Bilder gegen den Krieg. Momentaufnahmen aus dem Iran (Teil 8): Zeitreise 1Von Afsane Bahar; 14. Oktober 2009
Ein Tag, an dem die Liebkosung das geringste Lied ist, Ein Tag, an dem jedes Ausgesprochene Lieben bedeutet, Ein Tag, an dem die Melodie jedes Wortes Leben darstellt, Ein Tag, an dem du kommst, Und ich sehne mich nach jenem Tag,
Letzte Woche erhielt ich einen dicken Briefumschlag aus Teheran. Er enthielt einen längeren Brief. Es handelte sich um eine besondere Art der Darstellung der Stadt Teheran und einiger ihrer Bewohner. Wie üblich habe ich bestimmte Namen geändert bzw. diese im Text mit drei Punkten gekennzeichnet, um den Verfasser zu schützen. Außerdem habe ich wieder eine sinngemäße Übersetzung vorgenommen und meinen eigenen Schreibstil benutzt. Liebe Afsane, Als ich mir vornahm, dir einen Brief zu schreiben, hatte ich keinen vorgedachten Text im Kopf. Das einzige was ich hatte, war die Idee, die Schilderung der Entwicklung Teherans mit der Darstellung meines Lebenslaufs zu verbinden. Ich werde jetzt einfach loslegen und mich auf die Zeitreise begeben. Ich werde immer wieder meine Augen schließen und mich von den unerwarteten Bildern der Erinnerung leiten lassen. Genauso wie du, werde ich mich überraschen lassen. Also, wenn du dich zurückgelehnt hast, kann die Reise beginnen. Teheran, Herbst 1346 (1967). [An den Umzug aus … nach Teheran kann ich mich nicht erinnern. Das ist mir sehr rätselhaft, denn eigentlich war ich damals alt genug, um jetzt Erinnerungen wachrufen zu können.] Wir haben unser Miethaus in Teheran bezogen. Es handelt sich um ein zweistöckiges Gebäude mit einem kleinen Hof. Mitten im Hof befindet sich ein Wasserbecken, maximal 60 cm tief, mit bläulichen Kacheln. Es gibt insgesamt zwei Beete in diesem Hof, mit zwei Kieferbäumen, deren Blätter ich nur dann sehen kann, wenn ich den Kopf weit nach hinten neige; Blumen sind nicht zu sehen. An den beiden südlichen Ecken des Hofes befinden sich zwei kleine Räume. Der eine Raum dient als Abstellkammer, der andere ist eine Toilette. In alten iranischen Häusern befinden sich oft die Toilette und die Küche außerhalb des Wohnbereiches. Die Lichtschalter der Räume sind an der Außenwand. Ich bin nicht groß genug, um direkt an diese Schalter dranzukommen und benutze meine Pantoffeln aus Kunststoff als verlängerte Hand. An ihrer Sohle sind nämlich Vertiefungen vorhanden und diese können sich an den Hebel des Lichtschalters einhaken. Mit dem anderen Raum werde ich später eine üble Begegnung machen. Einige Monate später werde ich nämlich mit meinem älteren Bruder streiten, wobei es richtig zu Handgreiflichkeiten kommen und mein Bruder eine Augenbrauenverletzung davontragen wird. Daraufhin muss ich als Strafe mehrere Stunden in der Dunkelheit der kalten Nacht hinter der verschlossenen Tür in jenem Abstellraum verbringen. Glücklicherweise kenne ich neben dem schwarzen Dämon auch die weiße Fee. Sie wird mir wie immer beim Aufkommen von Ängsten beistehen und mich vor dem schwarzen Dämon und den anderen bösen Geistern (Dschinn) schützen. Im Gegensatz zu den Menschen ist auf sie immer Verlass, auf meine gute weiße Fee. Vor dieser Toilette habe ich keine Angst. In … war die Toilette für mich sehr groß und ich hatte Angst, hineinzufallen, wenn ich mich hinhockte. Wie im Iran üblich gibt es eine spezielle Wasserkanne zum Sich-Saubermachen. Bald werde ich nicht mehr die Älteren zum Putzen herbeirufen müssen und werde für eine begrenzte Zeit jedes Mal mit einer Ein-Rial-Münze belohnt werden, damit ich schneller die Sauberkeit beherrsche. In dem gesamten Haus gibt es nur kaltes Fließwasser. Im Winter ist es sehr unangenehm, auf die Toilette zu gehen. Auf dem Boden des Hofes ist auch eine kleine Tür aus Metall zum Hochklappen zu finden. Diese Tür führt zu einem unterirdischen Raum, der vor der Versorgung des Hauses mit städtischem Leitungswasser als Wasservorrat, als Zisterne, gedient hat. Jetzt ist der Raum mit Erde zugeschüttet, damit keiner versehentlich hineinfallen kann. Vorrichtungen mit ähnlicher Funktion, diesmal jedoch als Metalltank auf dem Dach, werden noch lange in der wucherartig wachsenden Stadt Teheran in Gebrauch sein, da oft außerhalb des vorgeschriebenen Baugebietes Häuser aufgestellt werden, wo noch keine Wasserleitungen gelegt worden sind. Von dem Hof aus kann man durch eine Metalltür auf die Straße gehen. Das Gebäude ist halt ein Eckhaus. Drei Stufen führen vom Hof aus zum Wohngebäude. Man kommt zunächst in eine Diele hinein. Links und rechts sind insgesamt vier Türen zu finden. Die ersten drei Türen führen zu kleinen Zimmern. Das eine Zimmer dient als Garderobe. Hier befinden sich Koffer und Metalltruhen, Schränke fehlen. Das zweite und dritte Zimmer werden in den warmen Monaten als Wohn- und Schlafzimmer benutzt. In den kalten Jahreszeiten verlagert sich das Leben in das obere Stockwerk. Die vierte Tür führt über mehrere Stufen absteigend zur Küche. Gekocht wird auf Petroleumkochern. Am Ende der Diele, vom Hof ausgesehen, ist eine Metalltür, der Haupteingang des Hauses. Eine Treppe führt zum oberen Stockwerk mit drei Zimmern. Zwei Zimmer dienen zum Empfang von Gästen, das dritte Zimmer wird hauptsächlich im Herbst und im Winter gleichzeitig als Wohn- und Schlafzimmer benutzt. Geheizt wird mit aus England importierten Petroleumöfen, die "Aladin" genannt werden. Jahrzehnte später, trotz Öl- und Gas-Heizungen, werden diese Petroleumöfen, die man längst für abgeschrieben gehalten