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Arundhati Roy: “Wie soll ich damit leben, nichts gesagt zu haben”

Gespräch mit Arundhati Roy. Über Hindu-Nationalismus in Indien, die Terroranschläge in Mumbai, Folter in Polizeigewahrsam, politisches Engagement und die daraus resultierenden Schwierigkeiten beim Schreiben eines neuen Romans

 

Interview: Gerhard Klas, Neu-Dehli

Für die indischen Eliten ist Arundhati Roy ein "enfant terrible". Dazu haben im geringeren Umfang ihr internationaler Erfolgsroman "Der Gott der kleinen Dinge", für den sie 1997 den renommierten Booker-Preis erhielt, vielmehr noch ihre vielen politischen Essays und ihr politisches Engagement beigetragen.

"Angefangen habe ich mit den Essays 1998, aus Anlass der Atombombentests in Indien", erzählt Arundhati Roy. Arundhati Roy wurde 1961 in der nordostindischen Stadt Shillong geboren, wuchs aber im südindischen Bundesstaat Kerala auf, dem Staat, in dem sich 1957 eine Weltpremiere ereignet und erstmals eine kommunistische Partei demokratische Wahlen gewonnen hatte. Roy war Hippie in Goa, Drehbuchautorin, Schauspielerin und studierte Architektur, unter anderem in Florenz. Sie protestierte gegen Staudammprojekte, war im Polizeigewahrsam und im Gefängnis. Auch für westliche Regierungen ist die Autorin mittlerweile eine persona non grata. Denn spätestens seit dem Krieg gegen Afghanistan hat Arundhati Roy ihren Weltruhm genutzt, um auch eine vehemente Kritikerin der westlichen Wirtschafts- und Militärpolitik zu werden.

In den deutschen Medien beherrschten Ende des vergangenen Jahres mehrere Tage lang die Anschläge von Mumbai die Berichterstattung. In Indien sind sie mit den Angriffen vom 11.September 2001 in New York und Washington verglichen worden. Warum?

Die Angriffe auf Mumbai waren der Höhepunkt einer Serie von Anschlägen der vorangegangenen Monate, u.a. in Delhi, Ahmedabad und Jaipur. Sie alle sind nach Angaben der Geheimdienste allerdings von Indern verübt worden, die in Mumbai von Pakistanis. Es gab weitere Unterschiede: Erstens brach diese furchtbare Flutwelle erstmals den Damm vor den glitzernden Hallen der Fünf-Sterne-Hotels. Deshalb bedeuteten die Toten auf einmal etwas. Normalerweise sind sie nur Zahlen.

Zweitens gab es fünf Tage lang Liveübertragungen im Fernsehen. Der dort gewählte Vergleich mit dem 11. September verfolgte die Absicht, dieselbe internationale Unterstützung zu erhalten wie die USA und diesen Angriff ebenso von jedem Kontext zu isolieren, als hätte er sich in einem historischen Vakuum zugetragen, als ginge es ganz einfach um den Kampf "Gut gegen Böse". So wurde der 11. September in den USA verkauft, und das ist der grundlegende Fehler im Umgang mit dem Terrorismus. Denn der Terrorismus ist Produkt einer historischen Entwicklung. Aber jeder Versuch, den Terrorismus zu erklären, wird als Rechtfertigung verunglimpft.

Schweigen herrscht etwa darüber, was den Muslimen in Indien, in Kaschmir und international angetan wurde - und wie das zusammenwirkt. Wir müssen verstehen: Das Massaker von Gujarat 2002, bei dem mehr als 1000 Muslime abgeschlachtet wurden, ist nicht einfach aus dem Bewusstsein verschwunden, so sehr auch versucht wurde, es unter den Teppich zu kehren. Es konnte stattfinden, weil der 11. September, die Islamophobie und die ganze Rhetorik gegen Muslime Wasser auf die Mühlen der Hindu-Chauvinisten war. Sie fühlten sich ermutigt. Sie dachten, in der vorherrschenden Atmosphäre könnten sie Muslime massakrieren, ihre Frauen vergewaltigen, sie bei lebendigem Leibe verbrennnen und müssten dafür höchstens etwas Kritik einstecken, aber sie würden keine großen Konsequenzen zu spüren bekommen, sondern Wahlerfolge einfahren. Es war eine Art Wahlkampagne im Windschatten des 11. September. Einer der Terroristen von Mumbai sprach während der Liveübertragung eines Telefongesprächs über Gujarat, über die Zerstörung der Babri-Moschee im Dezember 1992 und über die Situation der Menschen in Kaschmir. Er war der einzige, der darüber sprach. In den indischen Medien herrschte darüber Totenstille.

