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Chomsky zu Haiti

Keane Bhatt interviewt Noam Chomsky per Telefon und E-Mail

Von Noam Chomsky, 08.03.2010 - CounterPunch

Seit Jahrzehnten setzt sich der Analyst und Aktivist Noam Chomsky für das haitianische Volk ein. Neben einer Karriere als Linguist am MIT (Massachusetts Institute of Technology in Boston), die revolutionär verlief, setzte er sich in den vergangenen 40 Jahren - schreibend, durch Vorträge und Proteste - gegen die Ungerechtigkeit ein. Gemeinsam mit Amy Goodman und Paul Farmer veröffentlichte er 2004 das Buch: ‘Getting Haiti Right This Time: The U.S. and the Coup’. Seine Analyse ‘The Tragedy of Haiti’ können Sie gebührenfrei aus dem Internet herunterladen. Es ist ein Auszug aus Chomskys Buch: ‘Year 501: The Conquest Continues’ (1993).

Folgendes Interview kam Ende Februar 2010 - per Telefon und E-Mails - zustande. Keane Bhatt bedankt sich bei Peter Hallward für dessen freundliche Unterstützung.

Keane Bhatt: Vor kurzem haben Sie einen Brief an die (britische Zeitung) The Guardian mitunterzeichnet, in dem die Militarisierung der Katastrophenhilfe kritisiert wird. Sicherheit und militärische Kontrolle, so wird kritisiert, rangierten an oberster Stelle - auf Kosten der Rettungsarbeiten und Hilfen.

Noam Chomsky: Ich denke, während der ersten Phase wurde der militärische Aspekt überbetont. Stattdessen hätte man direkte Hilfe leisten sollen. Ich glaube allerdings nicht, dass dies von langfristiger Bedeutung ist…. Wenn es um militärische Stärke geht, sind die USA verhältnismäßig im Vorteil. Die USA haben die Tendenz, auf alles zunächst mit militärischer Stärke zu reagieren - weil sie darin eben gut sind. Ich glaube, dass es übertrieben war. Es wurde mehr militärische Stärke demonstriert, als notwendig gewesen wäre. Einige Ärzte auf Haiti, einschließlich der Ärzte von ‘Partners in Health’, die schon lange vor Ort sind, empfanden die Mutmaßung, die Haitianer würden plündern und müssten kontrolliert werden usw. als rassistisches Element. Dabei gab es sehr wenig Anhaltspunkte (für oben genannte Mutmaßung). Es ging sehr ruhig und still zu. Weil man den Schwerpunkt auf den militärischen Aspekt legte, hat sich die Hilfe vermutlich etwas verzögert. Ich war mit der generellen Aussage der Petition - die Militarisierung sei überzogen gewesen - einverstanden.

Keane Bhatt: Wenn die extreme Militarisierung der Hilfe keine Absicht sondern nur eine Fehlreaktion der USA war, heißt das, die massive Truppenpräsenz - mit der man anschwellende Bevölkerungsproteste nach dem Erdbeben ja unter Kontrolle halten könnte -, ist vielleicht auch nur purer Zufall? Unter den Überlebenden hat sich eine erstaunlich große politisierte Gruppe gebildet, die die Rückkehr AristidesAnmerkungen d. Übersetzerin:
1990 wurde der katholische Armenpriester Jean-Bertrand Aristide mit überwältigender Mehrheit zum Präsidenten von Haiti gewählt
1991. Der erste Staatsstreich gegen den gewählten Präsidenten Aristide - ein Militärputsch unter Brigadegeneral Cédras - wird durchgeführt. Er erfolgt mit Unterstützung der USA (unter Bush senior).
1994. Nach intensiven diplomatischen Bemühungen (Paris Accords) kann Aristide nach Haiti zurückkehren - in Begleitung von US-Truppen. Er wird erneut zum Präsidenten gewählt, muss allerdings die wirtschaftlich tiefgreifenden internationalen Auflagen erfüllen.
2004. Der zweite Staatsstreich gegen Aristide findet statt (durch Rebellen, die in der Dominikanischen Republik trainiert wurden und mit Hilfe der USA (unter Bush junior), Kanadas und Frankreichs). Aristide wird gekidnappt und ausgeflogen. Die Partei des Präsidenten, ‘Fanmi Lavalas’, wird aufgelöst. Nach mehreren Übergangsregierungen kam das heutige Regime, durch die Wahl 2006 an die Macht. Es stützt sich auf die UNO-Truppen der MINUSTAH (10 000 Soldaten), die seit 2004 auf Haiti sind. Aristide hält sich derzeit im südafrikanischen Exil auf.
und Reparationszahlungen der Franzosen (anstatt Almosen) usw. fordert.