hat, wegen Gas- und Stromausfälle in Teheran wieder Gebrauch finden und meine Mutter wird mit ihrer Ansicht triumphieren, dass man in diesem Land nichts wegschmeißen darf. Bald gehört es zu meinen Aufgaben, als fünfjähriges Kind Petroleum zu kaufen. Hierzu wird mir ein Blechbehälter in die Hand gedrückt, der ca. fünf Liter fasst. In der näheren Umgebung des Hauses sind alle nötigen Läden und Einrichtungen zu finden. Es sind kleine Läden mit jeweils einer bestimmten Warensorte: Obst und Gemüse; Rind- und Schafsfleisch; Eier und Hühnerfleisch; Bäckerei; Apotheke; Schreibwaren; Stoff und Nahtmaterial. Bald werde ich lernen, täglich frische Lebensmittel zu besorgen. Der Fleischladen besitzt keinen Kühlschrank. Die gelieferte Ware wird sowieso bis zum Mittag verkauft sein. Zu dem Laden für Eier und Hühnerfleisch gehe ich ungern. Hier kann man sich die in Käfigen gehaltenen Hühner aussuchen, die dann anschließend vor den Augen des Käufers geschlachtet werden. Neben diesen Läden gibt es auch immer wieder Händler, die mit ihren Holzkarren durch die Straßen ziehen und vor allem Obst und Gemüse anbieten. Meistens wird der Karren durch einen Esel gezogen. Abgesehen von ländlichen Gebieten und manchen Kleinstädten, werden diese Karren im Laufe der nächsten Jahrzehnte nicht mehr auf der Bildfläche zu sehen sein. Die Motorisierung wird auch hier Einzug halten. Es gibt auch Händler mit kleineren Schubkarren. Sie verkaufen Spielzeuge, Luftballons und Kaugummi. Gelegentlich sind auch Kästen auf Rädern unterwegs, mit Gucklöchern. Gegen Bezahlung darf man hineinschauen und sich Bilder aus iranischen Märchen oder von europäischen Städten ansehen. Wenn ich Fett oder Margarine kaufen möchte, muss ich immer ein Gefäß mitnehmen, denn beide werden aus größeren Behältern angeboten. Milch und Joghurt gibt es bereits in Gläsern bzw. Flaschen. Neben Papiertüten ist Zeitungspapier ein beliebtes Material zum Einpacken der Lebensmittel. Es gibt natürlich noch keine Plastikeinkauftüten in den Geschäften. Es gibt zwei Friseurläden in der näheren Umgebung. Der eine ist altmodisch und wird von einem älteren Mann geführt. Er ist gleichzeitig für die Behandlung von Verstauchungen und Verrenkungen zuständig. Zweimal werde ich später wegen meines Sprunggelenkes von ihm behandelt werden. Mein Vater muss ihm jedes Mal zwei Eier und Stoffbinden bringen. Aus den Eiern und Kräutern mischt er eine besondere klebrige Paste zusammen, die auf die Binden aufgetragen wie ein Gipsverband wirkt. Er beherrscht sein Handwerk sehr gut. Zum Haareschneiden gehen wir allerdings in den anderen Friseurladen. Für uns Kinder gibt es wegen unserer Körpergröße extra einen Hocker, der auf den Friseurstuhl gestellt wird. Ca. fünf Minuten Fußweg entfernt befindet sich das öffentliche Bad. Im Gegensatz zu den traditionellen iranischen Badehäusern gibt es hier Einzelzellen mit Duschen. Jede Zelle besteht aus einem Vorraum zum Umkleiden und einem Waschraum. Bevor ein neuer Badegast den Waschraum betritt, wird von einem Angestellten zur Desinfektion Kaliumpermanganat gesprüht. Die Farbe liebe ich, den Geruch nicht so sehr. Immer ca. eine Stunde bevor wir das öffentliche Bad benutzen, muss ich hinlaufen und Karten kaufen, damit die Familie nicht unnötig warten muss. Das Brot wird täglich oder jeden zweiten Tag frisch gekauft. Gebacken wird in einem Steinofen, der mit Gasöl betrieben wird. Der Duft des frischen Brotes ist betörend und dessen Wärme, vor allem im Winter, herrlich und beruhigend. Für die Leute, die sich nicht anstellen wollen, gibt es Lieferanten auf Fahr- oder Motorrädern. Die Hauptattraktion für meine Geschwister und mich ist ein Kino. Wir müssen ca. 15 Minuten laufen, um das Kino zu erreichen. Leider gibt es nur selten Kinderfilme. Wenige Jahre später wird sich das Angebot an Kinderbüchern und -filmen Dank einer staatlichen Organisation (Zentrum für die geistige Erziehung der Kinder und der Jugendlichen) deutlich verbessern und es wird in Teheran jährlich einen internationalen Kinderfilmfestival geben. In der näheren Umgebung unseres Miethauses gibt es keinen Spielplatz. Gespielt wird auf dem Hof oder auf der Straße. Ab und an gibt es Fußballspiele gegen die Kinder aus anderen Straßenzügen. Zur Markierung der Tore werden einfach jeweils zwei Ziegelsteine benutzt. Es gibt immer wieder Streit darüber, ob der Ball innerhalb dieser Markierung das Tor passiert hat. Für die obere Begrenzung gibt es klare Richtlinien: für den Torwart muss der Ball noch erreichbar sein, wenn er die Arme voll hochsteckt. Es gibt bei uns noch keinen Fernseher. Stattdessen liest uns unsere Mutter immer wieder Geschichten vor. Besonders beliebt sind die Texte von dem türkischen Autor Aziz Nesin. Er kann so humorvoll Geschichten erzählen. Jahre später werde ich feststellen, dass es sich um Gesellschaftskritik handelt. Für uns Kinder sind sie halt nur lustige, verzaubernde Erzählungen. Teheran, Winter 1346 (1967). Ich erlebe zum ersten Mal in meinem Leben den weißen Zauber, zart wie Samt, sauber und rein. Für meinen Vater ist es kein glückliches Ereignis, denn er muss das Dach bearbeiten. Zunächst wird er den Schnee wegschaufeln und einfach auf die Straße hinunterwerfen. Anschließend kommt eine steinerne Walze in Gebrauch. Die Dächer in Teheran sind entweder mit wellig geformten Blechplatten gedeckt oder mit einem Gemisch aus Stroh und Lehm. Im letzteren Fall muss die Oberfläche immer wieder glatt gewälzt werden, um Undichtigkeiten zu