NATO-Gipfel: “Wenn Sie gleich noch auf der Brücke stehen, machen wir Sie platt!”Ganz offenkundig war es die Planung der Gastgeberstaaten, massenhaften Protest gegen den NATO-Gipfel nicht zuzulassen. Insbesondere sollte es wohl keine Großdemonstration in Strasbourg geben. Bereits im Vorfeld des Gipfeltreffens wurde der geplante demokratische Protest gegen die Militär- und Kriegspolitik der NATO als Aktivitäten von Chaoten und Gewalttätern diffamiert. Es sollte eingeschüchtert und Protest durch entsprechende Verbote und Auflagen unmöglich gemacht werden. NO-GO-Zonen, die Schließung der Grenzen und die Wiedereinführung von Grenzkontrollen sollten potentielle Demonstranten mit ihrer Meinungsäußerung gegen die NATO-Kriegspolitik von den Adressaten fern halten. Dennoch wollten am Samstag Zehntausende gegen den NATO-Gipfel protestieren. Die Bilder und Schlagzeilen der Medien wurden dann allerdings von brennenden Gebäuden und weithin sichtbaren Rauchsäulen beherrscht. Der baden-württembergische Ostermarsch mit einigen tausend Teilnehmerinnen und Teilnehmern wurde von einem massiven Polizeiaufgebot in Kehl festgehalten und durfte nicht über die Rheinbrücke, wo er sich der geplanten Internationalen Großdemonstration anschließen wollte. Begründet wurde dies mit den Ausschreitungen auf der französischen Seite der Europabrücke. Doch wurden nicht gerade die Ausschreitungen unter anderem dadurch mit provoziert, dass die Demonstrantinnen und Demonstranten nicht über den Rhein gelassen wurden? Zu dieser Einschätzung kommt ein Augenzeuge, der sich bereits in die Region Straßburg begeben hatte, um sich dem Protest gegen die NATO anzuschließen. Wolfgang Strasser hat den nachfolgenden Bericht am Sonntag unmittelbar nach seiner Rückkehr von Straßburg nach Balingen verfasst. (Michael Schmid) Von Wolfgang Strasser - Augenzeugenbericht vom 05.04.2009
Liebe Freundinnen und Freunde, vor ca. einer Stunde kam ich aus Strasbourg zurück und habe die unterschiedlichsten Internetberichte gelesen. Da ich auf französischer Seite war, möchte ich euch direkt, praktisch "aus der ersten Reihe", meine noch frischen, teils unverdauten Eindrücke wiedergeben. Ich bin morgens gegen 8:30 Uhr zu Fuß vom Peace-Camp Richtung Europabrücke losgegangen, da ich dort hoffte, um 11 Uhr den baden-württembergischen Ostermarsch zu treffen. Im Peace-Camp selbst gab es leider nur vage und sehr unterschiedliche Informationen über die für 13 Uhr geplante internationale Demo. Einige rieten generell ab, in die Innenstadt zu gehen, andere meinten, wir sollten versuchen am Universitätsplatz um 13 Uhr zur zentralen Demo zu kommen. Mit einigen anderen Demonstranten kamen wir problemlos bis zu der ersten Brücke zur Innenstadt. Dort kamen uns allerdings schon besorgte Demonstranten entgegen, die abgewiesen wurden von einer sehr robust auftretenden Polizei und sich nicht mehr trauten weiterzugehen. Ich ging weiter Richtung Europabrücke und kam dort bis zu einer ersten Brücke im Bereich des Hafens, die komplett von der Polizei geschlossen war. Seitens der Demonstranten waren dort eine ganze Reihe deutscher und französischer Gruppen, teils organisiert, teils individuell. Aus nichtigem Grund wurde immer wieder Tränengas eingesetzt. Gegen ca. 10:30 Uhr entschloss sich die französische Polizei vorzurücken und die Demonstranten zurückzudrängen. Einige wenige waren auch vom "Schwarzen Block". Soweit ich es sehen konnte, wurden zwei festgenommen. Dann geschah das nächste Unverständliche. Die Polizei räumte die Brücke ganz und machte sich mit fast allen auf den Heimweg (?). Die Brücke und der Weg zur Europabrücke waren jedenfalls frei. Vielleicht ein dutzend Demonstranten nutzten die Gelegenheit und machten sich auf den Weg - vorbei am großen Platz, auf dem die französischen Freunde gerade ihre Stände etc. für die Kundgebung aufbauten. So kam ich gegen 11:50 Uhr auf die Brücke und ging bis zur Mitte. Am deutschen Ufer hatte die Polizei mit vielleicht 100 Mann und vier Wasserwerfern alles abgeriegelt. Dahinter sah man nach und nach den wartenden deutschen Demonstrationszug. Auf der Brücke traf ich noch zwei Friedensfreunde aus Karlsruhe, die von Kehl herüber gefunden hatten. Die Polizei fragte sie vor dem Passieren, wo sie hinwollten. Auf die Antwort: "Nach Frankreich" durften sie weiter. Es ging gut eine dreiviertel Stunde ins Land und nichts passierte. Da gutes Wetter war und die Stimmung allgemein gut und friedlich, blieb ich auf der Brücke und schwenkte meine Pace-Fahne. Ich wurde dabei, weil die andere Seite auch nichts anderes zu tun hatte, von Land, vom Wasser und auch aus der Luft fotografiert ohne Ende. Als ich einen Polizeifotografen nach Abzügen für mich oder einen Videoclip fragte maulte der nur dienstgemäß. Etwas unruhiger, aber immer noch sehr locker, wurde es, als die