Haiti: Geschichten über Mut und VerzweiflungVon Amy Goodman/Juan Gonzalez, 21.01.2010 - Democracy Now! Die Rettungsmaßnahmen in Haiti dauern an. Die Zahl der Toten steigt. An einem einzigen Tag werden mehr als 10.000 Leichen in Massengräbern beigesetzt. Die Menschen kämpfen weiter um ihr Überleben. Hier ist die Story einer jungen Frau namens Patricia Cherie, die aus den Trümmern der Krankenschwesternschule, in der sie ihre Ausbildung machte, gerettet wurde und die nun um ihr Leben ringt. Wir sprachen mit: Dr. Eric Tham: Kinderarzt der Notfallstation des Denver Children’s Hospital. Er ist mit einer Gruppe Ärzte nach Port-au-Prince geflogen, um dort als Freiwilliger ärztliche Hilfe zu leisten. Patricia Cherie: Erdbebenopfer aus Haiti. Juan Gonzalez: Amy, du bist gerade zurückgekehrt. In der vergangenen Nacht kamt ihr aus Haiti zurück - du und einige aus unserem Produzententeam. Amy Goodman: Stimmt. Sharif Abdel Kouddous und auch Elizabeth Press haben mit uns zusammengearbeitet. Auch Kim Ives von Haiti Liberté hat mit uns zusammengearbeitet. Juan Gonzalez: Sag’ uns, was Du mit eigenen Augen gesehen hast. Amy Goodman: Nun, wir werden weiter Berichte liefern - wie in der vergangenen Woche. Ich möchte die Leute ermutigen, auf unsere Webseite www.democracynow.org zu gehen. Sharif hat die ganze Zeit über mit Leuten getwittert und gab regelmäßig, Tag für Tag, Updates bekannt - über das, was auf Haiti vor sich geht. Was hier passiert ist, hat nicht nur die Menschen in Port-au-Prince knallhart erwischt. Wissen Sie, das Epizentrum lag etwas außerhalb von Port-au-Prince, in Léongane. Morgen werden wir eine ganze Story über Léongane bringen. Es ist der Ort, an dem, wahrscheinlich, Jean-Jacques Dessalines geheiratet hat - vor 200 Jahren. Es ist also eine historische Stadt. Was die Menschen derzeit erleben - die Amputationen… Ein Vertreter von ‘Ärzte ohne Grenzen’ sagte, so etwas hätte man wahrscheinlich zum letzten Mal während der Krim-Kriege oder im Amerikanischen Bürgerkrieg gesehen. Eine der Geschichten, die wir Ihnen erzählen wollen, ereignete sich in der ersten Nacht unserer Ankunft auf Haiti. Wir sahen eine Amputation, die auf einem Küchentisch stattfand. Wir saßen da und sahen zu, wie Ärzte des Denver Children’s Hospital die Amputation vornahmen. In den meisten Fällen handelt es sich um Amputationen, die vermeidbar gewesen wären, wenn man die Menschen von Anfang an medizinisch versorgt hätte. Die meisten Amputationen fanden ohne Narkose statt. Und - nicht zu vergessen - nicht nur Amputationen, sondern auch alle anderen Operationen werden so durchgeführt, wenn die Ärzte keine Narkosemittel zur Verfügung haben. Überraschend war, wie viele Ärzte eingetroffen sind - von überallher. Unter ihnen befinden sich viele haitianisch-amerikanische Ärzte, die aus unserer Gegend - New York oder New Jersey - kommen. Ich meine, hier zu sein… Juan Gonzalez: Das war schon eine erstaunliche Story: Die gestrigen Interviews mit mehreren haitianisch-amerikanischen Personen, die sofort hinflogen. Amy Goodman: Stimmt. Wie auch immer, sie kamen nach Haiti, um ihren Landsleuten zu helfen. Eigentlich sollten wir nicht von " ihren Landsleuten" sprechen. Es sind auch unsere Menschen. Alle. Und wir haben die immensen Bemühungen gesehen. Das ist der gute Teil der Nachricht: Es gibt globale Anstrengungen, um Haiti zu helfen. Das Problem ist die Flaschenhals-Situation. Oh, am Flughafen von Port-au-Prince gibt es massenhaft Hilfsgüter. Eine ganz andere Frage lautet? Wie bringt man sie von dort weg? Im weiteren Verlauf der Sendung werden wir uns mit einem der führenden Menschenrechtsanwälte Haitis unterhalten. Er sprach mit uns über den Gefängnisausbruch. Wissen Sie, nach dem Erbeben waren aus dem Nationalgefängnis Hunderte Gefangene entkommen. 