vermeiden. Zwei Jahre später werden große Teile des Putzes an der Decke des Gästezimmers stürzen, da nicht rechtzeitig diese Isolierung gewälzt worden ist. Teheran, Herbst 1347 (1968). Auf meinen Bruder bin ich besonders eifersüchtig. Seit einigen Tagen besucht er die Grundschule. Meine jüngere Schwester und ich müssen zu Hause bleiben. Zum Ausgleich dieser Ungerechtigkeit fange ich an, das Alphabet zu lernen. Die Rivalität mit meinem Bruder wird noch lange Jahre erhalten bleiben. Verschattet werden die Tage durch den Tod meiner Großmutter väterlicherseits. Sie hat angeblich in meinen ersten Lebensjahren bei uns gelebt. Erinnern kann ich mich nicht an sie und bleibe von ihrem Tode relativ unberührt. Ich freue mich sogar, dass mein Vater zur Beerdigung in die Stadt … fliegen muss. Immer wenn er Teheran verlässt, übernachtet eine Verwandte bei uns, damit wir nicht alleine sind. Nastaran (wilde Rose) liebe ich innig. Sie ist mehrere Jahre jünger als mit meine Mutter und mit ihr in … aufgewachsen, studiert in Teheran Medizin und gilt für mich als "meine Tochter". Diese Elternschaft hat sie wohlwollend akzeptiert, was mich sehr glücklich macht. Zu der Trauerveranstaltung in Teheran wird auch Mas’ud einreisen. Er studiert Medizin in Schiras. Jedes Mal, wenn er uns besucht, bringt er uns Kleinigkeiten mit. Als die Gäste in schwarzen Kleidern erscheinen, bringt er uns Kinder zum Bummeln aus dem Haus. Wir laufen zu der Simetri-Straße [Si bedeutet dreißig und gibt hier die Straßenbreite an.] Es wimmelt von Menschen und Autos. Die Taxis sind alle schwarz gefärbt. Entweder handelt es sich um die Marke Fiat, relativ kleine Fahrzeuge, oder um Mercedes Benz, die sogenannten 190er. Wir werden mit Spielzeugen beschenkt. Die Stadtbusse sind der Marke Leyland aus Groß-Britannien. Es macht immer Riesenspaß im oberen Geschoß ganz vorne hinter der Frontscheibe zu sitzen. Dort hat man die beste Sicht und kann die Fußgänger und das Leben auf der Straße gut beobachten. Die Fahrpreise sind auffallend niedrig. Einige Jahre später wird die Stadtverwaltung versuchen, die Preise zu erhöhen. Es wird Demonstrationen und gewalttätige Proteste nach sich ziehen. Teheran, Herbst 1348 (1969). Gestern haben wir unser neues Haus im Norden Teherans bezogen. Einige Jahrzehnte später, wird dieses Gebiet nicht mehr zu den nördlichen Stadtbezirken gehören, denn die Stadt wächst krebsartig in allen vier Himmelsrichtungen. Es ist mir nicht ganz heimlich, hier zu wohnen. Es gibt noch viel Bauland in unserer Straße und im benachbarten Gebiet. Am Ende der Straße befindet sich ein Wasserkanal, einer von den vielen Kanälen, die vom Norden nach Süden ziehen. Wenn ich Brot oder Lebensmittel besorgen möchte, muss ich über eine Brücke gehen. Am anderen Ende bekomme ich immer große Angst. Dort ist ein allein stehendes Haus. Der Besitzer hat sich zum Schutz vor Einbrechern einen Schäferhund angeschafft, der wachsam patrouilliert. Vor Hunden habe ich Angst. Einmal wegen ihrer Bisse und außerdem wegen ihrer besonderen Charaktereigenschaft: sie gelten aus religiösen Gründen als unrein und sollten deshalb nicht berührt werden. Diese Hundephobie werde ich noch viele Jahre mit mir tragen müssen. Es gibt jedoch keinen Weg, die Begegnung mit diesem Tier zu vermeiden. Im neuen Haus gibt es warmes Wasser, das von einem mit Petroleum arbeitenden Heizer geliefert wird. Die Toilette und das Bad sind auch im Wohngebäude, was für eine Wonne. Das Gute in diesem Stadtviertel ist, dass bald ein Park gebaut wird, wo wir Kinder einen eigenen Spielplatz haben werden mit Rutschen, Schaukeln und Karussell. Außerdem werden ein kleiner Fußballplatz, Volleyball- und Basketballplatz vorhanden sein. Ich werde bald zusehen können, wie die jungen Bäume wachsen und ihr prächtiges Blattwerk wie einen Schirm ausbreiten. Teheran, Frühling 1349 (1970). Wir Kinder freuen uns sehr. Seit gestern steht ein wunderbares Stück in unserem Wohnzimmer, es handelt sich um einen Fernseher, der wie eine Kommode aussieht, wenn seine zweiflügelige Tür verschlossen ist. Das Bild ist in Schwarz-Weiß. Es gibt insgesamt zwei Programme, den ersten und den zweiten Kanal. Den zweiten Kanal kann man in vielen Landesteilen noch nicht empfangen. Allerdings ist das Fernsehen mit Hürden versehen. Wenn wir von der Schule nach Hause zurückkommen, müssen zunächst die Hausaufgaben erledigt werden. Dann kommt die wahre Tortur: es gibt ein Buch von Imam Ali, unserem ersten Imam, dem Schwiegersohn des Propheten. Der Text enthält viele schwierige Wörter. Jeden Nachmittag ist ein Diktat aus diesem Buch an der Reihe. Erst danach dürfen wir Kinder fernsehen. Abends werden Programme für die Erwachsenen ausgestrahlt, die wir nicht sehen dürfen.
