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60 Jahre und (k)ein bisschen weise? Über die Zukunft der NATO

Von Otfried Nassauer

Die NATO wird 60 und natürlich will sie sich gebührend feiern. Auf einem Doppelgipfel im französischen Strasbourg und im deutschen Kehl soll die Allianz ungebrochene Vitalität demonstrieren. Mit Barak Obama, dem neuen Präsidenten der USA - so die Hoffnung - wird vieles besser. Alte Streitlinien können begraben und neue Visionen entwickelt werden: Zum Beispiel in Form einer neuen NATO-Strategie, deren Erarbeitung der Gipfel in Auftrag geben soll. Die Zukunft der alten Dame NATO ist - natürlich - rosa. Gipfeltreffen werden veranstaltet, um Erfolge zu verkünden.

Doch ganz so einfach wird es nicht. Der innere Zustand des vorgeblich erfolgreichsten Militärbündnisses der Geschichte ist deutlich schlechter als der äußere Anschein. Die NATO ähnelt einem großen, alten Kriegerdenkmal. Nach außen schimmern Wehr und Waffen, von innen aber sind beide hohl. Der Rost arbeitet und schon bald könnte er die Standfestigkeit bedrohen.

Das Ende des Kalten Krieges stellte auch die NATO vor die Notwendigkeit, ihre Existenz neu zu legitimieren. Die entscheidende Alternative formulierte 1993 der republikanische Senator Richard Lugar: "If NATO does not go out of area, it will go out of business." Die NATO ging "out of area", vor allem weil sie nicht "out of business" gehen wollte. Sie folgte Lugars Rat gleich mehrfach. Schrittweise übernahm sie militärische Aufgaben außerhalb des Bündnisgebietes und erweiterte zugleich die Legitimation ihres militärischen Handelns - anfänglich ging es Friedensmissionen im Auftrag der Vereinten Nationen, später auch um selbstmandatierte Interventionen wie im Falle des Kosovo. Schrittweise erweiterte sie auch ihre Mitgliedschaft bzw. ihre Versprechen auf Mitgliedschaft. Beide "Erweiterungen" erwiesen sich für die NATO als problematisch. Aus ihnen resultierten substantielle Spannungen in der NATO und um das Selbstverständnis des Bündnisses. Bis heute wagte es die NATO nicht, die Frage zu stellen, ob für eine so umfassende Veränderung der Bündnisgrundlagen nicht ein neuer NATO-Vertrag und dessen Ratifizierung durch die Parlamente der Mitgliedsstaaten erforderlich sei.

Acht Jahre George W. Bush haben die NATO weiter ausgehöhlt. Sie ist in wichtigen Fragen gespalten. Viele Neumitglieder sehen in der Allianz vor allem ein Instrument nationaler Außen- und Sicherheitspolitik, das man so benutzen kann wie die bilateralen Beziehungen zu Staaten. Viele alte Mitglieder sehen die NATO dagegen als eine Institution, deren Sinn es ist, wichtige sicherheitspolitische Entscheidungen kollektiv zu treffen und umzusetzen. Während viele Neumitglieder die Aufgabe der NATO weiter darin sehen, Sicherheit vor Russland zu gewährleisten, wollen die meisten alten Mitglieder in Europa Sicherheit mit Russland gestalten. Ein Teil der NATO-Mitglieder ist darauf bedacht, dass die Europäische Union keine autonomen militärischen Fähigkeiten bekommt, die ein Handeln ohne Hilfe der NATO möglich machen. Andere sehen in solchen Fähigkeiten die unabdingbare Voraussetzung dafür, dass Europa den USA besser auf Augenhöhe begegnen und glaubwürdig eigene Vorschläge zum Krisenmanagement machen und umsetzen kann. Die USA pendeln zwischen dem Wunsch, dass Europa sicherheitspolitisch mit einer Stimme spricht und mehr Lasten übernimmt und der Angst, dass Europa dies schafft. Unter George W. Bush überwog die Angst. Die US-Regierung stärkte die europäischen Euroskeptiker und setzte auf bilaterale Beziehungen zu den Staaten, die ein instrumentelles Verhältnis zu NATO und EU haben. Auch das höhlte die NATO weiter aus. Es entwertete sie und machte sie zu einem Werkzeugkasten, aus dem sich theoretisch alle Mitglieder und die EU, faktisch aber nur das stärkste Mitglied, die USA, Werkzeuge borgen konnten - die europäischen militärischen Beiträge zu den Koalitionen der Willigen.

Die Diskussion über eine NATO-Strategie wird viele dieser Fragen und die dahinterstehenden Alternativen erneut - und voraussichtlich wieder ohne breite öffentliche Diskussion - auf die Tagesordnung setzen.

