Wachsende Hungerkrise in den USA - UNO-Welternährungsgipfel in RomVon Raj Patel, 17.11.2009 - Democracy Now! Mehr als 49 Millionen AmerikanerInnen - eine(r) von sieben - konnten im vergangenen Jahr nur mit Mühe genug zu essen bekommen. Das geht aus einem Bericht des US-Landwirtschaftsministeriums hervor, der am Montag veröffentlicht wurde. Es ist die höchste Quote seit Beginn der Aufzeichnungen zum Thema ‘Nahrungsunsicherheit’ durch die US-Regierung. Zur Zeit treffen sich die FührerInnen der meisten Länder der Welt in Rom - auf dem UNO-Welternährungsgipfel - um gegen das Problem ‘Hunger’ global vorzugehen. Die FührerInnen der reichsten Nationen fehlen allerdings fast alle. Unser Gast ist heute Raj Patel, Autor des Buches: ‘Stuffed and Starved: Markets, Power and the Hidden Battle for the World’s Food System’. Demnächst erscheint sein neues Buch: ‘The Value of Nothing’. Amy Goodman: Über 49 Millionen AmerikanerInnen - eine(r) von sieben - mussten im vergangenen Jahr kämpfen, um genug zu essen zu bekommen. Das geht aus einem Report des US-Landwirtschaftsministeriums hervor, der am Montag veröffentlicht wurde. Es ist die höchste Gesamtzahl - seit Beginn der Untersuchungen der US-Regierung zum Thema "Nahrungsunsicherheit" (der Begriff stammt von der Regierung)." Der Prozentsatz der Hungernden schoss im Jahr 2008 - verglichen mit 2007 - um 3,5 Prozent in die Höhe, das heißt, die Zahl nahm um fast 13 Millionen Personen zu. Im Jahr 2008 hatten weniger Menschen in Amerika Zugang zu Essen als in jedem anderen Jahr davor. Landwirtschaftsminister Tom Vilsack bezeichnete diese Zahlen (Zitat) als "Weckruf". Präsident Obama nannte den Report (Zitat) "besorgniserregend und beunruhigend". Derzeit treffen sich die FührerInnen der meisten Länder dieser Welt auf dem UNO-Welternährungsgipfel in Rom, um sich auf globaler Ebene mit dem Problem des Hungers auseinanderzusetzen. Der Leiter der UNO Food Agency kritisierte einen Entwurf für die Abschlusserklärung, weil darin weder Ziele noch Zeitrahmen für konkrete Aktionen genannt seien. Zudem hatte der Gipfel die Bitte der UNO Food Agency zurückgewiesen, die Summe, die in die Landwirtschaft der armen Staaten fließen soll, auf insgesamt $44 Milliarden pro Jahr zu erhöhen. Zum Vergleich: Die Bauern in den reichen Staaten erhalten $365 Milliarden pro Jahr (Stand: 2007). Doch die FührerInnen der reichten Länder glänzten auf dem Gipfel weitgehend durch Abwesenheit. Italiens Staatschef Berlusconi war der einzige Vertreter der Gruppe der hoch industrialisierten Staaten (die sich G-8 nennt), der an dem Gipfel in seinem Land teilnahm. Der brasilianische Präsident Lula da Silva kritisierte die Freikäufe (Bailouts) für Banker, während gleichzeitig Arme hungern würden. (Einblendung) Präsident Luiz Inacio Lula da Silva (übersetzt): Angesichts eines drohenden internationalen Finanzkollapses der durch unverantwortliche Spekulationen ausgelöst wurde und der sich noch verstärkte, weil es der Staat versäumte, das System zu regulieren und zu besteuern, zögerten die Führer der Welt nicht, viele hundert Milliarden Dollar einzusetzen, um die Banken zu retten. Mit weniger als der Hälfte könnte man den Hunger auf der ganzen Welt ausradieren. (Ende Einblendung) Amy Goodman: Um mehr über das Thema ‘Hunger’ zu erfahren - Hunger in den USA, Hunger in der Welt - sind wir jetzt mit Raj Patel in San Francisco verbunden. Er ist Autor und Aktivist (…) Willkommen bei Democracy Now! Raj Patel: Nun, der Gipfel in Rom ist einer von mehreren Gipfeln, die in den letzten Jahren stattgefunden haben und bei denen es um die globale Ernährungskrise ging. Wir haben tatsächlich eine globale Ernährungskrise. Wir wissen, dass im Jahr 2008 49 Millionen Amerikaner hungerten, aber diese Zahl ist Teil des globalen Trends. 