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Das andere Massaker

Auch Venezuela setzte wie China 1989 auf nackte Gewalt: Mehrere Tausend Menschen starben, als das Militär Proteste gegen die Kürzung von Sozialleistungen niederschlug

Von Raul Zelik

In den vergangenen Wochen wurde wieder ausgiebig an das Tiananmen-Massaker von 1989 erinnert. Die Niederschlagung der Demokratiebewegung in China gilt gemeinhin als Beweis für die Unmenschlichkeit des sozialistischen Systems im Reich der Mitte. Völlig unerwähnt bleibt, dass im Jahr 1989 ein weiteres, nicht minder blutiges Massaker verübt wurde, das sich mit gleicher Berechtigung als Beleg für die Brutalität des "freien Westens" interpretieren lässt.

Am 27. Februar 1989, drei Monate vor den Ereignissen in Peking, kam es in Venezuela zum so genannten Caracazo - einem spontanen Gewaltausbruch, der neben Caracas auch andere Großstädte des Landes erfasste. Venezuela galt seinerzeit als lateinamerikanische Musterdemokratie. Das Land wurde seit Jahrzehnten von Sozial- und Christdemokraten regiert und hatte dank der Öleinnahmen seit den sechziger Jahren einen bemerkenswerten Aufschwung erlebt. Für die weiße Mittelschicht lagen Miami und Paris näher als die Armutsmetropolen der südamerikanischen Nachbarschaft.

Kredite gegen eine Kürzung der Sozialausgaben

Der Aufstand, der am 27. Februar ausbrach und zwei Wochen dauerte, machte dann allerdings deutlich, dass der vermeintlich kometenhafte Aufstieg Venezuelas nur eine Illusion war. Der Caracazo - im Wesentlichen von Slum-Bewohnern getragen - richtete sich gegen die Wirtschaftspolitik der sozialdemokratischen Regierung. Präsident Carlos Andrés Pérez, einst Vizepräsident der Sozialistischen Internationalen (SI) mit besonderer Nähe zu Spaniens Sozialdemokratie, hatte kurz zuvor ein Sparpaket verabschiedet. Damit sollte auf die Finanzkrise reagiert werden, die Venezuela wie ganz Lateinamerika fest im Griff hatte. Der IWF wollte neue Kredite nur bewilligen, wenn die staatlichen Sozialausgaben gekürzt wurden. Die Regierung in Caracas strich daraufhin folgsam Lebensmittel- und Transportsubventionen zusammen.

Die unsichtbare Mehrheit der Venezolaner, die in den Elendsquartieren der Metropolen nicht nur geografisch, sondern auch ökonomisch, politisch und medial marginalisiert war, konnte dieses Vorgehen nur als Provokation verstehen. Zum einen war die sozialdemokratische Acción Democrática (AD) erst wenige Monate zuvor für das Versprechen gewählt worden, die Sozialprogramme weiterzuführen. Zum anderen gehörte Andrés Pérez persönlich zu den Nutznießern des Erdölbooms. Während seiner ersten Präsidentschaft (1974-1979) war er zu einem der wohlhabendsten Männer des Landes aufgestiegen - auch weil er gigantische Summen aus der Staatskasse veruntreut hatte. Dass nun diejenigen, die durch Korruption und Klientelismus die Krise maßgeblich zu verantworten hatten, ausgerechnet die Ärmsten zur Sparsamkeit zwingen wollten, führte zu einer Massenerhebung, wie sie niemand erwartet hatte.

Der Caracazo begann zunächst außerhalb von Caracas und weitete sich - ohne dass politische Gruppen eine führende Rolle gespielt hätten - sofort zum Flächenbrand aus. Die Bewohner der Barrios strömten in die Innenstadt und holten sich, was ihnen seit langem vorenthalten wurde: Nahrungsmittel, Möbel, Elektrogeräte. Amateurfilmaufnahmen aus jenen Tagen zeugen von der Ausgelassenheit der Habenichtse. Endlich hatten diejenigen, die mit ihrer Arbeit für den Wohlstand anderer sorgten, selbst am Wohlstand teil.

Ausdruck eines Vakuums

Die Regierung machte sich nicht die Mühe, diese Motive zu begreifen. Ganz ähnlich wie später die Führung in Peking setzte die Exekutive der südamerikanischen Musterdemokratie auf nackte Gewalt. Die Nationalgarde eröffnete das Feuer und rückte in die Armenviertel vor. Zwischen 2.000 und 3.000 Personen starben nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen im Kugelhagel der Staatsmacht. In den Armenvierteln von Caracas zeugten zerschossene Häuserfassaden noch vor Jahren davon, wie wahllos die Nationalgarde vorging. Es gab reihenweise illegale Hausdurchsuchungen, Dutzende von mutmaßlichen Anführern der Revolte wurden entführt und "verschwanden".

Das Argument, man könne Peking und Caracas kaum miteinander vergleichen, weil es sich im ersten Fall um friedliche Demokratie-Proteste, im zweiten hingegen um gewalttätige Plünderungen gehandelt habe, trifft die Sache nicht wirklich. Zum einen verteidigten sich auch in Peking die Demonstranten militant mit Barrikaden und Molotow-Cocktails gegen anrückende Soldaten. Zum anderen war der Aufruhr in Venezuela politischer, als es wahrscheinlich selbst seine Protagonisten zunächst vermuteten. Der Caracazo erwies sich als Fanal, um das Ende des Neoliberalismus in Lateinamerika einzuläuten, er bewies, dass die Bevölkerung der neoliberalen IWF-Politik nicht wehrlos ausgeliefert war. Das ermöglichte schließlich jenen politischen Wandel, der heute in ganz Lateinamerika zu spüren ist.

"Der Caracazo war Ausdruck eines Vakuums", meint der linke venezolanische Intellektuelle Roland Denis. "Überrascht stellten wir fest, dass sich die Mehrheit nicht mehr repräsentiert fühlte - und zwar von allen: Parteien, Gewerkschaften, linken Gruppen, Medien, Intellektuellen. Der Aufstand manifestierte nicht nur eine soziale, sondern vor allem eine Krise der Repräsentation. Dass die Parteien in den Folgejahren kollabierten und das alte System hinweggefegt wurde, war eine Spätfolge dieser Revolte."

So darf es denn auch wenig erstaunen, wenn der Mainstream heute lieber an Peking als an Caracas erinnert. Zeugt der Aufstand doch davon, dass nicht nur im Staatssozialismus, sondern auch in real existierenden westlichen Demokratien die Versprechen von sozialer Inklusion und demokratischer Teilhabe uneingelöst blieben.

Raul Zelik ist Schriftsteller und lebt in Berlin

Quelle: der FREITAG vom 02.07.2009. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Raul Zelik und des Verlags.

Veröffentlicht am

05. Juli 2009

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