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Eduardo Galeano: Gedanken über Gerechtigkeit und gesunden Menschenverstand

Die Geschichte geht weiter

Von Eduardo Galeano, 13.08.2009 - CounterPunch

Ich möchte mit Ihnen einige Fragen - einige Fliegen, die mir durch den Kopf schwirren -, erörtern.

Steht die Gerechtigkeit Kopf?

Steht die Weltgerechtigkeit Kopf und ist in dieser Position eingefroren?

Wer ist ein Terrorist? Der Mann, der seine Schuhe warf oder der Mann, den sie treffen sollten (Bush)? Ist nicht der verlogene Serienkiller, der den Irakkrieg ausklügelte, jener Massenmörder, der Folter legalisierte und anordnete, der eigentliche Terrorist?

Wer sind die Schuldigen? Die Menschen von Atenco in Mexiko, die indigenen Mapuches in Chile, die Kekchies in Guatemala oder die landlosen Bauern Brasiliens? Sie alle werden des Verbrechens des ‘Terrorismus’ bezichtigt. Weshalb? Weil sie ihr Recht auf ihr Land verteidigen? Falls die Erde heilig ist - auch wenn es nicht im Gesetz steht -, sind die Verteidiger der Erde nicht ebenso heilig?

Laut des Foreign Policy Magazine ist Somalia der gefährlichste Ort der Welt. Doch wer sind die Piraten? Sind es die Verhungernden, die Schiffe angreifen, oder sind es die Wall-Street-Spekulanten, die die Welt jahrelang angegriffen haben und nun für ihre Anstrengungen mit Millionen von Dollars belohnt werden?

Weshalb belohnt die Welt Leute, sie sie ausplündern?

Warum ist Justizia auf einem Auge blind? Wal-Mart, der mächtigste Konzern der Erde, verbietet Gewerkschaften. Auch McDonalds verbietet Gewerkschaften. Warum verstoßen diese Konzerne - straflos - gegen internationales Recht? Liegt es vielleicht daran, dass in unserer heutigen Welt Arbeit einen geringeren Stellenwert hat als Müll und die Rechte der Arbeiter einen noch geringeren Stellenwert?

Wer sind die Gerechten und wer die Schurken? Internationale Gerechtigkeit - gibt es sie wirklich? Falls ja, warum werden die Mächtigen nie zur Rechenschaft gezogen? Die Masterminds, die hinter den schlimmsten Massakern stecken, landen nie im Gefängnis - vielleicht, weil diese Schlächter die Gefängnisschlüssel in ihren Taschen tragen?

Warum sind jene fünf (ständigen) Mitglieder des UNO-Sicherheitsrates, die mit einem Vetorecht ausgestattet sind, immun? Ist dieses Vetorecht etwa göttlichen Ursprungs? Kann man jenen, die von Kriegen profitieren, vertrauen, wenn sie den Frieden bewachen?

Ist es fair, dass der Frieden ausgerechnet in den Händen jener fünf Nationen liegt, die die weltweit größten Waffenproduzenten sind? (Ohne die Drogenbarone unterschätzen zu wollen:) Könnte man dieses Arrangement nicht als ein weiteres Beispiel für organisiertes Verbrechen anführen?

Jene, die überall lautstark die Todesstrafe fordern, verhalten sich seltsam ruhig, sobald es um die Herren der Welt geht. Noch schlimmer, die Befürworter der Todesstrafe jammern ständig über Mörder, die Messer schwingen und schweigen, wenn es um Erzmörder geht, die Raketen schwingen.

Angesichts der selbstgerechten Herren dieser Welt, die so gerne töten, stellt sich die Frage, warum sie ihre mörderischen Ambitionen nicht gegen die soziale Ungerechtigkeit richten. Ist eine Welt gerecht, in der jede Minute 15 Kinder an Hunger und behandelbaren Krankheiten sterben, während in der gleichen Minute 3 Millionen Dollar an Militärisches verschwendet werden? Die internationale Gemeinschaft ist bis an die Zähne bewaffnet? Gegen wen richtet sich diese Aufrüstung? Gegen die Armut oder gegen die Armen?