Narendra Modi von der Indischen Volkspartei BJP (Bharatiya Janata Party) ist nicht trotz, sondern wegen der Pogrome im Jahr 2002 zweimal als Chefminister seines Bundesstaates wiedergewählt worden. Ist in Gujarat die Rechnung der Hindunationalisten aufgegangen?

In unserem Demokratiemodell ist ein Mechanismus eingebaut, bei dem sich die Politiker an bestimmten Wählergemeinschaften orientieren und Trennlinien zwischen Minderheiten und Mehrheiten ziehen. Es reicht nicht, Modi einfach als üblen Burschen zu bezeichnen. Seit 1925 schaffen die Hindu-Nationalisten die Voraussetzungen für diesen Faschismus. Die Nationale Freiwilligenorganisation RSS, zu der auch Modi, BJP-Spitzenkandidat Lal Krishna Advani und der frühere indische Premierminister Vajpayee gehören, hat sich bei ihrem Aufbau am italienischen Faschismus orientiert. Ihre Texte drücken eine große Bewunderung für Hitler aus. Die RSS hat 1,7 Millionen Freiwillige, sie arbeitet auch im Untergrund, überall, in jedem indischen Bundesstaat betreibt sie alle möglichen Arten von Freiwilligenarbeit. Das ist kein sanfter Wind. Es ist das Resultat einer grundlegenden Arbeit, die langsam sichtbar wird. Aber weil Indien eine bedeutende Marktwirtschaft ist und sich als große Demokratie ausgibt, mag niemand etwas Schlechtes über Indien sagen. Es ist das populärste Entwicklungsland in der Welt. Natürlich - vergleicht man die hiesigen Ereignisse mit denen in Afghanistan, Kongo und Ruanda - wie kann man Indien kritisieren? Aber der Punkt ist: Die Wurzeln sind von Fäulnis befallen, und diese Fäulnis kommt langsam zum Vorschein. Dem könnten wir erliegen.

Wie passt das zusammen - auf der einen Seite ein enormes Wirtschaftswachstum, auf der anderen Seite ein kontinuierliches Erstarken der Hindu-Nationalisten?

1990 sind zwei wesentliche Dinge passiert: Manmohan Singh, unser jetziger Premierminister, war damals Finanzminister und öffnete unsere Wirtschaft für die neoliberalen Konzerne. Lal Krishna Advani, der jetzt als Spitzenkandidat der BJP für das Amt des Premierministers kandidiert, startete seine landesweite Kampagne für die Zerstörung der Babri-Moschee, sprach von der Überlegenheit der Hindus usw. Also die Privatisierungskampagne und der offene Faschismus starteten zum selben Zeitpunkt. Heute kulminieren diese beiden Entwicklungen, wenn etwa Ratan Tata und Narendra Modi sich kaum aus ihrer innigen Umarmung auf der Bühne lösen können. Aus Deutschland ist diese Verbindung zwischen Konzernen und Faschismus ja bekannt. Modi hat Tata 130 Millionen Euro Kredit für die Produktion des Billigautos Nano gegeben, zu 0,1 Prozent Zinsen, hinzu kommen kostenlose Straßenverbindungen, Strom und Wasser. Das ist das sogenannte Entwicklungsmodell Gujarat, vergessen wir also den Genozid und all das. In diesem Bundesstaat kulminieren die Interessen privater Konzerne und die des faschistischen Programms. Flankiert wird das von einem großen Teil der politisch aktiven Mittelklasse, die nach den Angriffen auf Mumbai öffentlich einen Polizeistaat forderte. Gegenüber denjenigen, die die Polizei kritisierten und über Folter und Erschießungen im Polizeigewahrsam sprachen, traten sie sehr aggressiv auf, ja sie forderten sogar, solche Mittel legal zur Anwendung zu bringen. Der Polizeistaat würde einen Zweck erfüllen: Heute befinden wir uns in einer militärisch verfahrenen Situation zwischen reich und arm. Wenn man an die Ressourcen heran will, an das Eisen, das Bauxit, die Kohle, das Wasser, dann muss man Millionen Menschen von dem Land vertreiben und ihnen ihre Lebensgrundlage entziehen. Bei den Eliten gibt es ein gesteigertes Verlangen nach einer solchen Art von Militarisierung. Wenn man sich die Gesetze in Bundesstaaten wie Chattisgarh oder Orissa …