Noam Chomsky: Bislang ist mir nicht bekannt, dass irgendwelche Truppen verlegt wurden, um Proteste zu unterdrücken. Es könnte dazu kommen, aber ich gehe davon aus, dass die bevorstehende Regenzeit - eine furchtbare Katastrophe, wenn man es bedenkt -, die dringlichere Sorge sein dürfte.

Keane Bhatt: Zu den Rettungsarbeiten. Das medizinische Team aus Kuba war - neben ‘Partners in Health’ - das erste vor Ort, das medizinische Einrichtungen in den Trümmern aufbaute. Das berichtet Al-Dschasierah. Die Kubaner hätten auf Haiti zudem das größte Kontingent an medizinischen Helfern gestellt. Sie waren schon vor dem Erdbeben vor Ort. Nimmt man ihre Arbeit beim Erdbeben in Pakistan (2005) als Maßstab, so werden sie vermutlich auch die Letzten sein, die Haiti verlassen. Seit Jahrzehnten scheint Kuba in puncto Auslandshilfe ein Musterland zu sein.

Noam Chomsky: Nun, die Kubaner waren schon vor dem Erdbeben auf Haiti. Sie waren dort mit mehreren hundert Ärzten vertreten. Ja, sie haben sehr schnell Ärzte geschickt. Sie haben sehr schnell medizinische Einrichtungen geschaffen. Auch Venezuela hat ziemlich rasch geholfen. Venezuela war zudem das erste - und einzige - Land, das die haitischen Schulden komplett gestrichen hat. Haiti hatte ziemlich hohe Schulden bei Venezuela - aufgrund der ‘PetroCarib-Vereinbarung’. Daher ist es so überraschend, dass weder Kuba noch Venezuela zu dem Treffen der Geberländer in Montreal eingeladen wurden.

Der haitianische Premierminister Bellerive bedankte sich überschwänglich bei drei Ländern für ihre rasche Hilfe: bei der Dominikanischen Republik, bei Kuba und Venezuela. Was Al-Dschasierah in Hinblick auf Pakistan berichtet hat, stimmt so ziemlich. Bei jenem furchtbaren Erdbeben vor einigen Jahren waren die Kubaner wirklich die Einzigen, die sich in das äußerst schwierige Gelände - hoch in den Bergen - trauten. Die Lebensumstände in diesem Gebiet sind äußerst schwierig. Sie blieben auch weiter, als alle anderen schon wieder gegangen waren. In den USA wird von alledem nichts berichtet. Es ist Tatsache - was immer man von Kuba halten mag -, dass dieses Land einen dramatisch beeindruckenden Internationalismus praktiziert. Die Leute, die seit Jahren auf Haiti arbeiten, waren zutiefst beeindruckt von der medizinischen Hilfe der Kubaner - so wie damals die Menschen in Pakistan. Das ist eine alte Geschichte. Ich meine, der kubanische Beitrag zur Befreiung Afrikas ist einfach etwas Umwerfendes.

Im akademischen Bereich findet man etwas darüber, die Bevölkerung jedoch erfährt nichts darüber.

Keane Bhatt: Noch etwas zu diesem Punkt. Sie haben einmal gesagt, Staaten handelten "nicht als Moralisten. Sie handeln im Eigeninteresse, das heißt, im Interesse der mächtigen Kräfte im Staat". Wie passt das zu der beispielhaften geschichtlichen Bilanz des humanitären Handelns Kubas - als kubanische Staatspolitik?