4.000 waren dort insgesamt untergebracht. Er sagte, 80% dieser Gefangenen - aber auch Gefangene in anderen haitianischen Gefängnissen - seien inhaftiert, ohne dass es überhaupt eine Anklage gäbe. Die Ironie ist doch, dass die UNO - die Behörden allgemein sowie die USA - dies als Rechtfertigung benutzen, um in bestimmte Gebiete rein zu gehen. Es herrsche ein Sicherheitsrisiko, heißt es. Einer unserer Kollegen sprach mit einem Soldaten, der Lebensmittel an die Menschen (des Armenviertels von Port-au-Prince) Cité Soleil verteilte: "Oh, wissen Sie, die Leute sind sehr friedlich", sagte er, "aber man hat uns gesagt, dass Gefangene ausgebrochen seien". Wir werden uns mit dieser Sache noch näher befassen. Im Moment geht es um unsere erste Geschichte. Sie ereignete sich gestern. Wir standen unter Zeitdruck, da wir Haiti ja verließen. Wir kamen zum Haus Matthew 25. Es ist ein ‘Haus der Gastfreundschaft’ - so nennt es sich selbst. Hier wurden Menschen aus anderen Ländern einquartiert, die in den verschiedenen Departments arbeiteten, Leute von überallher, so dass die Leute, die Haitianer, nicht das Gefühl hatten, immer gleich in die Stadt (Port-au-Prince) zu müssen. Der Rush auf die Stadt geht zurück auf die Zeit der Duvalier(-Diktatur). Die Arbeiter an den Bändern verdienten wenig, wissen Sie usw. Aber als wir zu dem Haus Matthew 25 kamen, saß ein Arzt auf den Eingangsstufen und wirkte sehr frustriert. Es war Dr. Eric Tham, ein Kinderarzt der Notfallstation des Denver Children’s Hospital. Er ist einer der Ärzte, die gekommen sind, um den Menschen auf Haiti zu helfen. Ich muss hinzufügen, dass wir zunächst nicht in das Haus hinein durften, weil sich kurz bevor wir gestern zu unserer Reportage aufbrachen, ein neues Beben ereignet hatte - "Nachbeben" genannt. Aber darüber reden wir später. Diese Nachbeben können viele Menschen, töten, wenn sie, so wie dieses, 6.1 (auf der Richterskala) erreichen. Das ursprüngliche Beben erreichte 7.0. Dr. Tham saß also auf den Stufen des Eingangs zum Haus Matthew 25 und erzählte uns Folgendes: Dr. Eric Tham: Ich heiße Eric Tham (…) Dies ist vermutlich der härteste Fall, den ich je gesehen habe. Wir haben eine Frau hier - sie ist in den Zwanzigern. Sie war Schülerin für einen Medizinberuf und befand sich in ihrer Schule, als das Erdbeben kam. Sie war lange Zeit lebendig begraben. Sie überlebte, weil sie das Blut der Menschen trank, die um sie herum lagen. Ein Pater aus einer der Pfarrgemeinden der Umgebung brachte sie heute Morgen zu uns - zur Weiterbehandlung. Wir stuften sie als (Notfall der Kategorie) IV ein und hofften, sie in ein Krankenhaus verlegen zu können, in dem es eine Intensivbehandlung möglich ist. Nachdem sie lange mit ihr herumgekurvt waren, fanden sie schließlich einen Ort, wo es solche Ärzte gibt, und die nahmen sie auch auf. Aber als sie sahen, dass sie vielleicht auch noch Kopfverletzungen hat, meinten sie, sie könnten nicht viel für sie tun und schickten sie wieder zu uns zurück. Amy Goodman: Kann sie sprechen? Dr. Eric Tham: Sie hat geredet. Sie sagen, sie sei klar. Amy Goodman: Wie hat die Erfahrung - hier - Sie verändert? Dr. Eric Tham: Ich glaube, es wird noch eine Weile dauern, bis alles eingesickert ist. Sie sehen ja, ich bin zusammengebrochen - das erste Mal seit unserem Aufbruch. Amy Goodman: Wir folgten Dr. Tham hinter das Haus auf ein Fußballfeld. Hier hatten mehr als tausend Menschen Zuflucht gefunden. Hier fanden wir auch Patricia Cherie und konnten mit ihr reden. Wie heißen Sie? Wie alt sind Sie? Patricia Cherie: Mein Name ist Patricia. Amy Goodman: Sprechen Sie Englisch? Patricia Cherie (übersetzt): Nein. Ich leide schon so lange. Überall wo ich hinkomme, geben sie mir nur etwas und schicken mich wieder heim, aber sie bringen nichts zu Ende. Sie bringen (mich an Orte) wie diesen hier. Darum geht es mir so. Amy Goodman: Was ist mit Ihnen passiert? Was ist bei dem Erdbeben passiert? Patricia Cheries Übersetzer: Sie befindet sich in der Ausbildung zur Krankenschwester, und eines Tages… Sie sagt, das Gebäude sei zusammengestürzt und alle Betonwände (unverständlich) seien auf sie gefallen. "Ich saß auf einem Stuhl, und der ganze Beton fiel auf mich. Überall auf meinem Kopf war Beton." Man könne nichts für ihre Kopfverletzungen tun (heiße es). Wahrscheinlich werde man sie an einen anderen Ort verlegen, wo man sich um ihren Kopf kümmern könne, denn, überall, wo sie bisher