… wo die BJP regiert bzw. mitregiert …

… betrachtet, ist es schon so weit: Einen kritischen Gedanken über die dortigen Regierungen zu äußern kommt einem kriminellen Vergehen gleich. Wenn ich in Chattisgarh leben würde, könnte ich sogar wegen der Bücher in meiner Wohnung inhaftiert werden. In diesem Bundesstaat gibt es viele Menschen, die darum kämpfen, auf ihrem Land bleiben zu können. Sie alle werden als "Maoisten" bezeichnet. Hunderte von ihnen sind bereits getötet worden, ganze Dörfer dem Erdboden gleichgemacht. Es ist vergleichbar mit Kolumbien, aber die Medien in Indien berichten nicht darüber, denn sie werden von den Konzernen kontrolliert.

Muslime in Indien - immerhin die zweitgrößte islamische Gemeinschaft weltweit - gelten im Vergleich zu denen in einigen arabischen Ländern als äußerst moderat, liberal, säkular. Radikalisieren sie sich angesichts der Offensive der Hindu-Nationalisten?

In den vergangenen Jahrzehnten hat die Behandlung der muslimischen Gemeinde in Indien dazu geführt, dass die 150 Millionen Muslime nach den Dalits die ärmste Gemeinschaft in diesem Land bilden. Ihnen wird jede Hoffnung genommen, es gibt keine Aussicht auf Gerechtigkeit. Junge Männer wurden festgenommen und gefoltert. Ob sie nun Terroristen sind oder nicht, sie werden dafür keine Wiedergutmachung erhalten. Frauen sind auf offener Straße vergewaltigt und ihre Kinder bei lebendigem Leib verbrannt worden, und nichts passiert. Man rechne sich aus: Wenn nur 0,01 Prozent der indischen Muslime radikalisiert werden, dann stellt das eine Gefahr für die ganze Welt dar. Denn heute die Herkunft einer Terrorattacke exakt festzulegen ist, als würde man versuchen, die Herkunft der globalen Finanzkrise genau zu lokalisieren.

Unsere Gesellschaft braucht eine Entwicklung hin zu mehr Gerechtigkeit, sie muss den Menschen ein Zeichen der Hoffnung auf Gerechtigkeit geben, besonders wenn so etwas wie in Gujarat passiert. Denn der Druck auf die Muslime führt dazu, dass sie sich in ihre eigene Gemeinschaft zurückziehen, eine Wand um sich bauen und in eine religiöse Identitätspolitik abgleiten. Das passiert gerade. Ich denke, das ist unvermeidlich. Wenn man mit solcher Art von Ungerechtigkeit konfrontiert wird, dann radikalisieren sich Teile der Gemeinschaft. Die Tatsache, dass junge muslimische Männer von der Polizei aufgegriffen und unter falschen Anschuldigungen gefoltert werden, trägt dazu bei. Heute kann man sich nie sicher sein, ob sich jemand von ihnen wirklich eines Vergehens schuldig gemacht hat oder nicht.

Können Sie mir Beispiele nennen?

Nur einige Wochen vor der Attacke in Mumbai sind zwei junge Männer in Delhi ermordet worden. Die Polizei stürmte in ihre Wohnung und erschoss sie kaltblütig. Viele, die dazu etwas sagen wollten, wurden festgenommen und innerhalb kürzester Zeit beschuldigt, bei dem einen oder anderen terroristischen Attentat mitgewirkt zu haben. Einige von uns haben das in Frage gestellt. Advani, der Präsidentschaftskandidat der BJP, der gerade im Bundesstaat Uttar Pradesh auf Wahlkampftour war, sprach auf riesigen Kundgebungen davon, wie selbstmörderisch und antinational es sei, die Polizei in Frage zu stellen. Ausgerechnet diese Polizei, die weltweit die meisten Toten in ihrem Gewahrsam zählt. Dann zog Advani mit einer Essaysammlung herum, in denen einige von uns die offizielle Darstellung des Angriffs auf das indische Parlament 2001 kritisieren. Die Polizei hatte vier Personen festgenommen, drei wurden von allen Anschuldigungen freigesprochen, der vierte wurde zum Tode verurteilt. Auch wenn man keine Beweise habe, dass der zum Tode verurteilte Mohammad Afzal zu einer terroristischen Gruppe gehöre, so hieß es in der Urteilsbegründung, müsse man doch das kollektive Gewissen der Gesellschaft zufriedenstellen. "Hängt Mohammad Afzal" lautet seitdem einer der Wahlkampfslogans der BJP. Auf seiner Wahlkampftour sagte Advani: Seht euch diese Leute an, sie stellen das in Frage. Auf jeder Kundgebung nannte er Namen, darunter auch meinen, um uns Probleme zu bereiten. Doch dann machte eine neue Nachricht die Runde: Eine Hindu-Terrorgruppe sei für mehrere Bombenattentate verantwortlich. Advani brauchte keine fünf Minuten, diese Anschuldigung zu verwerfen und seinerseits die Polizei in Frage zu stellen.