Noam Chomsky: Nun, ich denke, EIN Kernstück der Kubanischen Revolution ist ein äußerst hohes Maß an Internationalismus. Ich glaube, die Beispiele, die Sie genannt haben, passen dazu, aber das extremste Beispiel war wohl die Befreiung Afrikas. Nehmen wir zum Beispiel Angola. Zwischen Angola und Kuba existiert ein echtes Band. Ein großer Teil der kubanischen Bevölkerung stammt ja aus Angola. Nach dem Zusammenbruch des portugiesischen Imperiums marschierte Südafrika - mit Hilfe der USA - in Angola und Mozambique ein, um dort seine eigenen Marionetten-Regime zu errichten. Südafrika versuchte, Namibia und die Apartheid zu verteidigen, und niemand unternahm wirklich etwas dagegen. Nur die Kubaner schickten Truppen. Vor allem schickten sie schwarze Truppen. Diese besiegten eine Armee aus weißen Söldnern. Dies rettete nicht nur Angola, sondern sandte Schockwellen über den gesamten Kontinent. Der Schock war psychologischer Art. Bis dahin hatte man die weißen Söldner als unbezwingbar dargestellt. Nun wurden sie von einer schwarzen Armee besiegt und mussten zurück nach Südafrika fliehen. Ja, das gab den Befreiungsbewegungen echten Auftrieb. Gleichzeitig war es eine Lehre für das weiße Südafrika: Das Ende naht. Sie konnten nicht mehr darauf hoffen, den Kontinent nur mit Hilfe rassistischer Argumente unter ihrer Fuchtel halten zu können. Nun, die Kriege wurden dadurch noch nicht beendet. Die südafrikanischen Angriffe auf Angola und Mozambique gingen bis Ende der 80er Jahre weiter - mit massiver Unterstützung der USA. Es war wirklich nicht lustig. Laut Schätzungen der Vereinten Nationen wurden anderthalb Millionen Menschen getötet - in Angola und Mozambique. Das ist keine Kleinigkeit. Dennoch zeigte die Einmischung der Kubaner enorme Wirkung - auch in anderen afrikanischen Staaten. Der verblüffendste Aspekt allerdings war, dass sie keinen Dank wollten. Die nationalen Bewegungen Afrikas sollten den Dank ernten. Aus diesem Grund blieb vieles unbekannt - bis ein amerikanischer Forscher namens Piero Gleijeses die Beweise in kubanischen Archiven und afrikanischen Quellen ausgrub. Er veröffentlichte sie in akademischen Journalen und in einem akademischen Buch von ihm. Die Geschichte ist erstaunlich - aber kaum bekannt. Von einer Million Menschen hat eine(r) irgendwann davon gehört.

Keane Bhatt: Sie haben erwähnt, dass Venezuela die (haitischen) Schulden gestrichen hat. Gleichzeitig sind die G7 dabei, auf bilateraler Ebene (Haitis) Schulden zu eliminieren. Was bedeutet das?

Noam Chomsky: Nun, sie reden davon, yeah. Die Venezulaner waren die Ersten. Sie haben die Schulden (Haitis) einfach komplett gestrichen. Die G7 weigerten sich. Bei dem Treffen in Montreal wollten sie nicht einmal darüber debattieren. Später deuteten sie an, dass sie vielleicht doch etwas unternehmen würden. Vielleicht waren sie beschämt, angesichts der venezolanischen Aktion. Aber ich bin mir nicht sicher, in welche Richtung das Pendel ausschlagen wird. Was den Internationalen Währungsfonds angeht (im Grunde ein Ableger des amerikanischen Finanzministeriums), so wird dort darüber geredet, aber bis jetzt ist, soweit ich es erkennen kann, noch keine positive Entscheidung gefallen, die Schulden (Haitis) zu streichen.

Keane Bhatt: Haitis Premierminister Bellerive dankte der Dominikanischen Republik, Kuba und Venezuela. Die Dominikanische Republik wurde für ihre Hilfsaktionen gelobt: Sie brachte zum Beispiel Lebensmittel, Material oder medizinische Hilfe. Gleichzeitig gab es Berichte, dass Truppen der Dominikanischen Republik an der Grenze Familienangehörige von haitianischen Patienten gewaltsam abgeschoben hätten, in manchen Fällen sogar die Patienten selbst - beispielsweise in Jimani. Wie beurteilen Sie diese widersprüchliche Entwicklung? Gibt es einen historischen Kontext, den sie an dieser Stelle beifügen möchten?

Noam Chomsky: Nun, was die Dominikanische Republik tut, müssen die Dominikaner mit sich selbst ausmachen. Was ich, aus meiner Perspektive, viel überraschender finde, ist, dass die USA keine - oder praktisch keine - Flüchtlinge aufgenommen haben, nicht einmal zur medizinischen Behandlung. Der Leiter des Fachbereichs Medizin der Universität von Miami hat dies harsch kritisiert. Er fand es einfach kriminell, keine Haitianer nach Miami zu bringen, wo tolle medizinische Einrichtungen existieren, während sie auf Haiti chirurgische Eingriffe mit der Bügelsäge vornehmen müssen. Eine der ersten Reaktionen der USA auf das Erdbeben war die Entsendung der Küstenwache - um sicherzustellen, dass niemand versuchen würde, von Haiti zu fliehen. Ich meine, das ist doch grauenhaft. Die USA sind das reichste Land der Welt und die direkten Nachbarn Haitis. Die USA sollten den Haitianern alle Hilfe anbieten, die möglich ist.