Warum richtet sich der Eifer der Todesstrafenverfechter nicht gegen die Werte der Konsumgesellschaft? Schließlich stellen diese Werte täglich eine Bedrohung für die öffentliche Sicherheit dar. Die Werbung, mit der wir konstant bombardiert werden - lädt sie nicht zu kriminellen Handlungen ein? Lässt sie nicht Abermillionen unterbezahlte bzw. arbeitslose junge Leuten abstumpfen? Predigt sie ihnen nicht ständig, dass "Sein" "Haben" bedeute und der Sinn des Lebens vom Besitz abhänge, von bestimmten Dingen, wie Autos oder Markenschuhen? "Haben! Haben!" lautet ihre ständige Botschaft. Das bedeutet, wer nichts hat, ist nichts.

Warum wird der Tod nicht mit dem Tod bestraft? Doch unsere Welt hat sich in den Dienst des Todes gestellt. Der militärisch-industrielle Komplex produziert Tod und verschwendet dabei den größten Teil unserer Ressourcen und einen Großteil unserer Energien. Doch diejenigen, die unsere Welt besitzen, verdammen ausschließlich die Gewalt anderer. Gäbe es außerirdische Lebensformen, sie würden sich dieses Gewaltmonopol wohl nicht erklären können, ebenso ist es unerträglich für jene Erdenbewohner/innen, die - gegen alle uns vorliegenden Beweise - auf ein Überleben hoffen. Wir Menschen sind die einzige Art, die sich auf das Auslöschen von Artgenossen - wechselseitig - spezialisiert hat und eine Technologie entwickelt, die alle Bewohner unseres Planeten so ganz nebenbei vernichtet.

Diese Technologie lebt von der Furcht vor Feinden. Diese Furcht rechtfertigt die Vergeudung von Ressourcen durch Militär und Polizei. Zurück zum Thema ‘Todesstrafe’. Warum keine Todesstrafe für die Furcht? Stünde es uns nicht gut an, die universelle Diktatur der professionellen Kriegstreiber zu beenden? Wer Panik sät, verdammt uns zu Einsamkeit und rückt Solidarität so weit weg, dass sie für uns unerreichbar ist. Diese Irrlehre behauptet, wir lebten in einer Welt, in der Hunde einander auffressen, in einer Welt, in der jeder, der kann, die anderen zerschmettern müsse. Jeder Nachbar sei insgeheim gefährlich. "Hütet euch", sagen sie, "seid vorsichtig, der eine Nachbarn wird dich bestehlen, der andere dich vergewaltigen; im Kinderwagen ist eine muslimische Bombe versteckt, und die Frau, die dich beobachtet - die unschuldig wirkende Nachbarin, die dich beobachtet -, wird dich mit der Schweinegrippe infizieren."

In einer Welt, die auf dem Kopf steht, wird uns selbst vor den grundlegendsten Akten der Gerechtigkeit und des gesunden Menschenverstandes bange gemacht. Als Präsident Evo Morales sich an die Aufgabe machte, Bolivien wiederaufzubauen, damit das Land mit seiner indigenen Mehrheit wieder in den Spiegel blicken konnte, ohne Scham zu empfinden, rief dies Panik hervor. Aus Sicht der traditionellen Position, der rassistischen Ordnung, war Evo Morales’ Herausforderung tatsächlich eine Katastrophe. Die Profiteure glaubten, ihre Sicht sei die einzig mögliche Option für Bolivien, und Evo derjenige, der Chaos und Gewalt verbreite. Evos angebliche Verbrechen rechtfertigten die Zerstörung der nationalen Einheit Boliviens, die Zertrümmerung des Landes (meinten sie). Als der ecuadorianische Präsident Correa sich weigerte, Schulden abzuzahlen, die Ecuador zu unrecht angelastet wurden, löste diese Nachricht Angst und Schrecken in der Finanzwelt aus. Ecuador wurde eine harsche Strafe angedroht, denn das Land hatte es gewagt, mit "schlechtem Beispiel" voranzugehen.

Stets haben internationale Banken Militärdiktaturen und verbrecherische Politiker verwöhnt. Haben wir uns nicht schon daran gewöhnt, es als unabänderliches Schicksal zu akzeptieren, dass das Volk den Stock bezahlen muss, mit dem es verprügelt wird bzw. die Gier, die hinter seiner Ausplünderung steckt?

War dies schon immer so? Und gingen Gerechtigkeit und gesunder Menschenverstand schon immer getrennte Wege?

Sollten sie nicht Hand in Hand gehen - in enger Verbundenheit?