Welche Rolle spielen die Medien?

Sie stimmen sich eng mit verschiedenen Interessengruppen ab. Wenn es um die Maoisten geht oder um irgendeine Form von islamistischem Terror, dürfen sie die hanebüchensten Lügen verbreiten. Auch wenn sie der Lüge überführt werden, machen sie einfach weiter damit. Es gibt Fernsehsender, die haben sogar Foltervideos veröffentlicht. Zum Beispiel zur Attacke auf das Parlament. In Folge der jüngsten Erschießungen hier in Delhi waren mehrere junge Männer im Polizeigewahrsam und wurden dort einem Journalisten von India Today präsentiert. Am nächsten Tag erschien eine Titelgeschichte. Alle hätten ihre Taten gestanden, hieß es dort. Dabei weiß er genau, dass das illegal ist. Aber das macht diesen Medien nichts aus. So wird öffentliche Meinung produziert. Der Fernsehsender NDTV zeigte die Foltervideos des zum Tode verurteilten Mohammad Afzal. Währenddessen lief am unteren Bildrand ein Ticker. "Hängt ihn auf an den Eiern, auf dem Roten Platz" [Hauptmarkt in Srinagar, der Hauptstadt des indischen Teils von Kaschmir, G.K.] stand dort geschrieben. Und dann kommt das Gericht und behauptet, mit dem Todesurteil das öffentliche Gewissen der Gesellschaft zufriedenzustellen. Ein öffentliches Gewissen, das von diesem Medienwahnsinn erzeugt wurde. Und die Gerichte fügen sich irgendwie diesem Wahnsinn. Wir befinden uns in einem großen Dilemma.

Was bedeutet es, im Gewahrsam der indischen Polizei gefoltert zu werden?

Direkt hinter meinem Haus befindet sich eine Spezialabteilung der Polizei von Delhi. Es ist die Antiterroreinheit, wo alle Kaschmiris und auch die Beschuldigten der Parlamentsattacke festgehalten wurden. Ich habe mehrere Bände mit Aussagen gesammelt, was den Gefangenen im Gewahrsam dieser Polizeistation angetan wird: Sie lassen sie mit Schweinen leben, vergewaltigen sie, urinieren in ihre Münder, flößen ihnen Benzin in den After, verpassen ihnen Elektroschocks an ihren Genitalien, bringen Familienangehörige in die Polizeistation und drohen, sie in Gegenwart der Beschuldigten zu vergewaltigen. Dieser brutale Ort funktioniert - hinter einer dünnen Fassade der Zivilisation.

Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch kritisieren, dass Hinrichtungen im Polizeigewahrsam zunehmen. Können Sie das bestätigen?

Bei der indischen Polizei, vor allem den Antiterroreinheiten im Norden und denjenigen, die mit der Unterwelt in Mumbai zu tun haben, gibt es einige leitende Beamte, die man Gefechtsspezialisten nennt. Von einem "Gefecht" ist dann die Rede, wenn die Polizei Leute kaltblütig erschießt. Der Leiter der Spezialeinheit hier in Delhi zur Zeit der Parlamentsattacke hat mehr als 100 Menschen getötet. Ein anderer 80. Das bedeutet standrechtliche Hinrichtungen und der Fall ist abgeschlossen. Niemand forscht mehr nach. Sie haben also eine Lizenz zum Töten. Dafür bekommen sie Tapferkeitsauszeichnungen, werden als Vorbild für andere hingestellt und belohnt.

