderts, wäre am 29. Dezember 2008 100 Jahre alt geworden. Wir erinnern in der Lebenshaus-Website an ihn durch die Veröffentlichung verschiedener Reden, Artikel und Predigten. Nachfolgend veröffentlichen wir eine Rede Gollwitzers, die er am 9. Juni 1977 auf dem 17. Deutschen Evangelischen Kirchentag in Berlin bei einer Hallenveranstaltung der Kooperation "Frieden, Abrüstung, Versöhnung" hielt. Von Helmut Gollwitzer, Rede vom 09.06.1977 Im Dezember 1975 hat die Weltkirchenkonferenz in Nairobi ein Anti-Militarismus-Programm beschlossen, nach dem Anti-Rassismus-Programm der vergangenen Jahre, das schon ziemlich viel Wirbel bei uns ausgelöst hat. Das Anti-Militarismus-Programm hat bis jetzt keinen Wirbel ausgelöst. Diese Versammlung soll dazu beitragen, dass der endlich entsteht. Es wird genannt das "unbekannte" oder auch das "ungeliebte" Programm. Unbekannt, weil z. B. der größte Teil von euch hier es kaum je gelesen haben wird, obwohl alles, was wir jetzt sagen, eigentlich voraussetzt, dass euch die Fakten vor Augen stehen, die in diesem Programm zusammengedrängt aufgezählt werden, um zu beweisen, welche Gefahr das, was dort als Militarismus bezeichnet wird, heute für die Menschheit darstellt. Und das "ungeliebte" Programm - nun, dies hat Gründe, die uns alle treffen, wie wir gleich sehen werden. Dieses Programm ist nicht bloße Fortsetzung der Friedensappelle der Kirchen. Alle Kirchenleitungen, der Papst, die Ökumene haben Friedensappelle in großer Zahl in den vergangenen Jahren hinausgehen lassen, und wenn es mit Appellen getan wäre, bräuchte niemand der Kirche vorzuwerfen, sie hätte nicht das Ihrige getan, um den nächsten Krieg zu verhindern. Aber diese Appelle gingen alle an andere Leute, an die Regierungen, an die Völker. Das Anti-Militarismus-Programm richtet sich auf uns selbst, soweit wir zur Kirche gehören. Und die Kirche - das sind wir alle, soweit wir getauft sind, Kirchensteuer oder sonstige Mitgliedsbeiträge zu christlichen Glaubensgemeinschaften zahlen und uns von anderen als Christen bezeichnen lassen. Wir leben alle in einer unerhörten Schizophrenie. Etwa 60 Millionen Menschen - so viele Einwohner wie die Bundesrepublik hat - sind heute in den Armeen beschäftigt. Über ein Drittel aller Wissenschaftler arbeitet für die Rüstung. Ein großer Teil von ihnen sind getaufte Christen, sicher auch gläubige Christen darunter. Zu Hause und am Sonntag leben sie vielleicht das, was sie aus dem Evangelium hören, die Aufgabe, ein Friedensmensch in dieser Welt voll Hass und Streit zu sein. Und wenn sie in den Beruf gehen, in die Kaserne, ins Labor, in die Fabrik, dann arbeiten sie mit an der Vorbereitung der greulichsten Menschenausrottung, die es je in der Geschichte gegeben hat; und nicht nur an der Vorbereitung, sondern schon an der Anwendung dieser Waffen, die sie produzieren. Denn seit dem Zweiten Weltkrieg hat es schon wieder hundert Kriege gegeben mit über 10 Millionen Todesopfern. Wir alle leben in dieser Schizophrenie; die ganze Bevölkerung, die schlaflose Nächte bekommt über die verwerflichen Taten von ein paar Terroristen und ruhig schläft über dem großen, umfangreichen Terror der gegenseitigen Rüstung und Menschenvernichtungsdrohung, der über uns allen hängt. Unsere Arbeiter werden in diese Schizophrenie gedrängt durch die schamlose Erpressung in unserem System, das sie vor die Wahl stellt, entweder Gifte, Kernstrahlung, Todeswaffen, lauter Todesursachen für sich und ihre Kinder, zu produzieren oder den Arbeitsplatz zu verlieren. Das Anti-Militarismus-Programm ist darum die kühnste "Herausforderung an die Kirchen", wie es Generalsekretär Philip Potter in einem Schreiben an die christlichen Kirchen genannt hat. Was haben die Kirchen bisher über Rüstung gedacht im Zusammenhang dessen, was man die "Kriegsethik" der christlichen Theologie nennt? Als Kaiser Konstantin 321 n. Chr. das Christentum zur Staatsreligion erhob in einer Welt von