Darüber hinaus gibt es zu diesem Punkt einen kleinen geschichtlichen Hintergrund. Ich denke, das Erdbeben auf Haiti war eine Klassen bezogene Katastrophe. Die reiche Elite - oben in den Hügeln - war kaum betroffen. Sie wurde zwar durchgerüttelt, aber nicht vernichtet. Auf der anderen Seite waren da die Menschen in den armseligen städtischen Slums. Sehr viele von ihnen sind massiv betroffen. Mehrere Hunderttausend sind wohl tot. Warum haben sie dort gewohnt? Sie lebten dort… im Grunde geht das Ganze zwar noch auf das französische Kolonialsystem zurück, aber im 20. Jahrhundert lebten die Menschen dort aufgrund der Politik der USA, aufgrund einer Politik der USA, die sich durchzieht.

Keane Bhatt: Sie meinen die gewaltsame Dezimierung der bäuerlichen Landwirtschaft (auf Haiti) in den 90er Jahren?

Noam Chomsky: Es begann schon mit Woodrow Wilson. Als Wilson (1915) eine Invasion durchführen ließ, die das gesamte Hispaniola einschloss (Haiti und die Dominikanische Republik), gingen sie in beiden Teilen Hispaniolas ziemlich gewaltsam vor. Das Vorgehen auf Haiti jedoch war weit brutaler. Die Gründe wurden klar zum Ausdruck gebracht.

Keane Bhatt: Rassismus.

Noam Chomsky: Yeah. Das US-Außenministerium sagte, die Dominikaner seien bis zu einem bestimmten Grad europäischen Blutes, daher wären sie nicht ganz so böse. Die Haitianer seien reine "Nigger". Also schickte Wilson die Marines, um das haitianische Parlament aufzulösen, denn dieses Parlament wollte US-Unternehmen nicht die Erlaubnis erteilen, haitianisches Land aufzukaufen. Er (Wilson) zwang sie, es zu tun. Das war nur eines der Gräuel, eines der Verbrechen. Bleiben wir bei dem oben genannten Beispiel: Es beschleunigte die Vernichtung der haitianischen Landwirtschaft und die Landflucht in die Städte. Unter Reagan setzte sich dieser Prozess fort. Unter Reagan schufen (die amerikanische Hilfsorganisation) USAID und die Weltbank mehrere Programme, die explizit die haitianische Landwirtschaft zerstören sollten - explizit. Sie kaschierten es nicht. Als Begründung sagten sie, es wäre besser, wenn Haiti kein Agrarsystem sondern produzierende Fabrikanlagen hätte. Also arbeiteten Frauen unter miserablen Bedingungen; sie nähten Baseball-Bälle zusammen. Das war ein weiterer Schlag für die Landwirtschaft Haitis. Aber selbst unter Reagan baute Haiti den meisten Reis für den Eigenverbrauch noch selbst an. Dann kam Clinton.