Was erwarten Sie von den derzeit stattfindenden Wahlen?Dieses Interview wurde noch vor Beendigung der an mehreren Tagen stattfindenden Parlamentswahlen und vor Bekanntgabe des Ergebnisses geführt. Als Gewinner aus der Wahl ging die United Progressive Alliance (UPA), ein Parteienbündnis unter Führung des Indischen Nationalkongresses, hervor, das 262 der 543 Sitze (48,3 %) der Sitze gewann. Besonders unerwartet war das gute Abschneiden der UPA in den Bundesstaaten Uttar Pradesh, Westbengalen, Kerala, Tamil Nadu und Rajasthan. Die von der hinduistischen Bharatiya Janata Party (BJP) angeführte National Democratic Alliance kam auf 159 Sitze (29,3%). Überraschend war auch das relativ schlechte Abschneiden der in dem Wahlbündnis der Third Front zusammengeschlossenen Linksparteien (79 Sitze, 14,5%). Die globale Wahlbeteiligung lag bei 63% (450,8 Millionen Wähler) und unter den gewählten Abgeordneten befinden sich 60 Frauen (11,0%). Damit hat die bisherige Regierung unter Führung Premierministers Manmohan Singh ihren bisherigen parlamentarischen Rückhalt deutlich ausbauen können.

Ich persönlich habe weder etwas für die Kongresspartei, noch für die Indische Volkspartei BJP übrig. Auch unter einer Kongress- Regierung werden Leute kaltblütig erschossen. Aber die BJP ist eine sehr ernsthafte Bedrohung für die Muslime in Indien.

Gibt es denn auch Zeichen der Hoffnung?

Es gibt Dinge in Indien, die sind einfach phantastisch. Zum Beispiel das Ausmaß und die Verschiedenheit des Widerstandes. An einigen Orten haben sich die Menschen erfolgreich gegen ihre Vertreibung gewehrt. Sie wollen sich nicht einfach ihrem Schicksal ergeben und dann sterben. Sie kämpfen: In Chattisgarh, in Jarkhand, in Westbengalen. An ihrer Seite zu stehen, ihre Stärke, ihre Zerbrechlichkeit, ihre Verletzlichkeit zu erfahren, das ist es, was das Leben hier ausmacht.

Vor zwei Jahren haben Sie angekündigt, einen neuen Roman zu schreiben. Warum wird er nicht fertig?

Nehmen wir als Beispiel Mohammad Afzal und die Attacke auf das Parlament: Ich kenne die Fakten, ich habe mir die Mühe gemacht, diese Geschichte zu verfolgen. Ich versuchte mir einzureden: "Lass es jemand anderen schreiben, denn ich habe gerade etwas anderes zu tun." Und dann weiß ich, wenn sie ihn hängen werden, wie soll ich mit dem Bewusstsein leben, nichts gesagt zu haben, wo ich doch Bescheid wusste? So geht es mir mit vielen Dingen, über die ich schreibe. Zum Beispiel über Kaschmir. Es ist leichter für mich zu schreiben als nicht zu schreiben. Diese Feigheit oder diese Versenkung in sich selbst oder "Oh, ich habe gerade etwas anderes zu tun" ist zunächst einmal schwer auszuhalten. Aber immer, wenn ich ein Stück fertiggeschrieben habe, schwöre ich mir, es niemals wieder zu tun. Ich schaffe es nicht. Dieses Hin und Her hat 1998 mit den indischen Nukleartests angefangen, und ich dachte, ich kann nicht aufhören, ohne zu sagen, was ich zu Kaschmir fühle, vor allem nicht nach dem Aufstand vom August 2008, als ich dort war. Alle waren auf den Straßen, auch Kinder und Frauen, und riefen im Sprechchor "Azadi", was Unabhängigkeit, Souveränität und Selbstbestimmung, aber auch Würde bedeutet. Ich fühlte, mein Schreiben wäre unvollständig, würde ich nicht meine Meinung äußern. Als ich es tat, hieß es in sämtlichen Fernsehprogrammen, jetzt hätte ich die Grenze endgültig überschritten, und alle Politiker - von BJP bis Kongress - forderten, mich ins Gefängnis zu sperren und den Schlüssel zur Zelle gleich wegzuwerfen, ich sei eine Verräterin. Aber das trage ich als Ehrenauszeichnung. Es würde mich beunruhigen, wenn sie aufstehen und Beifall klatschen würden.

Quelle:  junge Welt , 09.05.2009. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Gerhard Klas.

Fußnoten

Veröffentlicht am

04. Juni 2009

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