Teheran, Sommer 1350 (1971). Wir besuchen unseren alten Wohnort. Unser Miethaus existiert nicht mehr. Der Besitzer, ein Vetter meines Vaters, hat inzwischen das alte Gebäude abreißen lassen. Entstanden ist ein dreistöckiges Haus, wobei der Hof praktisch verschwunden ist. Die beiden Kieferbäume hat man abgesägt. Das alte Straßenbild ist nur in Zügen wieder zu erkennen. Bauland ist in Teheran sehr teuer, was dazu führt, dass die Bauten in die Höhe wachsen. Unsere Straße kommt mir sehr klein vor und ich wundere mich darüber, dass die Strecken von unserem ehemaligen Haus zu den verschiedenen Läden wesentlich kürzer erscheinen. Der Fleischladen und die Lebensmittelläden haben sich ebenfalls verändert. Große Kühlfächer mit Glastüren haben Einzug gefunden. Die schnellen Änderungen des Stadtbildes in Teheran verursachen ein Gefühl der Fremdheit. Zwanzig Jahre später werde ich in der wunderschönen deutschen Stadt … studieren. Diese Stadt werde ich knapp 15 Jahre nach dem Beenden meines Studiums wieder besuchen. Im Gegensatz zu Teheran werde ich mich nach diesen vergangenen Jahren zuhause fühlen, da die Stadt wieder zu erkennen ist und die alten Bilder noch lebendig sind. Teheran, Herbst 1351 (1972). Ich habe die Aufnahmeprüfung an der Deutschen Schule Teheran bestanden. Die Prüfung ist in den Tageszeitungen bekannt gegeben worden. In der Anzeige ist erwähnt worden, dass Stipendien vergeben werden und dass für ein späteres Universitätsstudium gesorgt wird. Für uns ist das eine wunderbare Gelegenheit. Im Iran kann man sich durch eine gute Ausbildung gesellschaftlich hoch entwickeln. Ein ähnliches Programm hat man angeblich bereits in Kairo und in Kabul durchgezogen. Iranischen Schülern wird ab dem fünften Schuljahr Deutsch beigebracht. In der fünften Klasse haben wir mit den deutschen Kindern nur im Sport gemeinsamen Unterricht. In der sechsten Klasse wird noch Mathematik hinzukommen. In der elften Klasse werden wir soweit sein, dass abgesehen von den drei Sprachen (Persisch, Deutsch und Englisch) nur noch gemischte Klassen bestehen werden. Unterrichtet wird nach den Lehrvorschriften des Freistaates Bayern. Im Nachhinein wird es mir klar werden, wieso dieses Projekt in Teheran eingeführt wird. Es sollen iranische Frauen und Männer mit besonderer Erziehung auf die Bühne treten, um die Interessen der deutschen Industrie und Politik im Iran zu vertreten. 1979 werden nämlich ca. viertausend deutsche Unternehmen im Iran aktiv sein. Geplant ist der Aufbau einer deutsch-iranischen Universität in der Provinz Gilan am Kaspischen Meer. Die Ausbildung soll nach dem Abitur nahtlos an dieser Universität fortgeführt werden. Diese Pläne werden allerdings 1979 unterbrochen werden. Die bis dahin vollzogene geistige Entwicklung wird jedoch nicht wirkungslos bleiben. Ich werde mein späteres eigenständiges Denken, meine hinterfragende Skepsis und mein Selbstwertgefühl dieser Schule und ihren deutschen Lehrern zu verdanken haben. Sie geben uns Schülern das Gefühl, wertvolle Menschen zu sein, die im Stande sein sollten, selbständig nach Problemsuchungen zu suchen. Im Unterschied zu den iranischen Schulen wird auf das Einpauken wenig Wert gelernt, stattdessen lernen wir das logische Denken. Unser erster Deutschlehrer ist Herr Kocher, ein einfühlsamer Mensch mit bereits gesammelten Erfahrungen in Umgang mit ausländischen Schülern. Nach einigen Monaten werden die Schuldirektoren, aus deren Schulen die Schülerinnen und Schüler unserer Klasse stammen, in die Deutsche Schule Teheran eingeladen. Sie sollen erfahren, wie mit ihren früheren Schützlingen verfahren wird. Auch mein alter Schuldirektor ist dabei. Ein Mann mit Zukunftsplänen, der in Paris Pädagogik studiert hat. Er legt viel Wert auf Sport und Schönschrift. Jeden Abend müssen alle Schüler seiner Grundschule nach seinen Mustern fünf Zeilen in Schönschrift niederschreiben. Dieser außergewöhnliche Mensch hat hierzu spezielle Formblätter entwickelt, die ihm täglich vorgelegt und von ihm bewertet werden. Um die Deutsche Schule zu erreichen, muss ich relativ lange laufen. Die erste Strecke endet auf der "Alten Straße nach Schemiran". Die Straße wird nach 1979 "Dr. Ali Schariati" heißen, genannt nach einem der ideologischen Väter der Islamischen Bewegung. Dort angekommen, nehme ich entweder ein Taxi für fünf Rial oder einen Bus für zwei Rial. Üblicherweise wird jedes Taxi von vier Fahrgästen in Anspruch genommen. Will man der alleinige Fahrgast sein, muss man die entsprechende zusätzliche Summe hinlegen. Die Fahrt endet an der "Yachtschal-Straße". Hier fängt die zweite Laufstrecke an. Im kalten Winter ist es manchmal eine Qual, zur Schule zu gehen. Das erste, was die Schüler machen, die wie ich nicht das schuleigene Fahrservice in Anspruch nehmen, ist das Stürmen zu den Heizkörpern im Klassenraum. Vor allem die Füße müssen aufgewärmt werden, bevor es weitergehen kann. Die Schule befindet sich in einer alten Villa, die früher als Sommerresidenz einer ausländischen Botschaft gedient hat. Im nördlichen Bereich befindet sich das alte Gebäude. In anderen Teilen sind einstöckige Bauten entstanden, die als Klassenzimmer dienen. Der Kindergarten, die Grundschule, die Realschule und das Gymnasium befinden sich auf demselben Gelände. Südlich, gegenüber der Schule gelegen, befindet sich ein Buchladen, der deutsche Bücher und Schreibwaren anbietet. Für uns ist dieser Buchladen wie die Tür zu einer anderen Welt. Ca. 10 Minuten Busfahrt von der Schule entfernt, gibt es einen Sportklub. In diesem Gebäude kann man schwimmen, Gymnastik treiben, Rollschuh laufen sowie Bowling und Billard spielen. Unser Sportunterricht findet dort statt. Aus welchen Gründen auch immer, wird man sich bald entschließen, auf unserem Schulgelände ein eigenes Schwimmbad und eine eigene Sporthalle zu bauen. Es handelt sich um Zelten und Metallkonstruktionen, die aus Deutschland importiert werden. Außerdem werden weitere Jahrgänge iranischer Schüler hinzukommen, so dass die Klassenräume durch Fertigbauten ergänzt werden müssen. Teheran, Winter 1352 (1973). In diesem Jahr fährt unsere Klasse zum ersten Mal Ski. Die Ausrüstung wird von der Schule zur Verfügung gestellt. Die Fahrt führt nach Abe-e-Ali, einem