Clinton brachte zwar Aristide zurück an die Macht, aber natürlich unterstützte Clinton die Militärjunta (noch so eine kleine, heimliche Geschichte)…. Im Grunde hat er die Militärjunta sogar sehr unterstützt. Er erlaubte der Ölfirma Texaco sogar, Öl an die Junta zu verkaufen - was gegen die Direktiven des Präsidenten verstieß. Ebenso hatte sich Bush senior verhalten. Zu guter Letzt ließ er es zu, dass Präsident Aristide zurückkehrte, allerdings nur unter der Bedingung, dass Aristide die Programme von Marc Bazin akzeptieren würde. Bazin war bei den Wahlen 1990 der von den USA unterstützte Kandidat gewesen und Aristide unterlegen. Es war ein hartes neoliberales Programm, das keinerlei Importbeschränkungen vorsah. Das bedeutet, dass Haiti heute Reis und andere Agrarprodukte aus den USA importieren muss (produziert vom US-Agrobusiness, dessen Profite zu einem wesentlichen Teil aus Staatssubventionen stammen). Das hoch subventionierte amerikanische Agrargeschäft überschwemmt Haiti mit Produkten. Ich meine, die haitianischen Reisbauern sind effizient - aber niemand könnte gegen so etwas in Wettbewerb treten. Das hat die Flucht in die Städte beschleunigt. Und es ist auch nicht so, dass ihnen nicht klar war, was passieren würde. 1995 veröffentlichte USAID mehrere Berichte, in denen stand, dass dies zur Vernichtung der haitianischen Landwirtschaft führen würde - eine gute Sache. Die Landflucht trat ein. 2008 kamen die Hungeraufstände - weil die Leute ihre eigene Nahrung nicht mehr produzieren können. Und nun haben wir also eine Katastrophe, die auf Klassenzugehörigkeit basiert. Nach diesem Ausflug in die Geschichte - und es war wirklich nur ein winzig kleiner Ausflug -, denke ich, es wäre angebracht, dass die USA für ihre Vergangenheit massive Reparationen zahlen sollten anstatt nur Hilfe zu leisten. Das gilt auch für Frankreich. Die Rolle Frankreichs ist grotesk.

Keane Bhatt: Angesichts dessen, dass Aristide schon so lange im Exil ausharrt, möchte ich die Frage stellen: War es eine richtige Entscheidung von ihm, 1994 unter diesen Bedingungen (mit US-Soldaten) nach Haiti zurückzukehren? Und war es richtig von ihm, den neoliberalen Reformen des ‘Pariser Abkommens’ (Paris Accords) zuzustimmen? Natürlich stand er damals unter enormem Druck.

Noam Chomsky: Nun, zufällig befand ich mich um diese Zeit herum - 1993 - auf Haiti. Ich blieb dort eine Weile. Es war auf dem Höhepunkt des Terrors. Ich bin wirklich schon an einigen schrecklichen Orten dieser Welt gewesen, an einigen der allerschrecklichsten, doch ich glaube, noch nie habe ich soviel Elend und Terror gesehen wie unter der haitianischen Junta, die damals von Clinton unterstützt wurde. Damals fanden viele Diskussionen statt. So sprach ich zum Beispiel mit dem inzwischen verstorbenen Pater Gérard Jean-Juste (1946-2009), der eine der populärsten Figuren auf Haiti war. Kurz zuvor hatte ihn die Regierung aufgefordert, das Land zu verlassen. Er hielt sich zu jener Zeit im Untergrund auf - in einer Kirche. Haitianische Freunde brachten mich zu ihm. Er stand weiten Teilen der Bevölkerung sehr nahe. Ich sprach auch mit gefolterten, verprügelten Gewerkschaftsführern, die dennoch bereit waren zu sprechen. Ich sprach mit Aktivisten und anderen. Die meisten sagten mir das Gleiche wie Pater Jean-Juste: "Sehen Sie, ich will keine Invasion der Marines. Ich halte das für eine schlechte Idee. Auf der anderen Seite halten meine Leute - die Menschen in den Slums, La Saline, Cite Soleil usw., nicht länger durch", so der Pater, "die Folter ist zu schrecklich, der Terror ist zu schrecklich. Sie werden alles akzeptieren, was dem ein Ende bereitet". Das war das Dilemma. Ich habe keine Antwort darauf.

Keane Bhatt: War es falsch, dass Aristide 1991 - nach dem Putsch, als manche (einige seiner militanteren Unterstützer) zum bewaffneten Kampf auf Haiti aufriefen, um die Demokratie wiederherzustellen -, dagegen argumentierte?

Noam Chomsky: Meiner Meinung nach nicht. Ein bewaffneter Kampf hätte zu einem schrecklichen Abschlachten geführt.

Keane Bhatt: Am 17. Februar wurde Sarkozy (auf Haiti) mit Straßenprotesten empfangen. Tausende von Haitianern hielten Bilder von Aristide hoch. Sie forderten dessen Rückkehr sowie Reparationszahlungen für das, was die Franzosen (als Kompensation) für die damalige Anerkennung der Unabhängigkeit Haitis herausgepresst hatten. Bei der gleichen Veranstaltung wurde (der haitianische Präsident) Preval niedergeschrien und zog sich in seinen Jeep zurück.

Halten Sie - angesichts der Stimmung, die sich auf Haiti zusammenbraut -, die Rückkehr Aristides für eine wichtige Priorität, oder denken Sie, es wäre zwar wünschenswert aber nicht dringlich?