Es gibt einen feministischen Slogan: Wenn die Männer die Kinder kriegen müssten, wäre Abtreibung erlaubt. Ist das, im Sinne des gesunden Menschenverstandes und der Gerechtigkeit, nicht richtig? Warum sollte das Recht auf Abtreibung nicht legalisiert werden? Vielleicht, weil Abtreibung dann nicht mehr das Privileg reicher Frauen wäre, die sich eine Abtreibung leisten bzw. von Ärzten, die diese in Rechnung stellen können?

Das Gleiche gilt für ein weiteres Skandalthema, bei dem sowohl die Gerechtigkeit als auch der gesunder Menschenverstand negiert werden. Warum sollten Drogen nicht legalisiert werden? Gehört dieses Thema - wie das Thema Abtreibung - nicht in den Bereich der öffentlichen Gesundheit? Die USA sind ein Land mit mehr Suchtkranken in der Bevölkerung als jeder andere Staat auf Erden. Welche moralische Berechtigung hat dieser Staat, die Länder, aus denen seine Drogen kommen, zu verurteilen? Warum weisen die Massenmedien - in ihrem Eifer gegen die Geisel der Drogen - nie darauf hin, dass Afghanistan fast den gesamten Heroinkonsum der Welt allein abdeckt? Wer regiert in Afghanistan? Ist Afghanistan nicht militärisch besetzt, und ist der Besatzer nicht ein messianisches Land, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, uns alle zu retten?

Warum werden Drogen nicht ein- für allemal legalisiert? Vielleicht deshalb, weil sie die beste Rechtfertigung für Militäreinmärsche sind? Oder vielleicht wegen der reichlichen Profite, die Drogen den Großbanken bescheren? Diese Banken sind dunkle Zentren, in denen Drogengelder gewaschen werden.

Die Welt ist traurig, weil weniger Fahrzeuge verkauft werden. Eine Folge der globalen Krise ist der Niedergang der einst so reichen Autoindustrien. Mit ein wenig gesundem Menschenverstand und einem Rest Gerechtigkeitsempfinden würden wir begreifen, dass dies eine gute Nachricht ist und wir sie feiern sollten.

Denn wer würde bestreiten, dass weniger Autos der Natur guttun, dass die Natur dadurch ein bisschen weniger vergiftet wird. Oder wer würde bestreiten, dass weniger Autos gut für die Fußgänger sind, weil die Zahl der Überfahrenen/Getöteten zurückgeht?

In der Geschichte ‘Alice im Wunderland’ von Lewis Carroll erklärt die Königin dem Mädchen Alice, wie Gerechtigkeit in der Zauberwelt funktioniert:

"Das ist der Bote des Königs. Er sitzt im Gefängnis und wird bestraft: Das Gerichtsverfahren beginnt nicht vor nächsten Mittwoch: Das Verbrechen wird natürlich erst ganz zum Schluss begangen".

Nach diesem "Gerechtigkeitsprinzip" wurde einst Erzbischof Arnulfo Romero in El Salvador "verurteilt": Die Schlange beißt nur die Barfüßigen. Romero starb an Schussverletzungen, die er erlitten hatte, weil er öffentlich gesagt hatte, dass in seinem Land die Enteigneten von Anfang an, schon von Geburt an, verurteilt sind.

Die Ergebnisse der kürzlichen Wahlen in El Salvador könnten in gewisser Weise als eine Hommage an Erzbischof Romero verstanden werden, oder nicht? Auch als Hommage an die Tausenden, die - wie Romero - im Kampf für eine Gerechtigkeit, die NICHT Kopf steht, ihr Leben ließen, in einer Zeit, in der die Ungerechtigkeit regiert.

Manchmal nimmt die Geschichte ein böses Ende. Aber die Geschichte geht immer weiter. Wenn sie sich verabschiedet, heißt das nur "auf Wiedersehen".

Übersetzt aus dem Spanischen für CounterPunch von Dr. Moti Nissani

Eduardo Galeano, uruguayischer Schriftsteller und Journalist, ist Autor von "Die offenen Adern Lateinamerikas", "Erinnerungen des Feuers" und "Spiegel - fast eine universelle Geschichte".

 

Quelle:  ZNet Deutschland vom 14.08.2009. Originalartikel: I Hate to Bother You . Übersetzt von: Andrea Noll.

Veröffentlicht am

15. August 2009

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