hügeligen Gebiet östlich von Teheran. Wir verlassen Teheran und fahren eine schöne Strecke nach Osten durch unbebautes Land. In den nächsten Jahren werden sich die Stadtgrenzen weiter nach Osten verlagern. Außerdem werden Wochenendhäusern entstehen, da immer mehr Teheraner an jeder sich anbietenden Möglichkeit die Luft verschmutze, mit Autos bis zum Ersticken beladene Stadt kurzfristig hinter sich lassen werden. Die Natur wird dabei gnadenlos zerstört werden. Die Menschen sind halt oft kurzsichtig und bedenken nur ihren momentanen Gewinn. Teheran, Herbst 1353 (1974). Meine erste große Liebe ist da, unerwartet und voller Hoffnung, viel versprechend und zum Wandel aufrufend. Es treten neue Fragen und Widersprüche auf. Bislang als Primus nur auf den Schulunterricht konzentriert, fange ich an, alte und zeitgenössische persische Poesie und Prosa zu verschlingen. Meine ersten Liebesgedichte werden verfasst. Ein anderer Aspekt, der Widersprüche heraufbeschwört und innere Spannung sowie Unruhe erzeugt, ist meine religiöse Erziehung. Fröhlichkeit, Lachen und Freude haben einen sündhaften Charakter, einen schmerzenden, bitteren Nachgeschmack. Ich bin hin und hergerissen zwischen der lebensbejahenden Liebe und der das diesseitige Leben gering schätzende, als zweitrangig betrachtende Religion. Die Last der niederschmetternden Widersprüche kann ich nur einige Monate aushalten. Die erste Liebe geht in Brüche. Das ernsthafte, emsige Streben nach guten Schulzensuren hat mich wieder voll im Griff. Hinzukommt die Tatsache, dass wir einen neuen Lehrer für den Persisch-Unterricht und Religion bekommen. Einige Monate später werden auch bei uns Schülern die ersten zaghaften Auseinandersetzungen mit gesellschaftlichen Problemen anfangen. Islamische und linke Gruppierungen sind gegen das Schah-Regime am Werke. Es geht hauptsächlich um den bewaffneten Kampf, um die Erzeugung von öffentlicher Aufmerksamkeit durch Terrorakte, um die Gewinnung der Herzen der Bevölkerung auch im ländlichen Gebiet. Die Angst vor dem iranischen Geheimdienst ist überwältigend. Ich kaufe an einem Nachmittag auf dem Weg nach Hause ein religiöses Standardwerk. Als Schiit muss ich mir einen Ayatollah als religiösen Führer aussuchen. Ich entscheide mich für Ayatollah Khoii, der sich politisch neutral verhält. In seinem Buch werden unterschiedliche Fragen, die diverse Lebensbereiche betreffen, behandelt. Es umfasst die Art und Weise, wie man die Toilette betreten soll, genauso wie das Familien- und Erbrecht, Sodomie und Abfall von der Religion. Zuhause angekommen gibt es ein großes Theater, einen Aufschrei tiefer Entrüstung und Enttäuschung. Es ist eine Blamage. Meine Eltern befürchten, dass der Kauf dieses harmlos erscheinenden Buches der erste Schritt zur politischen Tätigkeit sein könnte. Das Buch wird in den Keller verbannt, als Schandfleck schön versteckt vor den Augen anderer Menschen. Der erste Versuch, einen eigenständig gewählten Weg zu bestreiten, wird konsequent im Keime erstickt. Die viel versprechende schulische und die erhoffte berufliche Laufbahn dürfen auf keinen gefährdet werden. Die Eltern haben bereits sehr viel investiert und es muss mit mir in kontrollierten, überschaubaren Bahnen weitergehen. Viele Jahre später, 2005, werde ich bei den Vorbereitungen des Umzugs meiner Eltern jenes Buch im Keller wieder erkennen. Seine Lektüre ruft tiefes, schmerzhaftes Bedauern, aber auch viel verzweifeltes Lachen hervor, über das Verschütten menschlicher Gefühle und Gedanken mit dem die Wissenschaft scheuenden, rückwärts gerichteten geistigen Ballast. Teheran, Winter 1354 (1975). Skifahren ist wieder angesagt. Unser ganzer Jahrgang, der aus vier oder fünf Klassen besteht, fährt nach Disin. Disin ist ca. zwei Stunden Autofahrt von Teheran entfernt. In diesem gebirgigen Gebiet sind Hotelkomplexe und Bungalows gebaut worden. Die Skipisten sind erstklassig. Die Schule hat wieder den Schülern, die nicht über die entsprechende Ausrüstung verfügen, alles zur Verfügung gestellt. Es ist ein geselliges, abwechslungsreiches Beisammensein. Für wenige Tage gerät der schulische Eifer in den Hintergrund. In der klaren Luft der Berge kann der Geist aufatmen. Teheran wird nördlich von der Gebirgskette Albors eingegrenzt. Dreißig Jahre später werde ich, meine Liebe für Wandern und Bergsteigen in dieser wundervollen Landschaft entdecken und mich mit Verwunderung fragen, wieso ich während meiner Schulzeit die im Winter vom Schnee bedeckten Berge Teherans nicht bemerkt habe, obwohl diese dem Beobachter leicht ins Auge fallen. Das Zerstören der Natur wird in den kommenden Jahren stark zunehmen. Die nördliche Stadtgrenze wird mehr und mehr die Gebirgslandschaft einbeziehen und in Bauland umwandeln. Teheran, Herbst 1355 (1976). Die politischen Aktivitäten gegen das Schah-Regime setzen sich fort. Die Gerüchte über das Foltern politischer Häftlinge nehmen zu. Viele Jahre später werden nach dem Regime-Wechsel die Gefängnisse wieder mit politischen Aktivisten überfüllt sein. Die Wände der Gefängniszellen werden wegen Scham und Ekel erzeugender Szenen taub und blind werden. Die Eingekerkerten werden verstummen. Draußen geht das Leben weiter. Die westlich orientierte Lebensweise triumphiert. Die rückwärts gerichtete Vorstellung von Moral und Lebenssinn wehrt sich zunehmend effektiv und fortschreitend. Es entsteht ein explosives, soziales Gemisch. Während das Leben in einigen Landesteilen den europäischen Verhältnissen entspricht, kämpfen