Noam Chomsky: Nun, die Antwort darauf wird aus Washington kommen. Die USA und Frankreich - die beiden traditionellen Folterer Haitis -, haben Aristide 2004 im Grunde gekidnappt. Zuvor hatten sie alle internationalen Hilfen für das Land - unter Vorspiegelung äußerst dubioser Rechtfertigungen - die Begründungen waren unglaubwürdig -, blockiert. Dies hat der fragilen haitianischen Wirtschaft natürlich enormen Schaden zugefügt. Chaos brach aus. Die USA, Frankreich und Kanada kamen und entführten Aristide (sie sagten, sie würden ihn retten). Sie kidnappten ihn und flogen ihn nach Zentralafrika aus. Seine Partei, Fanmi Lavalas, wurde verboten (was vermutlich die äußerst geringe Wahlbeteiligung bei den letzten Wahlen erklärt). Die USA versuchen, Aristide nicht nur von Haiti fernzuhalten, sondern von der gesamten Hemisphäre.

Keane Bhatt: Warum sollte sich Aristide zwingen lassen, im Exil zu bleiben? Wie (genau) wird sein Status als ‘persona non grata’ in dieser Hälfte der Welt weiterhin gerechtfertigt und durch wen? Was könnte ihn davon abhalten, in ein befreundetes Land nicht weit von Haiti - sagen wir, Venezuela - zu fliegen?

Noam Chomsky: Nach Venezuela könnte er vielleicht. Doch wenn er versuchen würde, zum Beispiel in die Dominikanische Republik einzureisen, würde man ihn - aus gutem Grund - nicht hereinlassen. Außenpolitik hat viel Ähnlichkeit mit der Mafia. Ein kleiner Ladenbesitzer beleidigt den Paten nicht. Das wäre zu gefährlich. Wir können so tun, als ob dem nicht so wäre, doch das ändert nichts an der Realität. Wenn ich mich recht entsinne, hatte ein Land Aristide die Einreise erlaubt. Ich glaube, es war Jamaika. Es kam zu ernsten Protesten und enormem Druck aus den USA. Nicht viele Länder sind gewillt, das Risiko einzugehen, die USA zu beleidigen. Die USA sind eine gefährliche und gewalttätige Supermacht. Das brauche ich Ihnen nicht zu erklären, Sie kennen sich mit der Geschichte der Dominikanischen Republik aus. Ich muss es Ihnen nicht erläutern. So funktioniert das eben.

Keane Bhatt: Können wir uns jetzt der aktuellen Geschichte der Dominikanischen Republik zuwenden - auf dem Hintergrund des von Ihnen angesprochenen historischen Vermächtnisses der USA? Die Dominikanische Republik leistete humanitäre Hilfe (für Haiti) und füllte so das Vakuum des schwachen haitianischen Staates. Doch wenn wir zurückgehen zu den Ereignissen, die zum (zweiten) Staatsstreich von 2004 führten, so destabilisierte die Dominikanische Republik - unter der Ägide der USA - Haiti in aktiver Weise, indem sie die paramilitärischen Rebellen unter Guy Philippe und Louis Jodel Chamblain trainierte…

Noam Chomsky: Ich weiß - und indem sie ihnen eine Basis bot.

Keane Bhatt: Besteht nicht ein gewisser Widerspruch darin, den Menschen karitativ zu helfen, zu deren Vernichtung und Destabilisierung man vorher beigetragen hat?

Noam Chomsky: Nun, Sie können das als Widerspruch bezeichnen, wenn Sie möchten. Es ist jedoch auch ein Widerspruch, wenn Sarkozy und Clinton auf Haiti auftauchen, ohne sich explizit für die furchtbaren Verbrechen zu entschuldigen, die Frankreich und die USA unter Clinton (vor allem unter Clinton) Haiti gegenüber begangen haben. Doch sie tun es nicht. Der Boss von Toyota musste sich vor den US-Kongress stellen und sich stundenlang dafür entschuldigen, dass einige Menschen durch Toyota-Autos zu Tode kamen. Muss Clinton sich etwa für das entschuldigen, was er Haiti angetan hat? Er hat (Haiti) den Todesstoß versetzt. Muss sich Sarkozy dafür entschuldigen, dass Haiti einst Frankreichs reichste Kolonie war, dass Frankreich Haiti einen großen Teil seines Reichtums verdankte? Frankreich zerstörte Haiti und forderte anschließend eine Ablöse - als Preis dafür, dass sie (die Haitianer) sich (1804) befreit hatten. Haiti vermochte diese Forderungen nie abzuschütteln.

