Bilder gegen den Krieg. Momentaufnahmen aus dem Iran (Teil 5): MaryamVon Afsane Bahar, 8.10.2009 Nocturno Der, welcher wusste, schloss die Lippen dicht, (von dem iranischen Dichter Ahmad Schamlu) Vor zwei Tagen erfuhr ich telefonisch, dass Maryam einen Kreislaufkollaps hatte, notfallmäßig im Krankenhaus aufgenommen und unmittelbar nach Durchführung einer Herzkatheter-Untersuchung einer Bypass-Operation unterzogen worden ist. Das erstaunt mich zunächst sehr, denn Maryam ist Mitte fünfzig. Wenn man bedenkt, dass ca. 40% der herzchirurgischen Patienten in Deutschland 70 bis über 70 Jahre alt sind, ist mein Erstaunen verständlich. Ich muss mich an meine Erfahrungen im Iran besinnen und wieder die Gegebenheiten in meinem Gedächtnis aufrufen. Ein wichtiger Faktor bei der Entstehung der koronaren Herzerkrankung ist der Stress. Das alltägliche Leben im Iran und speziell in Teheran kann so zermürbend sein, dass koronare Bypass-Operationen bei Patienten, die zwischen 40 und 50 Jahre alt sind, leider keine Rarität darstellen. Selbstverständlich kommen andere Faktoren, wie z.B. die Ernährung als Verursacher dazu, auffallend ist jedoch die im Vergleich zu Deutschland größere, alltägliche psychische Belastung. Maryam ist eine meiner Verwandten väterlicherseits und ist wie die meisten von ihnen in einer südöstlichen Provinz Irans geboren. Nach dem Gymnasium nahm sie an der von jedem Abiturienten befürchteten, landesweiten Aufnahmeprüfung iranischer Universitäten teil und bekam einen Studienplatz in der Krankenpflege. Im Gegensatz zu Deutschland besteht für die Krankenpflege ein fünfjähriges, sehr anspruchsvolles Hochschulstudium. Zu jener Zeit besuchte ich noch die gymnasiale Unterstufe in Teheran. Sie lebte in einem Studentenwohnheim und kam öfters an den Wochenenden zu uns. So entwickelte sich eine nähere Bekanntschaft. Nach dem Beenden der Universität war sie kurze Zeit als Krankenschwester tätig, entdeckte aber bald ihre Fähigkeiten in der Lehre und übernahm Dozenten-Funktionen. In den folgenden Jahren machte sie ein zusätzliches zweijähriges Hochschulstudium in Pädagogik und widmete sich anschließend vollständig der Lehre. Ihren Mann verlor sie nach einer banalen Magenoperation in Teheran und musste ihre beiden Söhne mit Unterstützung ihrer Mutter erziehen. Sie bekam später die Gelegenheit, in Kanada zu promovieren, verzichtete jedoch wegen der Vorwürfe ihrer eigenen Familie, sie würde ihre Söhne vernachlässigen, auf diese Gelegenheit und blieb weiterhin in Teheran. Nach anfänglicher Lehrtätigkeit in der Krankenpflege wechselte sie zu der medizinischen Fakultät einer Teheraner Universität und beteiligte sich dort an einem Sonderprojekt. Als ich ihr 2005 in Teheran begegnete, hatten wir gleich gemeinsamen Gesprächsstoff, da ich auch an einer deutschen Universität in der Lehre tätig war. Wir waren damals dabei, ein reformiertes Studium für Mediziner zu gestalten. Es liefen bereits Pilotprojekte an zwei deutschen Universitäten. Es ging um neue pädagogische Konzepte und um verstärkte Förderung der aktiven Beteiligung der Studenten an der Gestaltung des Unterrichts. Ich war überrascht, als sie mir berichtete, dass ein ähnliches Pilotprojekt in ihrer Arbeitsgruppe aufgestellt und an ihrer Universität eingeleitet worden ist. Ich bekundete mein Interesse und sie organisierte ein Treffen mit ihrem Vorgesetzten. Die …-Universität gehört zu den älteren Hochschulen Teherans und genießt einen guten Ruf. An der medizinischen Fakultät gibt es eine Abteilung für "Forschung und Erweiterung". Diese Abteilung wird von einem genialen iranischen Kollegen geleitet, einem Autodidakt, der aus Enthusiasmus und Überzeugung seine lukrative Arztpraxis in Teheran aufgegeben hat. Er leitet unterschiedliche Projekte: Modernisierung der medizinischen Ausbildung; Systematisierung der Tätigkeit der Allgemeinärzte und Entwicklung von Therapieleitlinien; pädagogische Schulung der Ärzte, die in der Lehre tätig sind bzw. sein möchten; Durchführung von Feldstudien zur näheren Untersuchung der medizinischen Versorgung auf dem Lande; Qualitätsmanagement in ausgewählten Krankenhäusern in Teheran. Die iranischen Medizinstudenten müssen nach der Beendigung des Studiums zunächst eine begrenzte Zeit für den Staat arbeiten, bevor sie ihre berufliche Karriere beginnen können. Der Vorgesetzte von Maryam hatte die kluge Idee, ausgezeichneten Medizinstudenten die Möglichkeit anzubieten, diese obligatorische Zeit in seiner Abteilung zu absolvieren. So hat er es geschafft, eine Gruppe begabter Köpfe um sich zu scharen. Er hat mit verschiedenen Hürden zu kämpfen, u.a. mit der traurigen Tatsache, dass langfristiges Planen aus organisatorischen Gründen im Iran vereitelt wird. Die staatlichen Krankenhäuser und medizinischen Fakultäten stehen unter direkter Kontrolle des Gesundheitsministeriums. In Teheran wird entschieden, wer als Krankenhausdirektor