in anderen Gebieten die Menschen mit den primitivsten Problemen des Überlebens. Die Jugendlichen beschäftigen sich hauptsächlich mit Sport und Musik. Das Lesen von Büchern ist nicht gängig. Als braver Schüler versuche ich, mich auf das schulische Leben zu konzentrieren und mich durch andere Wünsche und Interessen nicht ablenken zu lassen. Die häusliche Erziehung ist überwältigend. Der Leib der Stadt Teheran wird immer wieder aufgerissen. Erdgasleitungen, Strom- und Telefonkabel werden verlegt. Es entstehen neue Stadt-Autobahnen, die Nord-Südachse sowie die West-Ost-Achse nehmen an Größe ständig zu. Die deutsch-, englisch- und französischsprachigen ausländischen Schulen sind nicht mehr die einzigen Institutionen, die gemischten Unterricht anbieten. Es sind iranische Gymnasien entstanden, an denen auch Schülerinnen und Schüler erstmals gemeinsam am Unterricht teilnehmen. Die Spekulation mit Grund und Boden sowie mit Immobilien blüht, und gleichzeitig auch die Korruption. Es kommt darauf an, möglichst schnell Geld zu machen. Bauvorschriften und technische Untersuchungen werden durch Bestechung umgangen. Diese gesellschaftliche Krankheit wird in den nächsten Jahrzehnten weiterhin existieren. Immer wieder werden die Menschen mit ihrem Leben die fahrlässige Bauweise bezahlen müssen. Teheran, Sommer 1357 (1978). Die Jahre zwischen 1975 und 1978 müssen entweder irgendwie monoton vergangen sein. Oder sie waren so belastend, dass ich sie erfolgreich verdrängt habe. Ich habe keine besonderen Erinnerungen, wenn ich die Augen schließe und innerlich zurückblicke. Der Sommer 1357 ist ein heißer Sommer. Nicht dass die Temperaturen außergewöhnlich hoch wären. Nein, es sind die gesellschaftlichen Umwälzungen, die sich ankündigen. Es hat sich eine gewisse Zeremonie, ein gewisses Ritual entwickelt: werden bei politischen Demonstration Menschen getötet, so ergeben sich der herkömmlichen Trauertradition entsprechend am 7. und am 40. Tag nach dem Tode dieser Menschen neue Trauerveranstaltungen und Demonstrationen. Der Kreislauf wiederholt sich, wenn diese Trauerveranstaltungen politischen Charakters ebenfalls gewaltsam aufgelöst werden. Der Schah versucht durch Aufstellung neuer Regierungen dem gesellschaftlichen Prozess entgegen zu wirken und die Änderungen in geordnete Bahnen zu leiten. Er spricht von "dem offenen politischen Raum". Die neuen Regierungen dauern jeweils nur wenige Monate. Einige Monate später werden öffentliche Ämter und Banken zunehmend in Brand gesteckt werden und Straßenschlachten das Stadtbild ändern. Teheran, Herbst 1357 (1978). Unsere Schule hat ihre Arbeit wieder aufgenommen. Der reguläre Unterricht kann nur einige Wochen fortgesetzt werden. Es findet eine Verlagerung der Unterricht in Privathäuser statt, die von iranischen und deutschen Familien der Schule zur Verfügung gestellt werden. Das schulische Leben ist von der aktuellen Politik überschattet. Es dauert nicht lange, bis aus Sicherheitsgründen auf den Unterricht in den Privathäusern verzichtet werden muss. Immer mehr deutsche Mitschüler verlassen mit ihren Familien das Land. Die notgedrungen aufgetretenen Schulferien benutze ich zum Lesen politischer Literatur. Es handelt sich vorwiegend um Schriften religiösen Hintergrundes. Vereinzelte Übersetzungen befinden sich auch darunter, so zum Beispiel einige Werke von Franz Fanon. Zusammen mit einigen meiner Klassenkameraden suchen wir unseren alten Persisch- und Religionslehrer auf; es sind aus ungeklärtem Grund keine Klassenkameradinnen dabei. Trotz der schulischen Erziehung ist die religiöse immer noch bestimmend. Die Wertschätzung für das eigene Denken und Beurteilungsvermögen ist noch nicht ausgereift. Wir versuchen unseren Zweifel, unsere Unsicherheit und unsere innere Zerrissenheit zu überwinden, in dem wir nach einem den Weg zeigenden Vater, nach einem geistigen Führer suchen. Teheran, Winter 1357 (1979). Der schulische Eifer gewinnt. Anstelle einer Beteiligung an den gesellschaftlichen Änderungen entschließe ich mich, das Land zu verlassen. Die Deutsche Schule Teheran ist seit Wochen geschlossen. Es ist nicht klar, wann und ob der Unterricht wieder aufgenommen werden kann. Mitten im elften Schuljahr breche ich die Zelte ab und lande in Frankfurt. Dank der guten Beziehungen zwischen Deutschland und dem Iran muss ich in Teheran keine besonderen Vorkehrungen treffen. In Frankfurt bekomme ich ein Touristenvisum für drei Monate. Die Reise geht weiter nach …, wo ich mich nach gewissen anfänglichen Schwierigkeiten voll an dem Unterricht beteiligen kann. In den kommenden Jahren werde ich in dieser Stadt mein Abitur machen, mit meinem Studium beginnen und meine eigene Familie gründen. Ein neues Kapitel in meinem Leben beginnt. Teheran, Frühling 1359 (1980). Wegen eines Todesfalles in der Familie fliege ich Hals über Kopf nach Teheran. Die Trauerveranstaltungen halte ich irgendwie aus. Es interessieren mich mehr die Verschlechterungen der politischen Verhältnisse und die zunehmende Einschränkung der Freiheiten. Die Kulturrevolution hat angefangen. Die Büros anders denkender politischer Gruppierungen an den Universitäten werden gewaltsam aufgelöst. Liberale und linke Dozenten werden Opfer der Säuberungswelle. Anfang Mai 1980 kehre ich nach Deutschland zurück. Zu diesem Zeitpunkt, weiß ich noch nicht, dass ich meine Heimat erst 25 Jahre später wieder besuchen werde. Frankfurter Flughafen, Sommer 2005. Ich stelle mich in die Schlange vor dem