Vor einigen Jahren - ich glaube, es war 2002 - appellierte Aristide an Frankreich, an Chirac, eine gewisse Wiedergutmachung zu leisten, angesichts der enormen Schulden, die Haiti gegenüber Frankreich beglichen hatte….

Keane Bhatt: 21 Milliarden Dollar…

Noam Chomsky: … yeah, für diese Riesensumme, die Haiti ihnen hatte zahlen müssen. Dann setzten sie (die Franzosen) eine Kommission ein. Diese stand unter Leitung von Regis Debray - dem ehemaligen Radikalen. Die Kommission sagte, Frankreich müsse keinerlei Kompensation leisten. Anders gesagt: Zuerst plündern wir sie aus und machen sie nieder, und wenn sie um ein wenig Hilfe bitten, schlagen wir sie ins Gesicht. Es ist nicht überraschend.

Keane Bhatt: Quellen behaupten, Frankreich habe zwar eine gleichgültige Fassade bewahrt, sei aber gleichzeitig besorgt gewesen, irgendein Staatsoberhaupt könnte einen rechtlichen Fall daraus machen - gestützt auf überwältigende dokumentierte Beweise - und vor die internationale Gerichtsbarkeit bringen.

Noam Chomsky: Nun, sie brauchten sich nicht wirklich Sorgen zu machen. Wenn man bedenkt, wie Machtpolitik funktioniert, so hat der Internationale Gerichtshof (World Court) keine Macht. Schauen Sie, zur Zeit gibt es ein Land auf der Welt, das sich weigert, die Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofes anzuerkennen. Dieses Land heißt Amerika. Geht irgendjemand in irgendeiner Weise dagegen vor?

Keane Bhatt: Sie haben vorhin Clinton erwähnt. Er ist nun der UNO-Sondergesandte für Haiti. Er will ausländische Investoren anlocken. Was die wirtschaftliche Entwicklung Haitis angeht, will er den Schwerpunkt weiterhin auf den textilen Niedriglohnsektor legen. Die UNO sieht Haiti vorwiegend aus der Perspektive des neoliberalen Ökonomen Paul Collier. Dieser war 2009 ja Sonderberater der UNO. Er selbst vertritt die Denkweise ‘Wachstum durch Sweatshops’. Er lobte die überwiegend ungeliebten MINUSTAH-Besatzungstruppen auf Haiti überschwänglich. Er sagte sogar, die Dominikanische Republik "sei nicht an Aktivitäten wie der heimlichen Unterstützung von Guerilla-Gruppen beteiligt, wie dies bei vielen anderen fragilen Staaten der Fall ist". Kann ein echter Menschenrechtler, wie Paul Farmer, der für ein anderes Entwicklungsmodell steht (basierend auf fairer Entlohnung und öffentliche Gesundheit) den Einfluss des haitianischen Staates in der UNO stärken? Er ist ja stellvertretender UNO-Sondergesandter für Haiti geworden.

Noam Chomsky: Es war eine harte Entscheidung. Ich gebe ihm keine Schuld, weil er den Versuch unternimmt. Wir leben nun einmal in dieser Welt und nicht in einer, die uns lieber wäre. Manchmal ist es nötig, einen Weg zu beschreiten, der schmerzvoll ist - wenn wir uns davon erhoffen, das Leid der Menschen wenigstens ein klein wenig zu lindern. Es ist wie mit Pater Jean-Juste und den Marines.

Keane Bhatt: Sie sprachen einmal darüber, dass die Medien einen künstlichen Unterschied zwischen der "Guten Linken" und der "Bösen Linken" Südamerikas geschaffen hätten. Die wesentliche Zusammenarbeit zwischen Brasilien und Venezuela werde ignoriert, um diese Perspektive aufrechterhalten zu können. Aber hat sich Brasilien - was Haiti betrifft -, nicht tatsächlich mit Fug und Recht einen sicheren Platz bei der "Guten Linken" verdient? Die Mittelinks-Regierung eines Landes des Südens (Brasilien) leitet die Okkupation der MINUSTAH und hat sich sogar verpflichtet, deren Präsenz aufzustocken. Zuvor hatte Brasilien den Stab von den imperialen Architekten des Putsches (Frankreich, USA, Kanada) übernommen.