  • Welchem Zweck dient das Bündnis? Bleibt es darauf beschränkt, Ort möglicher Konsultationen zu sein, bevor Washington entscheidet? Oder entwickelt sich die NATO zu einem Ort kollektiver Entscheidungen, die so weit es geht auch gemeinsam umgesetzt werden?
  • Eng mit der ersten Frage verbunden: Welche Konsequenzen hat es, dass die Konflikte, mit denen sich die NATO befasst, heute weitgehend unter den Artikel IV des NATO Vertrages (Konsultationsfunktion im Krisenfall) fallen, nicht aber unter Artikel V, also die Bündnisverpflichtung zu gemeinsamer territorialer Verteidigung? Soll die Verbindlichkeit oder die Selbstverpflichtung zu gemeinsamen Entscheiden und Handeln für Krisenfälle nach Artikel IV erhöht werden oder eine Befassung der NATO mit Krisen auf die Fälle beschränkt werden, in denen ein Konsens über ein kollektives Entscheiden oder Handeln möglich scheint?
  • Soll militärisches Handeln der NATO in Krisen weiterhin auch auf Selbstmandatierung hin erfolgen oder wieder eng(er) an das Völkerecht und Mandate der Vereinten Nationen gebunden werden?
  • In welchem Verhältnis sollen die NATO und die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik künftig zueinander stehen? Soll das bis heute geltende Primat der NATO weiter gelten oder soll die NATO auf Basis der Annahme weiter entwickelt werden, dass Europa eine eigene, autonome auch militärische Fähigkeit zum Krisenmanagement entwickelt, die es nutzen kann, um von Fall zu Fall eigenständig oder gemeinsam mit der NATO zu handeln? Eine Arbeitsteilung, bei der Europa die NATO lediglich um nichtmilitärische Krisenmanagementkapazitäten ergänzt, ist mittel- und längerfristig politisch nicht durchzuhalten? Hinter dieser Alternative lauert zudem die Frage nach dem künftigen Verhältnis zwischen USA und EU.
  • Wie positioniert sich die NATO angesichts der Alternative, Sicherheit mit oder vor Russland zu schaffen? Welche Rolle soll künftig der NATO-Russland-Rat spielen? Will die NATO ihr Versprechen, ihn zu einem Gremium mit Entscheidungsbefugnis auszubauen, erneut aufgreifen und realisieren? Soll Russland mittel- oder längerfristig eine Perspektive zu NATO-Beitritt eröffnet werden? Wie verhält sich die NATO zu dem russischen Vorschlag eines Vertrages über europäische Sicherheit?
  • Wie geht die NATO künftig mit der Erweiterungsfrage um? Wie mit Ländern, die wie Georgien den Konflikt mit Russland suchen und darauf hoffen, mit Hilfe der NATO schneller Sicherheit vor Russland zu bekommen?
  • Wird die Rolle von Rüstungskontrolle, Abrüstung und vertrauensbildenden Maßnahmen in der NATO wiederbelebt und erneut zu einem wichtigen Instrument der sicherheitspolitischen Gestaltung?
  • Wie geht die NATO künftig mit der nuklearen Abschreckung, der nuklearen Teilhabe und der Rolle nuklearer Waffen um? Werden die in Europa stationierten nuklearen Systeme aufgegeben oder steht deren Modernisierung und die Entwicklung neuer Einsatzszenarien an? Welche Wechselwirkungen ergeben sich mit Blick auf die künftige Bedeutung des Atomwaffensperrvertrages als wichtigster Baustein der weltweiten Nichtverbreitungsregime?

Der Jubiläumsgipfel der NATO und die nachfolgende Strategiediskussion werden diese und weitere Fragen beantworten müssen. Durch die Antworten werden Weichen gestellt. Kann genug Übereinstimmung gefunden werden, um die NATO neu zu positionieren? Oder rollt sie langsam auf ein Abstellgleis? Vieles spricht dafür, dass die NATO versuchen wird, diese Fragen nicht auszudiskutieren und sich durchzuwurschteln, weil die erste Alternative die Unwahrscheinlichere ist. Auch wenn die Gipfelteilnehmer mit großer Wahrscheinlichkeit das Gegenteil behaupten werden. Gipfel müssen erfolgreich sein und nicht weise.

Ein deutsches Sonder-Dilemma

Für die Bundesrepublik birgt die Arbeit an einer neuen NATO-Strategie ein besonderes Problem. Die Bundesregierung muss nach der Bundestagswahl 2009 die mittel- und längerfristige Bundeswehrplanung überarbeiten. Die bisherige Planung stößt an ihre finanziellen Grenzen. Tiefe Einschnitte bei Personal, Standorten und Rüstungsprojekten sind unausweichlich. Um diese realisieren zu können, muss die Bundesrepublik verstärkt mit anderen Staaten kooperieren, damit nicht mehr alle militärischen Fähigkeiten national vorgehalten werden müssen. Naheliegend wäre eine Kooperation mit anderen EU-Mitgliedern. Doch die Weiterentwicklung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik liegt derzeit auf Eis, weil die Rechtsbasis dafür fehlt. Erfolgt die nächste Bundeswehrplanung aber vor allem auf Basis der Anforderungen, die sich aus der Diskussion über eine neue NATO-Strategie ergeben, so läuft die Bundeswehr Gefahr, an den künftigen europäischen Strukturen vorbeizuplanen. Die NATO würde im Vergleich zur EU an Gewicht gewinnen.

Otfried Nassauer ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS

Quelle: BITS   - 06.02.2009. Wir veröffentlichen diesen Artikel mit freundlicher Genehmigung von Otfried Nassauer.

Veröffentlicht am

08. Februar 2009

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