2008 hatten über eine Milliarde Menschen auf der Erde nicht genug zu essen. Und diese Zahl ist Teil… ich meine, niemand erwartet, dass diese Zahlen so schnell sinken. Der Grund, dass der Hunger in den USA und rund um die Welt so groß ist, hat nichts damit zu tun, dass zu wenig Nahrung vorhanden wäre. In Wirklichkeit waren die Ernten im vergangenen Jahr ziemlich gut. Natürlich ist die Rezession der Grund, weshalb Menschen hungern müssen. Die Menschen hungern, weil sie arm sind. Sehen Sie sich zum Beispiel die Zahlen in den USA an. Sie werden feststellen, dass die meisten Hungernden Frauen waren. Diese Zahlen beziehen sich auf die USA. Rund um die Welt ist Hunger eine Frage des Geschlechts. Von denen, die heute - global gesehen -, hungern, sind 60% Frauen oder Mädchen. Und diesen - diesen strukturellen Ursachen, die sich hinter Hunger verbergen, wurde bislang auf keinem der Gipfel, die in den letzten Jahren stattfanden, Rechnung getragen: Ich denke, zum Beispiel, an die Tatsache, dass die Sicherheitsnetze, die es einmal gab, durch die jahrzehntelange Privatisierung weg gebrochen sind oder an den schrumpfenden Sozialstaat. Leider scheint man in Rom weiter am eigenen Rad zu drehen. Die Regierungen, die nach Rom kamen und die Vertreter unserer Regierungen, die nach Rom kamen, scheinen sehr wenig zu unternehmen. Sie ringen die Hände - das ist offensichtlich. Sie klagen und lamentieren, reißen an ihren Kleidern und treffen genau den richtigen (Jammer-)Ton, was den Hunger in der Welt angeht. Einige der Aktivisten, die sich vor dem Gipfel versammelt haben, drücken es so aus: Arme Menschen können keine (leeren) Versprechungen essen. Das ständige Problem mit Gipfeln dieser Art ist, dass sie vor lauter hochherzigen Versprechungen triefen. Vor Ort unternehmen die Regierungen allerdings sehr wenig. Andererseits unternehmen sie doch etwas: Sie ermöglichen es dem privaten Sektor einzusteigen und Vorteile aus der Hungerkrise zu ziehen. So erleben wir - wir haben es gerade gehört -, dass die US-Regierung sich für die Pestizid-Industrie einsetzt und für die GM-Industrie (Firmen, die genetisch modifizierte Pflanzen produzieren), damit diese sich an der Spitze positionieren können - mit Angeboten, durch die sie angeblich versuchen wollen, den Hunger zu bekämpfen. Zudem erleben wir, dass der private Sektor eine Menge Aktivitäten entfaltet, um sich Land anzueignen. So stellte die Nichtregierungsorganisation ‘Grain’ (Getreide) fest, dass mehr als 40 Millionen Hektar entweder schon vom privaten Sektor genommen wurden oder dass darüber gerade verhandelt wird. Das bedeutet, ausländische Firmen kommen in ein Land und kaufen das beste Farmland auf - das Land, mit den besten unterirdischen Wasservorkommen. Auf diese Weise stellen sie sicher, dass die Nahrungsmittelpreise steigen. Und alle glauben, dass es in den nächsten Jahren so weitergehen wird. Sie werden Profite einfahren. Während unsere Regierungen tatenlos herumsitzen, investiert der private Sektor eine Menge Geld. Von schätzungsweise über $100 Milliarden ist die Rede. Während die Regierungen tatenlos zusehen und der private Sektor in den Startlöchern hockt - um Profite zu machen - gibt es aber auch Momente des Widerstands, wie beispielsweise die internationale Bauernorganisation La Via Campesina. Sie steht in Rom an der Spitze eines internationalen Protestes, der sich als ‘People’s Food Sovereignity Forum’ bezeichnet und der echte Lösungen für den Hunger auf der ganzen Welt vorantreibt. Es geht um eine nachhaltige Technologie, die es nicht nur ermöglicht, dass wir unsere Kinder heute ernähren können, sondern dass sie auch noch 2050 zu essen haben - wenn auf der Erde neun Milliarden Menschen leben werden. Amy Goodman: Sind die Zahlen bezüglich der USA für Sie überraschend? Das Landwirtschaftsministerium fand ja heraus, dass eine von sieben Personen in Amerika 2008 nicht genug zu essen hatte. Raj Patel: Um ehrlich zu sein, ich war geschockt. Ich meine, zu sehen, wie beispielsweise die Zahl der hungernden Kinder in diesem Land von 11 auf 17 Millionen gestiegen ist - wo es doch genug zu essen gibt… Ich denke, es ist abscheulich. Ehrlich gesagt, war mir klar, dass es übel kommen würde - aufgrund der Rezession - aber dass es so schlimm kommen würde, hat wohl alle überrascht. Amy Goodman: Raj Patel - danke, dass Sie bei uns waren. Wir werden an diesem Thema sicher dranbleiben. Quelle: ZNet Deutschland vom 18.11.2009. Originalartikel: Raj Patel on America’s Growing Hunger Crisis and the UN Summit to Fight Hunger in Rome . Übersetzt von: Andrea Noll. Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
|