Staaten, von denen jeder mit Krieg mit anderen Staaten zu rechnen hatte und sich auf solche Kriege vorbereitete und Kriege führte, musste die Christenheit, bis dahin pazifistisch, auch zur Frage des Krieges Stellung nehmen: Kann ein Christ als Regierender oder Regierter sich an kriegerischen Handlungen beteiligen? Eine kleine radikale Minderheit, die christlichen Friedenskirchen, die Quäker, Mennoniten und einige andere, haben konsequent gesagt: Nein. Die Großkirchen, zu denen die meisten von uns gehören werden, haben gesagt: Ja, unter bestimmten Bedingungen - gerechter Krieg, gerechte Ursache, anständige Kriegsmittel, Frieden als Ziel usw. In unserem Jahrhundert haben wir lernen müssen, auch in den Großkirchen: Diese Antwort reicht nicht aus, trotz aller ernsten Gründe, die für sie angeführt werden können. Erster Schritt in diesem Lernprozess: die Hitler-Zeit. Die Frage, vor der einige von uns, der Generalmajor Oster und Dietrich Bonhoeffer und andere, standen, war: Darf man in einem Krieg seinem eigenen Land die Niederlage wünschen und dazu beitragen? Wir mussten lernen: Bis dahin hat die Kirche eifrig mitgearbeitet an der nationalen Erziehung; was aber heute wichtig ist, ist die internationale Erziehung, die Erziehung zum internationalen Denken, zur Verantwortung über die eigene Nation hinaus für Europa damals, für die Menschheit heute. Nächster Schritt: 1945 - 1955. In der evangelischen Kirche Deutschlands fand die erregte Debatte um die Wiederbewaffnung Deutschlands statt. Wir mussten lernen: Es genügt für die Kirche nicht, allgemein zu sagen, ein Staat darf auch rüsten; es muss die jeweilige Situation beachtet werden: Ist die Rüstung der friedlichen Entwicklung förderlich oder hinderlich? Der nächste Schritt: die Debatte über die Atomwaffen 1957 - 1960. Wir mussten lernen: Waffe ist nicht gleich Waffe! Es gibt "Waffen" genannte Massenvernichtungsmittel, atomare, bakteriologische, chemische, an deren Herstellung, Bereithaltung und Anwendung Christen sich nicht beteiligen können. Die Kirchen haben darauf nicht klar geantwortet - auch das 2. Vatikanische Konzil und die EKD nicht; sie schweigen und sind durch dieses Schweigen in Fragen der Atomwaffen gelähmt - in einer Zeit, in der der Atomkrieg an einem seidenen Faden über uns hängt und in der Kenner wie Carl-Friedrich von Weizsäcker das Herabfallen dieses Vernichtungsschwertes auf uns alle noch in diesem Jahrhundert für wahrscheinlicher halten als das Nichtherabfallen. Der nächste Schritt: der kalte Krieg. Wir mussten lernen: Die Kirche darf sich nicht einordnen in die weltanschaulichen Fronten: für das christliche Abendland gegen den atheistischen Osten. Sie muss als Friedenstruppe zwischen die Fronten treten. Und nun heute der nächste Schritt: das Problem der Rüstung. Dazu hatten die Großkirchen wegen ihres bedingten und begrenzten Ja zum christlichen Mitmachen im Kriege konsequent gesagt: ein Staat, der damit rechnen muss, von einem anderen überfallen zu werden, muss auch Rüstung vorbereiten. Wer den Frieden will, der rüste zum Krieg! Die Abschreckung erhält den Frieden. Daran ist etwas. Wir kennen zwar eine Reihe Kriege in der Geschichte, bei denen das nicht funktioniert hat, bei denen gerade die Rüstung eine Ursache zum Krieg war. Nicht geschrieben aber ist die Zahl derjenigen Kriege, die tatsächlich durch Abschreckung verhindert worden sind. Was hat sich daran geändert? Nehmt ihr die Zahlen und die Fakten im Anti-Militarismus-Programm zur Kenntnis und was euch sonst hier heute Vormittag mündlich und schriftlich geboten wird, dann wird klar: Die Rüstung ist eine der drei großen Weltgefahren, die die Menschen heute mit Vernichtung bedrohen, neben der Gefahr der Umweltzerstörung und neben der Gefahr der Beseitigung von Demokratie und Menschenrechten durch große tyrannische Herrschaft - und diese drei Gefahren hängen aufs engste miteinander Zusammen. John F. Kennedy hat gesagt: "Entweder der Mensch schafft den Krieg ab oder der Krieg schafft den Menschen ab." Dieses Wort gilt heute schon für die Rüstung: Entweder wir schaffen die Rüstung ab oder die Rüstung schafft uns ab. Wir sterben nicht erst am Krieg, wir sind schon im Sterben an der Rüstung. Es sterben an der Rüstung unsere nötigsten Reformen, für die kein Geld, für die keine Menschen da sind. Es stirbt an der Rüstung die Entwicklung des hungernden Weltteils: 300 Milliarden Dollar 1975 und wieder 1976 für Rüstung in der ganzen Welt - und eine Milliarde Dollar haben die reichen Länder gerade in Paris den amen Ländern als Almosen geboten. Es sterben an der Rüstung unsere Demokratie und unsere Freiheit: denn Heere, hierarchisch aufgebaut, und militärisch-industrieller Komplex, von Geheimnissen umgeben und durch Geheimdienste geschützt, sind Fremdkörper in der Demokratie. Immer mehr ist Entscheidung nicht nur über Krieg und Frieden, sondern schon über Aufbau und Abbau der Rüstung in die Hand ganz weniger Menschen in den Führungsspitzen der Welt gelegt. Die Völker, die Betroffenen, haben es auszubaden, aber nichts dazu zu sagen. Denke sich einer von euch, er hätte einen Platz in diesen kleinen Führungscliquen und in ihm hätte die Vernunft gesiegt - mit wieviel Unvernunft müsste die Vernunft sich tarnen, um im Kampf mit der Unvernunft wenigstens ein paar Schritte voranzutreiben! Wie oft würde ich als Angehöriger einer solchen Führungsspitze in Kabinettssitzungen und Gipfelkonferenzen gehen und das Maul halten, um nicht als Parzival und Idealist und Spinner ausgeschieden zu werden aus dem Kreis der Machthabenden! Ein amerikanischer Sozialphilosoph, John Sommerville, hat eine Analyse der beiden Fälle, in denen die westliche Führungsmacht schon sehenden Auges in der Entscheidung eines oder weniger Männer den Untergang der Welt riskiert hat, nämlich bei der Kuba-Krise 1962 und im Vietnam-Krieg, geschlossen mit dem Satz: "Man darf nie vergessen, dass man es mit Verrückten zu tun hat."John Sommerville: Durchbruch zum Frieden. Eine amerikanische Gesellschaftskritik. Darmstadt 1973, S. 49. Vgl. Sommervilles Kommentar zu Robert Kennedys Bericht über die Kuba-Krise in Rob. Kennedy: Dreizehn Tage. Wie die Welt beinahe unterging. Darmstadt 1974. Das heißt also: das Wort Rüstungswahnsinn - auch Breschnew hat es schon gebraucht - ist kein bildlicher Ausdruck, es ist eine klinisch exakte Bezeichnung für das pathologische Verhalten von Regierungen und von Völkern. Auch von Völkern! Was sagt und was tut die Kirche dazu? Seit Jimmy Carters Antritt geht in der amerikanischen Wirtschaft das Stichwort "conversion" um. Damit ist gemeint das vielleicht und hoffentlich bevorstehende Problem einer Umwandlung der Rüstungsindustrie - oder wenigstens großer Teile der Rüstungsindustrie - in Friedensindustrie. Conversion - Konversion, das ist ein Wort aus der christlichen Sprache: conversio heißt Bekehrung, Umkehr - und eben das ist die Frage an die Kirchen, für das, was die Kirche sagt, und für das, was sie tut. Sie muss heute deutlich sagen: Der Krieg ist nicht mehr unter bestimmte Bedingungen als ultima ratio zu rechtfertigen - als letzte Möglichkeit, das Recht, die Freiheit, die Selbständigkeit eines Landes und Volkes zu erhalten; sie muss sagen: der Krieg hat überhaupt keine Ratio, keinen Vernunftgrund mehr; er ist die ultima irratio. Wir werden nachher gleich sehen, welche Konsequenzen das für uns hat. Denn das ist eine ernste Frage: hat der Krieg wirklich keine Ratio mehr? In der Fernsehsendung vom vergangenen Montagabend (6. 6. 