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Gaza-Krieg: Tor zur Hölle

Ein Jahr nach der Aggression gegen anderthalb Millionen Palästinenser im Gazastreifen erntet Benjamin Netanjahu die Früchte eines Krieges, den er nicht geführt hat

 

Von Lutz Herden

Vor einem Jahr wurde der Hamas eine Lektion erteilt. Damit könnte Erinnerung an die Gaza-Invasion überschrieben sein, um danach auf Details einzugehen. Zwar gelang es der israelischen Armee nicht, die Hamas-Regierung zu stürzen und der Fatah im Gazastreifen wieder einen Steigbügel zu verschaffen, aber der Abschuss von Kassam-Raketen auf israelische Grenzorte unterblieb, seit am 17. Januar 2009 eine Waffenruhe vereinbart war. Ist damit alles gesagt?

Tatsächlich haben der israelische Staat und seine Armee nicht nur der Hamas, sondern auch der Welt eine Lektion erteilt. Die war über alle Maßen auf Gewalt bedacht, doch sühnen müssen dafür weder der damalige Premier Ehud Olmert noch irgendeiner seiner Generäle. Niemand wird sie jemals dafür anklagen, dass 1.400 Palästinenser - größtenteils Zivilisten - zwischen dem 27. Dezember 2008 und 17. Januar 2009 Spreng- und Phosphorbomben, Panzergranaten und Infanteriebeschuss zum Opfer gefallen sind. Dass UN-Gebäude und Hilfskonvois ebenso angegriffen wurden wie Wohnviertel in Gaza-City.

Wo beginnt Komplizenschaft?

Rekonstruieren lässt sich der Gaza-Feldzug im Untersuchungsbericht des südafrikanischen Juristen Richard Goldstone, dessen Expertise über jeden Zweifel erhaben ist. Auf den Umgang mit diesem Dokument hat das freilich kaum Einfluss. Der ist beschämend - um nicht zu sagen: eine Schande. Zunächst versuchten die USA, sekundiert von Deutschland, eine Debatte des Berichts in der UN-Vollversammlung zu verhindern. Dann wehrten sich die Amerikaner gegen eine Weiterleitung an den Sicherheitsrat und drohten mit ihrem Veto. Auch der Weltgerichtshof bleibt ausgebootet. Weder die USA noch Israel erkennen ihn als Instanz der internationalen Rechtspflege an. Welch archaische - fast möchte man meinen: vorzivilisatorische - Zustände, um Kriegsverbrechen zu ahnden, die - woanders begangen - UN-Tribunale seit Jahrzehnten beschäftigen.

Gewiss sind die USA als Ankläger israelischer Politiker und Militärs wenig qualifiziert. Ihr Krieg in Afghanistan forderte bisher mehr zivile Opfer als der israelische Zugriff auf den Gazastreifen vor einem Jahr. Doch muss sich die deutsche Regierung fragen lassen: Weshalb will sie den serbischen General Mladic vor dem Haager Jugoslawien-Tribunal sehen, wenn ihr die Gräuel der israelischen Armee nicht einmal einen Hauch von Kritik wert sind? Wo endet Solidarität? Wo beginnt Komplizenschaft?

Zur israelischen Lektion gehört die bis heute - inzwischen seit über drei Jahren - bestehende Gaza-Blockade, die den Bewohnern das Leben zur Hölle und jeden Wiederaufbau unmöglich macht. An dieser vorsintflutlichen Züchtigung von anderthalb Millionen Menschen, die dafür bestraft werden, Palästinenser zu sein, nehmen EU-Europäer und Amerikaner gleichfalls keinen Anstoß. Barack Obama hat sich am gerade erst Siedlungsstopp schwer verhoben. Was würde ihm erst widerfahren, sollte er Netanjahu überzeugen oder gar zwingen wollen, Gaza nicht länger unter Verschluss zu halten?

Um so mehr sollte man sich vorstellen, wie in Washington und Berlin der Erregungspegel nach oben schießen würde, wäre etwa Tel Aviv durch arabische Macht in ähnlicher Weise von der Welt abgeschnürt wie Gaza-City. Eine solche Belagerung hätte es verdient, Selbsthilfe oder Selbstverteidigung genannt zu werden, da seit mehr als 43 Jahren palästinensische und syrische Gebiete israelisch besetzt sind, und die Vereinten Nationen nichts dagegen unternehmen, wenn ihre Resolutionen (242 und 338) boykottiert werden.

Zukunft im Homeland

Ehud Olmert und seine Generäle haben vor einem Jahr die Hamas nicht stürzen können, wenn das denn je beabsichtigt war. Gesiegt haben sie über keinen Gegner, sondern über minimale Standards des Rechts und der Humanität. Weil das so war, kann Olmerts Nachfolger heute einer US-Regierung diktieren, wann und ob überhaupt ein Siedlungsstopp angebracht ist. Warum sollte sich Benjamin Netanjahu eine solche Landnahme verbieten lassen. Ist sie nicht ungleich friedfertiger als die kriegerische im Gazastreifen, auf den Golan-Höhen oder im Libanon, an der die Freunde Israels bisher doch auch nichts auszusetzen hatten. Ein Jahr nach der Aggression gegen anderthalb Millionen Palästinenser erntet Benjamin Netanjahu die Früchte eines Krieges, den er nicht geführt hat. Der Werteverfall und Rechtsverschleiß sind soweit fortgeschritten, dass sich seine Rechtsregierung gegenüber der Obama-Administration mehr erlauben kann als Olmerts Mitte-Rechts-Kabinett zu Zeiten von George Bush.

Was unter diesen Umständen vom palästinensischen Staatsprojekt übrig bleibt - darüber muss nicht groß gerätselt werden. Die Palästinenser sind zu schwach, zu zermürbt und zerstritten, um sich ohne Hilfe von außen dagegen wehren zu können, dass ihre Zukunft die eines postkolonialen Homelands ist. Bestenfalls! Ob das zur Kapitulation zwingt oder erneut zum Aufstand führt wie 1987 und 2000, wird sich zeigen. Sollte es eine dritte Intifada geben, wird dies Benjamin Netanjahu nicht übermäßig fürchten. Er kann zurückschlagen wuchtig und erbarmungslos wie vor einem Jahr im Gaza-Streifen. Und wie vor einem Jahr wird ihn niemand daran hindern. Jeder Aufruhr im Palästinenser-Gebiet ist ein Anlass mehr, den Palästinenser-Staat zu verabschieden.

Quelle: der FREITAG vom 28.12.2009. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

28. Dezember 2009

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