Polizisten plötzlich den Befehl "Helm auf erhielten". Wir waren auf französischer Seite immer noch maximal zwei dutzend Leute. Ich war noch so naiv zu glauben, dass aus welchem Grund auch immer, die Polizeiarmada einschließlich der großen Wasserwerfer an mir vorbeigehen würde und ich den baden-württembergischen Ostermarsch mit Fahne begrüßen könnte. Da ich aber vom Grundsatz her ein neugieriger Mensch bin und vielleicht auch aus Vorsorge, fragte ich nach ca. zehn Minuten zwei Polizisten mit aufgesetztem Helm, was sie denn vor hätten. Antwort: "Das geht Sie nicht s an." Der nächste sagte wenigstens: "Wenn Sie gleich noch auf der Brücke stehen, machen wir Sie platt!" Meine freundliche Frage, was ich denn falsch machen würde, ich würde seit über einer Stunde auf meine Freunde aus Baden-Württemberg warten, die hier in friedlichem Demozug auf einer genehmigten Route nach Frankreich wollten, war es offensichtlich dann doch zu viel. Ich hörte als Antwort: "Noch ein Wort und wir nehmen Sie gleich in Gewahrsam." Meine Bemerkung: "Die Nürnberger hängen keinen, sie hätten ihn denn", war dann doch eine Nummer zu kompliziert für die Herren in erster Polizeireihe. An einen Polizeioberen kam ich nicht heran. Von anderen Polizisten auf der anderen Brückenseite der ca. 20 Mann starken ersten Reihe bekam ich auch keine bessere Antwort. Darauf ging ich zurück auf das französische Ufer und teilte auch allen anderen mit, es sei zu erwarten, dass die Polizei in geschlossener Formation über die Brücke wolle und keinerlei Rücksicht auf demokratische Demonstrationsrechte nehmen wolle, sondern alles, was auf der Brücke ist, "plattmachen". Erst nach dieser langen Zeit kamen von französischer Seite sehr viele Demonstranten zur Europabrücke, leider auch einige vom "Schwarzen Block", die zunächst Fahnenstangen umknickten und ca. 50 Meter vom französischen Brückenende weg Barrikaden bauten. Auf französischer Seite war gut eine Stunde lang kein einziger Polizist weit und breit zu sehen. Die deutsche Polizei stand unverändert mit aufgesetztem Helm und wartete auf was auch immer. Als die erste Barrikade zu brennen anfing, kam nach vielleicht zehn Minuten die tolle Durchsage aus einem Polizeilautsprecher: "Was sie tun ist strafbar. Dies ist die erste Ansage. Es ist 13:15 Uhr." Mit den Leuten vom "Schwarzen Block" war leider überhaupt nicht zu reden. Weder der Versuch einer Diskussion, noch martialischere Versuche einer Diskussion: "Macht keinen Scheiß, das schadet uns", zeigten die geringste Wirkung. Ordner von Seiten der Veranstalter der Demo habe ich leider auch nicht gesehen. Die Gewalt nahm ihren Lauf. Erst brannte die ehemalige Zollstation, dann ein kleineres Haus weiter in Frankreich, dann das Hotel Iris. Aus meiner noch frischen Sicht haben drei Tatsachen leider zu der sich nach und nach verstärkenden sinnlosen Randale geführt: 1. Die deutsche Polizei verhinderte den geplanten Demonstrationszug über den Rhein. Wäre dieser, wie genehmigt, rechtzeitig marschiert, hätte auf dem Platz mit der Kundgebung eine große friedliche Manifestation sattgefunden. 2. Nachdem die ersten Reifen brannten, passierte gut eine Stunde nichts. Von Seiten der deutschen Polizei lediglich die weitere Durchsage: "Sie machen sich strafbar, das ist jetzt die zweite Ansage es ist 13:38 Uhr". 3. Die französische Polizei war auf dem ganzen Platz von Europabrücke bis zu den ersten Brücken im Hafen völlig abwesend. Erst als das Hotel brannte, kamen Polizisten ohne Ende, mit mobilen Einsatzkräften, mit Schützenpanzern, mit Räumgeräten. Übrigens auch sehr viele deutsche Polizisten die auf der französischen Seite waren. Alle Demonstranten waren dann bis fast 17 Uhr auf der Insel "eingesperrt" und mussten warten, bis die Brücken nach Strasbourg freigegeben wurden. Nach zwei Stunden Fußmarsch waren wir wieder im Camp und hatten eine ruhige Nacht. Am Morgen wurde mir noch zum Abschluss bei einer Ausfahrtkontrolle durch Zivilpolizisten ca. ein Kilometer vom Camp weg ein Schweizer Taschenmesser (kleine Ausführung) abgenommen. Als ich dafür eine Quittung wollte, kam ich mit Leibesvisitation und ohne Quittung davon, was mir dann doch lieber war als zwei Stunden weitere Autokontrolle, bei der sie mir konsequenterweise auch noch das Autowerkzeug hätten abnehmen müssen, da dies weit militanter ist als das Taschenmesser. Die Fahne habe ich ja gerettet, sonst wäre ich auf meine alten Tage vielleicht doch noch zum militanten Gesinnungstäter geworden. Mit antimilitaristischen Grüßen.
Wolfgang Strasser ist Bauingenieur; 1971 hat er den Kriegsdienst verweigert, ist seit 1972 Mitglied der Deutschen Friedensgesellschaft-Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK) und seit dem Irakkrieg im Balinger Friedensnetzwerk aktiv.
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