oder als Dekan arbeiten darf. Mit jedem Regierungswechsel bzw. mit Änderungen auf Ministerebene wird eine Lawine von Amtsneubesetzungen in Gang gesetzt. Fachliche Qualifikation spielt - wenn überhaupt - eine zweitrangige Rolle; im Vordergrund steht die Zugehörigkeit zu einer politischen oder ideologischen Bande. Für die Auserwählten wiederum kommt es in erster Linie darauf an, in ihrem Lebenslauf die entsprechenden Ämter führen zu können, was mit einer höheren Besoldung verbunden ist. So konnte ich zum Beispiel selbst erleben, dass in der Stadt … das staatliche Herzzentrum von einem Arzt geleitet wurde, der gerade seinen Facharzt in Notfallmedizin gemacht hatte und über keinerlei verwaltungstechnischen Erfahrungen verfügte. Sechs Monate später war dann infolge gewisser Änderungen im Gesundheitsministerium ein anderer Arzt an der Reihe. Unter solchen Umständen besteht kein Interesse bzw. keine Möglichkeit für eine längerfristige Planung. Jeder denkt ganz egoistisch nur daran, sein Schäfchen ins Trockene zu bringen. Dank seines unermüdlichen Einsatzes und Vermeidens der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Bande, hat der Vorgesetzte von Maryam bislang einige Jahre seine Position verteidigen können. Er ist aber nicht sicher, wie lange es noch gut gehen kann. "Den Erfolg muss man anders definieren. Es kommt in erster Linie darauf an, dass wir mit aller Beharrlichkeit für die erforderlichen Änderungen und Verbesserungen antreten." Will man in jenem korrupten System aufrecht arbeiten, muss man ständig mit Intrigen rechnen und in Kauf nehmen, ein Seiltänzer ohne Auffangnetz zu sein. Als ich erfahre, dass Maryam operiert werden musste, fallen mir zwei beunruhigende Tatsachen ein. Sie ist Mitte fünfzig. Im Iran wird man nach dreißig Jahren Tätigkeit berentet. Das bringt dem Betroffenen finanzielle Einbußen. Andererseits verzichtet man so auf den großen Erfahrungs- und Kenntnisschatz dieser Menschen, die zum Teil noch mindestens 10 Jahre beruflich aktiv sein können. 2008 hat ihr Vorgesetzter es geschafft, ihre Berentung unter Hinweis auf die von ihr geleiteten Projekte für zwei Jahre hinauszuschieben. Sie machte sich bei unserer letzten Begegnung in Teheran diesbezüglich große Sorgen. Beide Söhne studieren an der privaten Universität ("Freie Universität") in Teheran, was eine Menge Geld kostet. Die zweite Tatsache ist, dass die Unterschiede in der Krankenversorgung zwischen den privaten und staatlichen Heilanstalten im Iran gravierend sind. Um gute ärztliche und pflegerische Versorgung zu erhalten, wird man gezwungen, sich in einem privaten Krankenhaus behandeln zu lassen. Das Geld regiert, und zwar mit offener, erbarmungsloser Brutalität. Dem Chirurgen muss man "unter dem Tisch" eine unterschiedlich festgesetzt Summe überreichen, bevor man von ihm als Belegarzt zu einem geplanten Eingriff überwiesen wird. Dieses Einkommen der Ärzte wird selbstverständlich nirgendswo erfasst. Mit einer einfachen Rechnung komme ich zu der Feststellung, dass sie nur wegen der Benutzung des Krankenhausbettes pro Nacht eine Summe bezahlen muss, die einem Viertel bis einem Drittel ihres monatlichen Gehalts entspricht. Es hat halt den Charakter einer großen Bestrafung im Iran, wenn man krank wird. Und das ist nur ein Aspekt der sozialen Versorgung in diesem Lande, das anhand seiner Erdölverkäufe, ohne weiteres eine menschenwürdige öffentliche Patientenversorgung gestalten könnte. Trotz der massiven Eingriffe in das soziale Netz in Deutschland nach dem Zerfall des Ostblocks und im Rahmen der Neoliberalisierung wirkt ein Vergleich mit den iranischen Verhältnissen ernüchternd, entwürdigend und besonders schmerzhaft. Es kommt ja auch nicht von ungefähr, dass Iraner bereits in jungen Jahren einen Herzinfarkt erleiden.
Ganz kurz möchte ich zu meiner Person etwas erwähnen. Seit Jahren lebe ich in Deutschland und bin ärztlich tätig. Meine Eltern, inzwischen 70 bzw. 80 Jahre alt, leben im Iran, und ich möchte sie weiterhin besuchen dürfen. "Afsane" bedeutet Fabel, Märchen oder Legende. Und "Bahar" ist der Frühling, die frohe Botschaft, dass die Wurzeln trotz des Verlustes der Blätter im Herbst und trotz der klirrenden Kälte im Winter intakt sind und das Leben weitergeht. So ist "Afsane Bahar" zustande gekommen. Erwarten Sie nicht, dass ich ein neutraler, unparteiischer Beobachter sein werde. Nein, ich habe so viele schmerzenden Narben im Gesicht, auf dem Rücken, auf den Fußsohlen und Händen und eine Vielzahl von noch hässlicheren inneren Wunden, die man nicht sehen kann, so dass Neutralität ein Fremdwort sein wird. Ich werde jedoch versuchen, fair zu bleiben. "Bilder gegen den Krieg. Momentaufnahmen aus dem Iran" von Afsane Bahar wird fortgesetzt. Die bisher veröffentlichten Teile finden sich unter: Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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