Iran Air-Schalter. Einige in der Schlange schieben mit elektrischen Geräten voll beladene Wagen vor sich hin. Nur wenige Frauen tragen ein Kopftuch. Nach der üblichen Prozedur bekomme ich meine Karte und begebe mich auf die zweimalige Sicherheitskontrolle und erreiche anschließend die Halle, wo die Passagiere des Fluges nach Teheran vor ihrem Einlass in das Flugzeug warten. Unter ihnen befindet sich eine vierköpfige deutsch-iranische Familie. Die deutsche Frau kontrolliert noch ihre Tasche und nimmt zwei Kleidungsstücke heraus. Es handelt sich um das inzwischen im Iran übliche "manto", ein längeres Übergewand, das die Körperrundungen der Frauen verhüllen soll. Sie hat zwei davon dabei, offensichtlich für sich und für ihre maximal vierzehnjährige Tochter. Im Iran ist es inzwischen üblich, für die Mädchen im 9. Lebensjahr eine besondere Zeremonie vorzunehmen: "jaschne taklif", was so etwas wie "Fest der Aufgabe" bedeutet. Was für ein doppeldeutiges deutsches Wort. Aufgabe im Sinne von Verzicht, aber auch als Pflicht und Aufforderung. Mit "taklif" ist gemeint, dass die Mädchen jetzt alt und reif genug sind, um die religiösen Pflichten zu erfüllen und unter anderem die Bekleidungsvorschriften zu befolgen. Im Flugzeug sitze ich neben dem Vater dieser Familie. Er arbeitet in Berlin und besucht regelmäßig den Iran. Als er erfährt, dass ich 25 Jahre lang meine Heimat nicht besucht habe, versucht er meine innere Spannung zu dämpfen und mich auf die zu erwartende Situation vorzubereiten. Meine äußere Ruhe ist trügerisch, innerlich verbrenne ich. Teheran, Sommer 2005. Wir sind in Teheran (Mehrabad Flughafen) gelandet. Unruhig warte ich auf die Pass-Kontrolle. Ich weiß zwar, dass dank eines Verwandten meine politische Akte bei den iranischen Sicherheitsbehörden mit Daten über meine Aktivitäten in Deutschland vernichtet worden ist, trotzdem ist die innere Spannung kaum auszuhalten, die Herzfrequenz schießt in die Höhe. Die junge Dame am Schalter, nach den Kleidervorschriften des Regimes verhüllt, blätterte lang in meinem Pass herum und fragt mich anschließend, wieso ich in den letzten 25 Jahren nicht im Iran gewesen bin. "Aus beruflichen Gründen", antworte ich kurz und bündig. Sie zögert ein Moment und stempelt endlich die eine Pass-Seite ab. "Be iran khosh amadid" [Willkommen im Iran], sagt sie und überreicht mir meinen Reisepass. Mir fällt ein Stein vom Herzen. Nachdem ich mein Gepäck aufgesucht habe und die Zollkontrolle vorbei ist, verlasse ich die Passagierhalle des Flughafens. Draußen warten meine Eltern, es gibt eine herzliche Begrüßung. Wir begeben uns auf den Parkplatz und ich bin zutiefst überrascht, unser altes Auto zu sehen, ein "Pe’ykan" aus dem Jahre 1350 (1971), innen wie außen mehr als verschlissen. Die Regierung versucht seit einigen Jahren, die älteren Fahrzeuge aus dem Verkehr zu ziehen. Die Besitzer werden durch Auszahlung von Prämien für ihre alten Autos aufgemuntert, sich einen neuen Wagen anzuschaffen. Mein Vater hat sich jedoch noch nicht dazu entschließen können. Auf dem Weg nach Hause fällt mir das geschäftige Leben auf den Straßen auf, das kurz vor Mitternacht voll im Gange ist. Zuhause angekommen stelle ich fest, dass offensichtlich seit Jahren keine Renovierung durchgeführt worden ist, was auf der depressiven Stimmung meiner Eltern basiert. Am nächsten Tag machen meine Mutter und ich uns auf den Weg. Sie möchte mir die neue Wohnung zeigen, die bald bezogen werden soll. Endlich haben meine Eltern beschlossen, das alte Haus zu verkaufen und in eine für zwei Personen adäquate Wohnung zu ziehen. Kaum habe ich unsere Straße verlassen, so werde ich mit der ersten großen Änderung in unserem Viertel konfrontiert. Bereits unter dem Schah gab es Pläne zur Errichtung von Stadtautobahnen in Teheran. Diese Pläne wurden von dem neuen Regime aufgenommen. Früher kam ich an eine Straße vorbei, bevor ich die Hauptstraße erreichte. Diese Straße ist komplett verschwunden. An ihrer Stelle ist eine mehr als zehn Meter tiefe, aufklaffende Wunde entstanden, eine insgesamt acht spurige Autobahn in der Ost-West-Achse. An einigen Stellen hat diese Autobahn sogar zehn Fahrspuren, trotzdem kommt es zu bestimmten Tageszeiten zu heftigem Verkehr und lang andauerndem Stau. Jeden Tag werden mehrere Tausend Autos in Teheran neu zugelassen. Es gibt immer wieder Smog-Alarm. Die neue Wohnung ist wenige Fußminuten von unserem alten Haus entfernt. Mir fallen Stofftransparente auf, die zur Einhaltung der Sauberkeit und Hygiene aufrufen und in diesem Zusammenhang auf Ratten hinweisen. In Teheran gibt es immer noch keine unterirdische Kanalisation. Wird ein neues Gebäude gebaut, so errichtet man einen tiefen Schacht für Fäkalien und das Abwasser. Die Kanäle an den Straßenrändern sind nur an bestimmen Stellen bedeckt und werden leider als einen großen Abfalleimer missbraucht. Getränkedosen, Plastikflaschen, Zeitungspapier, Verpackungsmaterial und vieles mehr führen immer wieder zur Verstopfung dieser Kanäle. Zum Straßenbild in Teheran gehören deshalb auch Männer mit langen Stiefeln, die den Müll aus den Wasserkanälen herausschaufeln bzw. mit langen Holzlatten freiputzen, wenn sich der Müll unter einer Überbrückung verfängt. Ich werde in den nächsten Tagen noch die Bekanntschaft mit Ratten machen, die so groß wie ein Meerschweinchen sind. Mir fallen auch zwei Autohäuser in unserem Viertel auf, die neue Modelle verschiedener Hersteller (BMW, Mercedes, Toyota, Hyundai) verkaufen. Die