1977) "Der Friede ist der Ernstfall" sahen wir zwei riesige Maschinerien - das Wort wurde gebraucht -, in denen jeder von uns sitzt, entgleisen und zusammenkrachen. Von etwaigen Sachgründen, um die es bei diesem ausbrechenden Konflikt ging, war in dem ganzen Film bezeichnenderweise keine Rede mehr. Es muss klargestellt werden: wenn es losgeht, wenn die Maschinen entgleisen, ist es schon zu Ende, sind auch alle Werte, für die die Verteidigung bestimmt war, zu Ende. Die bequeme Formel der Kirchen heute vom "Friedensdienst mit und ohne Waffen" ist in dem Augenblick zu Ende, wo für das Militär der sogenannte Ernstfall anfängt. Überleben gibt es für uns in Deutschland dann nur durch Kapitulation: Keiner soll dann mehr mitmachen! Ist euch das klar, machen wir uns das klar? Zweitens: Mit dem Satz "Friedensdienst mit und ohne Waffen", bei der Bundeswehr und als Kriegsdienstverweigerer, ist zugegeben - auch von der Führung unseres Staates und der Bundeswehr: Aufgabe der Rüstung der Bundeswehr ist die Friedenserhaltung. Aber also doch wenigstens dies? Dabei ist noch nicht berücksichtigt der zerreißende Widerspruch, vor dem wir eben heute stehen und der im Anti-Militarismus-Programm und an diesem Vormittag uns allen bewusst gemacht werden soll: Die Rüstung ist zugleich unser Schutz und unser lebensbedrohender Feind. Wenn in den Jahren der sozial-liberalen Koalition unser Rüstungshaushalt fast um das Doppelte gestiegen ist, dann ist auch unsere Bedrohung um das Doppelte gestiegen. Das heißt: Die neue Situation verpflichtet die Kirche zu konkreten kritischen Stellungnahmen zu den Militärhaushalten, zur Haltung der eigenen Regierung in Fragen der Abrüstung, der Waffenausfuhr und des Waffenhandels. Die Rüstung hat sich heute verselbständigt durch ihre Entwicklung, durch ihre technischen Fortschritte, durch die mit ihr verbundenen Interessen. Es bestimmt die Rüstung die Verteidigungspolitik und nicht die Verteidigungspolitik die Rüstung. Bisher fanden die kritischen Stimmen der kritischen Friedensforschung - etwa das Anti-Weißbuch keinen Widerhall, kein Interesse in den Kirchen. Das soll nun anders werden durch das Anti-Militarismus-Programm; d. h. unsere Gemeinden müssen Zentren der Unruhe, der Aufklärung und der Aufrüttelung in der Bevölkerung werden über die Lebensgefahr, die von diesem vermeintlichen Schutzgott ausgeht, dem wir Opfergaben über Opfergaben darbringen. Die Entscheidungen über die Rüstung müssen wieder zurückgewonnen werden in den demokratischen Entscheidungsprozess der Bevölkerung. Misstrauen, so sagt Thomas Jefferson, der erste Präsident der Vereinigten Staaten, Misstrauen gegen die eigene Staatsführung und darum ständige Kontrolle und Kritik, ist der Kern der Demokratie. Also erste Aufgabe für uns alle in der Rüstungsfrage: sich nicht dumm machen lassen durch die gezielte Propaganda von der angeblichen Unterlegenheit des Westens und Überlegenheit des Ostens; ebensowenig durch die Ideologie der Abschreckung durch Entwicklung von immer perfekteren Kriegsmitteln und auch nicht mehr durch. die Verteufelung der Sowjetunion als von Natur aus kriegslüstern und Vorstellung des Westens als von Natur aus pazifistisch. Statt dessen der eigenen Seite - das müssten Christen, die von der Sünde, der allgemeinen Sünde aller Menschen etwas wissen, ja klar sehen - immer ebensoviel Bosheit zutrauen wie der anderen. (Ergänzung in der Diskussion: Damit nicht Missverständnisse entstehen, sei noch hinzugefügt: Darum auch keine Illusionen über die andere Seite! Der anderen Seite immer ebensoviel Bosheit und Dummheit zutrauen wie der eigenen Seite!) Zweite Aufgabe: diejenigen Politiker bei uns unterstützen, die die Alternativlosigkeit des Friedens (d. h. konkret für uns: die Unmöglichkeit, die Bundesrepublik militärisch zu verteidigen) klar erkannt haben und danach handeln. Sie müssen für Entspannung und Abrüstung, auch für kühne, einseitige Vorleistungen und für das Risiko, das damit zu diesem Ziel eingegangen wird, den Rückhalt der Bevölkerung haben - und dazu kann jeder von uns beitragen. Nächster Punkt: Alle Gelegenheiten benützen, die Erkenntnis des menschheitsverderbenden Rüstungsgoliaths ins Bewusstsein unserer schlafenden Bevölkerung hineinzutragen. Die dazu unternommenen Aktionen unterstützen, auch wenn