Welche Faktoren haben nun aktuell dazu geführt, dass sich Brasilien im Falle eines anderen abgesetzten Präsidenten (Zelaya), der aus einem geopolitisch ebenso unbedeutenden Land (Honduras) kommt, so vehement engagiert hat?

Noam Chomsky: Das sind gute Fragen. Ich habe allerdings nichts Brauchbares über die Entscheidungen Brasiliens gelesen.

Keane Bhatt: Möchten Sie noch etwas zu den US-Medien sagen - bezüglich ihres Umgangs mit Haiti nach dem Erdbeben? Zum Beispiel zu Pat Robertson ("Pakt mit dem Teufel") oder zu David Brook ("fortschrittsresistente Kultur") oder zu Kristofs Appell an das transnationale Kapital, weitere Sweatshops zu schaffen oder zu Jon Lee Andersons Aussage, Aristide sei ein Despot und Betrüger. Selbst Amy Wilentz verglich Aristide in der New York Times mit (dem ehemaligen haitianischen Diktator) Duvalier.

Noam Chomsky: Zum großen Teil war es abscheulich, aber ich bin nicht auf dem Laufenden geblieben. Das Schlimmste ist allerdings, dass wir unsere eigene beschämende Rolle, die zu dieser Katastrophe beigetragen hat, ignorieren, und daher nicht bereit sind, uns so zu verhalten, wie jeder anständige Mensch dies tun würde und massive Reparationen - an Organisationen des Volkes - zu leisten. Das Gleiche gilt auch für Frankreich.

Keane Bhatt: Ich denke, meine letzte Frage wird wohl erst in Zukunft beantwortet werden können: Die beiden Jahrzehnte zwischen 1990 und 2010 waren für Haiti entmutigende Jahre - was die Volksmobilisierung, den politischen Wandel und die Frage, wie es weiter gehen soll, angeht. Ich frage mich, nachdem sich das haitianische Volk 25 Jahre lang mit der parlamentarischen Demokratie herumgequält und dabei so wenig erreicht hat, welche Lehre es wohl daraus ziehen wird? Wie sehen die möglichen Strategien aus - nachdem der parlamentarisch-demokratische Ansatz ausgereizt ist, nach zwei Staatsstreichen und Tausenden von Gefolterten und Ermordeten im Verlauf dieses Prozesses?

Noam Chomsky: Leider lautet die Lektion: Ein kleines, schwaches Land, das sich einer extrem feindseligen und gewalttägigen Supermacht gegenübersieht, wird kaum Fortschritte erzielen können, es sei denn, es existiert eine starke Solidaritätsbewegung innerhalb dieser Supermacht, die mäßigend auf deren Handeln einwirkt. Hätte Haiti mehr Unterstützung innerhalb der USA gefunden, so wäre es erfolgreich gewesen, denke ich.

Das gilt auch gerade im aktuellen Fall. Nehmen wir die Hilfe, die eintrifft. Diese Hilfe kommt, weil wir zeigen müssen, dass wir nette Leute sind usw.. Allerdings sollte diese Hilfe an die Volksorganisationen von Haiti gehen und nicht an Kontraktoren oder NGOs, sondern an Organisationen des haitianischen Volkes. Sie sollten Diejenigen sein, die über deren Verwendung entscheiden. Nun, wie Sie wissen, entspricht das nicht der Zielsetzung der G7. Sie wollen keine Volksorganisationen. Sie mögen keine Volksbewegungen. Sie mögen - so gesehen - auch keine Demokratie. Sie wollen, dass die Reichen und Mächtigen die Dinge lenken. Doch gäbe es in den USA und in der Welt eine starke Solidaritätsbewegung, könnte sich dies ändern.

Keene Bhat ist Aktivist u. Jazz-Musiker aus New York. Er hält sich als Freiwilliger in der Dominikanischen Republik auf.

Noam Chomsky ist Professor für Linguistik am Massachusetts Institute of Technologie (MIT) und hat in den 60er Jahren die Vorstellungen über Sprache und Denken revolutioniert. Zugleich ist er einer der prominentesten und schärfsten Kritiker der gegenwärtigen Weltordnung und des US-Imperialismus.

 

Quelle: ZNet Deutschland vom 12.03.2010. Originalartikel: Chomsky on Haiti . Übersetzt von: Andrea Noll.

Fußnoten

Veröffentlicht am

16. März 2010

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