hingekommen sei, habe es geheißen, nein, nein, es gibt nichts, nichts. Amy Goodman: Wie haben Sie überlebt? Patricia Cheries Übersetzer: Also, als sie dort unter dem Beton lag, dachte sie: ""Auf jeden Fall kann ich hier nicht bleiben. Ich muss etwas tun, um raus zu kommen." "Ich war seit 17 Uhr dort - seit 17 Uhr, dann kam die Nacht. Um 11 Uhr kam ich raus. Ich schrie, rief Jesus an." Okay, sie war… "ich war durstig und trank ein wenig Wasser, aber anstatt Wasser fand ich Blut". Amy Goodman: … das Blut von.. Patricia Cheries Übersetzer: … das Blut ihrer Mitschülerinnen, die mit ihr dort gewesen waren. Amy Goodman: Und sie waren - tot? Patricia Cherie (übersetzt): Ja, ja, sie waren tot, ja. Patricia Cheries Übersetzer: Sie sagt, Sie habe Sie schon einmal getroffen. Sie wünschte, sie wäre nicht in dieser Verfassung. Man würde sie überall hin schaffen - aber nirgends würde man sich um sie kümmern. "Okay, sie geben mir irgend etwas und sagen, ich solle mit meiner Mutter heimgehen." Sie sei das Einzige der Mädchen, das es aus dem Haus geschafft habe. Alle andern seien tot. Amy Goodman: Wie alt sind Sie? Patricia Cherie (Übersetzt): 23. Meine Eltern leben im Ausland. Amy Goodman: Im Ausland. Patricia Cheries Übersetzer: Ja. Amy Goodman: Wo? Patricia Cherie: In Washington. Amy Goodman: Washington. Patricia Cheries Übersetzer: Sie habe eine Telefonnummer ihrer Familie. Amy Goodman: Sie sind eine erstaunlich starke Frau - weil sie das eine ganze Woche lang überlebt haben. Sie sind für uns alle ein wichtiges Beispiel an Stärke und Mut. Okay, wir werden Ihren Vater anrufen. Amy Goodman: Genau das haben wir auch gemacht. Dies ist die Story von Patricia Cherie, einer 23jährigen Krankenschwesternschülerin, die unter den Trümmern lag. Sie war gerade mit ihren Mitschülerinnen im Unterricht (als das Erdbeben passierte). Sie beschrieb uns die Szene, sie beschrieb, wie sie überlebte - nun, das Erdbeben ereignete sich um 17 Uhr. Am nächsten Morgen, gegen 11 Uhr, hat man sie ausgegraben. 18 Stunden verbrachte sie mit ihren toten Mitschülerinnen um sie her. Sie trank ihr Blut, um zu überleben. Sie tat alles, um zu überleben. Und nun - sie hoffen, dass sie ihr auf schnellstem Wege Hilfe bringen können. Wir setzten uns so schnell wir konnten mit ihrem Vater in Verbindung. Er heißt Patrick Cherie und lebt in Columbia, Maryland. Wir sprachen mit ihm und sagten, wir seien bei seiner Tochter gewesen und hätten sie berührt. Sie hätte uns gebeten, ihn anzurufen. Wir hatten einen Übersetzer bei uns, der Kreolisch sprach. Wir sprachen über seine Tochter, nur, damit der Vater wusste, dass sie noch am Leben war. Gestern Nacht erreichten wir Dr. Tham telefonisch - jenen Arzt, der uns zuerst von ihr erzählt hatte. Wir erreichten ihn spät nachts, als wir in die Staaten zurückgekehrt waren. Er sagte, Patricia sei für ihre Weiterhandlungen in ein Hospital oder eine Klinik von ‘Médecins Sans Fròntieres’ (Ärzte ohne Grenzen’) verlegt worden. Wir werden versuchen, zu erfahren, wie es mit ihr weitergeht und Sie auf dem Laufenden halten. Wir hatten uns mit Patricia im Hinterhof des Hauses Matthew 25 unterhalten. Normalerweise ist dieses Haus für 35 Gäste ausgelegt. Jetzt wurde das Fußballfeld dazu genommen. Rund tausend Menschen werden hier - auf mehreren Levels - behandelt. Sie haben Verletzungen unterschiedlichen Schweregrades. Es gibt hier auch Menschen ohne Verletzungen. Ihre Häuser sind zerstört, und sie haben keinen anderen Ort, oder es sind Menschen, die fürchten, ihre Häuser könnten endgültig über ihnen zusammenbrechen. Sie alle schlafen im Freien. Amy Goodman und Juan Gonzalez sind Moderatorin bzw. Moderator des TV- und Radioprogramms ’
Democracy Now!
‘, das aus rund 500 Stationen in Nordamerika täglich/stündlich internationale Nachrichten sendet.
Quelle: ZNet Deutschland vom 23.01.2010. Originalartikel: In Haiti, Stories of Desperation and Courage: Young Woman Fights for Her Life After Being Pulled from the Rubble . Übersetzt von: Andrea Noll. Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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