Kommunisten dabei mitmachen, wie kürzlich bei den Demonstrationen des Komitees für Frieden und Abrüstung. Entscheidend ist, ob die Forderungen richtig sind, nicht, wer sie neben mir auch noch unterschreibt. Nächster Punkt: Die Wehrdienstverweigerer in Ehren halten und unterstützen als diejenigen, die am deutlichsten mit alten Verhaltensweisen brechen und Modelle für neue zukunftsträchtige Verhaltensweisen schaffen. Nächster Punkt: Den Soldaten und Offizieren helfen, dass sie vor dem Sog des betriebsblinden militaristischen Denkens bewahrt bleiben und auf der Wacht stehen gegen antidemokratische, "chilenische" Tendenzen in der Bundeswehr - für eine Bundeswehr, die, wie Gustav Heinemann gesagt hat, bereit ist, sich selber in Frage zu stellen. Nächster Punkt: Möglichst viele Verbindungen zu den Menschen anderer Völker, besonders der östlichen Nachbarvölker als der potentiellen Gegenseite, zum Abbau der im Rüstungsinteresse immer weitergezüchteten gegenseitigen Vorurteile und zur Förderung gemeinsamer Friedensbewegung über die Grenzen und Blöcke hinweg. Nächster Punkt: Teilnahme an der Entwicklung von Methoden gewaltfreier Verteidigung, an denen hier in Berlin Prof. Theodor Ebert, Mitglied der EKD-Synode, mit seinen Freunden arbeitet. Und schließlich das letzte: Im Anti-Militarismus-Programm steht ein höchstbrisanter Satz. Er zielt, wenn man ihn in seinen Konsequenzen recht bedenkt in das Zentrum unseres persönlichen Lebens, in das Zentrum meines Christseins. Er lautet: "Die Kirche sollte ihre Bereitschaft betonen, ohne Waffen zu leben." Das heißt: Ich, Helmut Gollwitzer, geschützt in West-Berlin durch den Stolperdraht der westlichen Besatzung vor der Einkassierung in den roten Sumpf (nein, alle DDR-Freunde hier, das ist ja ein sehr westlicher Ausdruck, der "rote Sumpf", also besser gesagt), geschützt durch den westlichen Stolperdraht vor der Eingemeindung in die DDR, ich sollte meine Bereitschaft betonen, ohne Waffen zu leben. Das bedeutet: Wenn das Evangelium des Friedens uns erzählt vom Gott des Friedens, der sich aufgemacht hat, um seine Menschheit zu retten vor der Selbstzerstörung durch gegenseitigen Hass und Krieg, der dazu gesammelt hat eine Friedensgemeinde, dann wird mir als Glied dieser Friedensgemeinde zugemutet zu leben, wie es die Juden in der Vergangenheit unter den christlichen Völkern ohne jede politische Macht haben tun müssen und wie es die Historischen Friedenskirchen, die Quäker und Mennoniten und die anderen, schon seit langer Zeit tun. Mir wird zugemutet, mit der Entschlossenheit des christlichen Glaubens zu sagen: ich jedenfalls und wir jedenfalls, wir Christen in diesem Land, wollen von diesen Waffen und Massenvernichtungsmitteln nicht geschützt werden. Unter Gottes Schutz, ohne dessen Willen kein Haar von unserem Haupte kann fallen, verzichten wir auf diesen mörderischen Schutz. Die Freiheit des Glaubens und der Liebe werden wir praktizieren mit seiner Hilfe unter jedem Regime. Wir werden für unseren eigenen Schutz und für den Schutz der Kirche und des christlichen Glaubens keine Rüstung verlangen und so, als angstfreie Zelle in unserem Volk, wollen wir um uns her die Menschen ermutigen, die heutige Rüstung nicht mehr für ihren Schutz zu halten, sondern als einen ihrer gewaltigen Feinde zu erkennen, und gegen die Blinden und Verrückten die Vernünftigen und Weitschauenden unter unseren Politikern stützen. Nur eine Kirche, die gegen einen als Schutzgott sich anpreisenden Todfeind der heutigen Menschheit so wach und tätig auf dem Plan ist und die für sich selbst glaubwürdig ablehnt, von diesem Todfeind sich das Leben schenken zu lassen, nur eine solche Kirche ist heute eine Kirche des unverkürzten Evangeliums. Quelle: Junge Kirche. Eine Zeitschrift europäischer Christen, Juli 1977, 38. Jahrgang, S. 376ff. FußnotenVeröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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