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Wiedergänger Stalin

Von Karl Grobe

Der Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow hat auf das gesunde Volksempfinden gehört, wie es sich in der Anregung mehrerer Veteranenverbände niedergeschlagen hat. Er befürwortet deren Bitte, zur Feier des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg am 9. Mai in ganz Moskau Bilder des seinerzeitigen Selbstherrschers Josef Stalin aufzuhängen. Russland, sagte Luschkow, dürfe nicht einfach Persönlichkeiten aus seiner Geschichte streichen.

Das tut es aber. Die Opfer des Stalin-Terrors kennt es kaum mehr, mehr als 700.000 Tote während der Großen Säuberung von 1936 bis 1939, wohl 25 Millionen, die in die Zwangsarbeitslager geschickt wurden. Russland weiß nur mehr wenig über die führenden Genossen, die Stalin hat umbringen lassen - es waren zu viele. Luschkow hat sich all die Namen nicht merken können. Vielleicht regt sich etwas in seinem Gedächtnis, wenn vier - nur vier - Namen fallen: Nikolaj Bucharin, Lew Kamenjew, Grigori Sinowjew, Leo Trotzki. Letzterer war immerhin der Gründer der Roten Armee. Stalin hat ihn ins Exil verjagt und ermorden lassen.

Insgesamt hat Stalin mehr Kommunisten umbringen lassen als seine Zeitgenossen faschistischer Provenienz, was die russischen Kommunisten des Jahres 2010 nicht daran hinderte, am Freitag seinen 57. Todestag feierlich zu begehen. Dass er in manchen Ländern schrecklich effektive Nachahmer hatte, spricht weder ihn noch seine heutigen Verehrer frei.

Dem offiziellen Zeitgeist des putinistischen Jahrzehnts entspricht die neue Stalin-Verehrung, die die Massenverbrechen ausblendet, indessen recht gut. In der Erinnerung wird der Status der spätstalinistischen Supermacht Sowjetunion verklärt. Die Verklärung wird zur Ideologie. In dieser steckt nicht nur geschichtsblinde Heldenverehrung. Einkreisungsangst - für die es Gründe gibt - und die Meinung, gewisse Nachbarstaaten seien lediglich "nahes Ausland", im Grunde also gar kein richtiges, gehören dazu. Die verbreitete Sehnsucht nach dem starken Mann an der Spitze, der alles schon richten werde, geht darauf zurück. Die Folge ist eine Unmündigkeitserklärung gegen das Volk.

Doch es regt sich Widerspruch gegen den Wiedergänger Stalin. Die Menschenrechtsorganisation Memorial erklärt: "Sollten tatsächlich Stalinporträts in den Moskauer Straßen auftauchen, werden wir alles uns Mögliche tun, damit gleichzeitig mit ihnen andere Plakate und Porträts erscheinen, die über die Verbrechen des Tyrannen erzählen", die informieren "über den Massenterror in der Armee in den Jahren 1937-1938, als Zehntausende Soldaten vernichtet wurden", über den Diktatorenpakt mit Hitler von 1939, dessen "direkte Folge die Tragödie im Sommer und Herbst 1941 war" und über "die Millionen Leben, mit denen das Volk den ganzen Krieg über für die Verbrechen und Fehler des Führers bezahlt hat".

Memorial würdigt die Standhaftigkeit und den Mut der Menschen, die der Hitlerschen Aggression widerstanden und den Krieg letztlich entschieden haben, als Vermächtnis des ganzen Volkes, mit dem niemand nach seinem Gutdünken verfahren dürfe. Das ist der Kern der Sache. Nicht um die Herrschaft über die Geschichte geht es, sondern um die Herrschaft des Volkes. Der Memorial-Aufruf ist ein - heute leider seltener - Ruf nach Menschenwürde und Demokratie.

Karl Grobe ist freier Autor.

Quelle: Frankfurter Rundschau vom 08.03.2010. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Karl Grobe.

Veröffentlicht am

09. März 2010

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