Preise sind im Vergleich zu Deutschland wegen der Zollgebühren ca. doppelt so hoch. Trotz dieser erhöhten Preise blüht das Geschäft. Die Kluft zwischen den Reichen und den Armen ist gewaltig. Auf dem Weg zur neuen Wohnung stelle ich fest, dass Lebensmittel reichlich vorhanden sind. Ich erinnere mich an jene Zeit, als ich als Kind drei oder vier Läden abklappern musste, um Eier und Joghurt zu kaufen. Das erste Bild zweigt wie so oft nur einen Teil der Wahrheit. Betrachtet und vergleicht man die Preise, so fallen deutliche Unterschiede auf. Gerade die iranischen Rentner, deren Renten bei einer offiziell zugegebenen zweistelligen Inflationsrate nicht adäquat gestiegen sind, müssen sich an bestimmte Ladenkomplexe wenden, wo verschiedene Waren, halt nicht der Klasse 1a, geboten werden. Hierzu sind sie bereit, längere Strecken und Warteschlangen in Kauf zu nehmen. Auffallend ist auch eine Erscheinung bei den iranischen Frauen. Da das Regime ihnen zum Zeigen praktisch nur das Gesicht übrig gelassen hat, wird feines und künstlerisches Make-up betrieben. Im Gegensatz zu der vom Regime favorisierten dunklen und schwarzen Bekleidung, sieht man bunte Kopfbedeckungen und farbenfrohe Kleidungsstücke. Jede List wird eingesetzt, um die öffentlichen Schikanen zu umgehen. Ich muss unweigerlich an Stefan Zweig und sein Werk "Castellio gegen Calvin oder ein Gewissen gegen die Gewalt" denken. Ca. 450 Jahre nachdem Johannes Calvin versuchte, seine Kirchenzucht in Genf durchzupeitschen, haben die Herrschenden im Iran ein ähnliches Unternehmen vorgenommen. Wie heißt es noch mal, gewisse Ereignisse treten im Laufe der Geschichte zweimal auf, das erste Mal als Tragödie und das zweite Mal als Komödie. Für diese Komödie haben die iranischen Menschen vernichtend viel bezahlt. An verschiedenen Straßenecken sind auf Säulen aufgestellte Metallkisten zu sehen, die auf dem ersten Blick wie Briefkästchen erscheinen. Es handelt sich um Sammelbehälter für Almosen. Welches Organ das Geld sammelt und wie das Geld eingesetzt wird, ist mir schleierhaft. An den Folgetagen besuche ich verschiedene Stadtteile in Teheran. In mittleren und nördlichen Bezirken fallen die vielen Hochhäuser auf, die "borj" [Turm] genannt werden. Eine durchdachte Stadtplanung ist nicht zu erkennen. Es gibt vielfältige, zum Teil nicht zusammenpassende Architekturen. Auffallend ist, mit welchem Fleiß und Einsatz die Grünanlagen gepflegt werden, und das in einem Land, das mit Wasserknappheit und bereits im Frühjahr hohen Temperaturen zu kämpfen hat. Ich fahre auch zum Hauptfriedhof im Süden Teherans, "behesht-e zahra" [behescht bedeutet Paradies; Zahra (Sahra) war die Tochter von dem Propheten Muhammad und die Ehefrau von Ali, dem vierten Kalif bzw. dem ersten Imam der Schiiten]. Auf die Erinnerung an Verstorbene und ihre Ehrung wird im Iran viel Wert gelegt. Auffallend ist, dass die ganzen Slum-Viertel von der Bildfläche verschwunden sind und das Stadtbild in den Straßen, die zum Hauptfriedhof führen, akzeptabel ist. Der Hauptfriedhof platzt bald aus allen Nähten. Inzwischen ist es nichts Besonderes, wenn zwei Tote übereinander in demselben Grab liegen. Die Preise sind auch hier in den Himmel gestiegen. Ein Anblick ist in diesem Friedhof besonders schmerzhaft, ein Teil der von den Angehörigen der dort Begrabenen liebevoll als "golzar-e khavaran" [Blumengarten von khavaran] genannt wird. Hier liegen die Zeugen der Bestialität der Islamischen Republik begraben, die unter anderem während der Hinrichtungswelle im Jahre 1988 in den iranischen Gefängnissen ermordeten politischen Häftlinge. Die Angehörigen wissen nicht mal, wo genau ihre Liebsten begraben sind. Einige Jahre später wird das Regime versuchen, mit Bulldozern jedes Zeichen der Erinnerung an den kaltblutig Ermordeten zu vernichtenAnmerkung der Übersetzerin: siehe hierzu die Stellungnahme von amnesty international unter: Liebe Afsane, hier wird unsere Zeitreise unterbrochen. Die Geschichte geht jedoch weiter. Wie in Teheran vereinbart, werde ich dir in unregelmäßigen Abständen Berichte über die aktuelle Lage schicken. Den Brief möchte ich mit einem auffordernden Gedicht von Schafi’i Kadkani abschließen, damit du nicht in Nostalgie und Wehmut versinkst. Das Leben geht weiter und wir haben noch viel zu erledigen: Komm mein Freund hierher, verweile in der Heimat,
Ganz kurz möchte ich zu meiner Person etwas erwähnen. Seit Jahren lebe ich in Deutschland und bin ärztlich tätig. Meine Eltern, inzwischen 70 bzw. 80 Jahre alt, leben im Iran, und ich möchte sie weiterhin besuchen dürfen. "Afsane" bedeutet Fabel, Märchen oder Legende. Und "Bahar" ist der Frühling, die frohe Botschaft, dass die Wurzeln trotz des Verlustes der Blätter im Herbst und trotz der klirrenden Kälte im Winter intakt sind und das Leben weitergeht. So ist "Afsane Bahar" zustande gekommen. Erwarten Sie nicht, dass ich ein neutraler, unparteiischer Beobachter sein werde. Nein, ich habe so viele schmerzenden Narben im Gesicht, auf dem Rücken, auf den Fußsohlen und Händen und eine Vielzahl von noch hässlicheren inneren Wunden, die man nicht sehen kann, so dass Neutralität ein Fremdwort sein wird. Ich werde jedoch versuchen, fair zu bleiben. "Bilder gegen den Krieg. Momentaufnahmen aus dem Iran" von Afsane Bahar wird fortgesetzt. Die bisher veröffentlichten Teile finden sich unter: FußnotenVeröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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