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Uri Avnery: Ein Geburtstagsgeschenk

Von Uri Avnery, 17.04.2010

GESTERN GING ich zur Klinik, um eine Spritze zu bekommen. Es war ein schöner Tag, sonnig, aber nicht zu heiß. Der Weg zur Klinik hin und zurück, einschließlich des Wartens benötigte nur etwas mehr als eine Stunde. Während dieser Zeit machte ich folgende Erfahrungen:

Der Taxifahrer erzählte mir, er habe vor Jahren neben Asher Yadlin gelebt, der Mann einer größeren Korruptionsaffäre in den 70er-Jahren, die von meinem Magazin Haolam Hazeh aufgedeckt wurde. "Wie erschrocken waren wir damals!", erklärte er, "wir glaubten nicht, dass solch eine Sache möglich sei! Und was geschieht heute!?" Er meinte damit den Skandal rund um das riesige Holyland-Hausprojekt in Westjerusalem, in den ein früherer Ministerpräsident, zwei frühere Bürgermeister, einige Geschäftsmagnaten und ranghohe Beamte verwickelt sind - eine Bestechungsaffäre, die hundertmal größer ist als das damalige Yadlin-Geschäft.

Während ich in der Klinik wartete, wurde ich von einem alten Mann angesprochen (der - wie sich herausstellte - ein Jahr jünger als ich ist), eine schmächtige Person, die eine Golfmütze trug, und die anfing, mir ihre Lebensgeschichte zu erzählen. "Ich kämpfte im Warschauer-Ghetto-Aufstand", fing er an. Ich versuchte, wegzukommen, aber bevor ich einen Ausweg fand, war ich von seiner Geschichte gefangen.

Als der Ghetto-Aufstand 1943 begann, lebte er gegenüber der Wohnung des legendären Führers Antak Zuckermann in der berühmten Millastraße. Er war damals kaum 18 Jahre alt. Irgendwie überlebte er und geriet (ich weiß nicht wie) in das Warschauer Zentralgefängnis, in dem die Deutschen jeden Tag Leute exekutierten. Da es zu jener Zeit keine Juden mehr gab, waren die Opfer Polen - Priester und Mitglieder der Intelligenzija.

Im August 1944, als der große Aufstand in Warschau ausbrach, befreiten ihn die Rebellen aus dem Gefängnis. Von ihnen gab es zwei Arten: die rechte Fraktion - die Heimatarmee - die antisemitisch eingestellt war und die linke, die aus Sozialisten und Kommunisten bestand. Jachek (wie er damals genannt wurde) wurde von den Rechten befreit, aber sie behandelten ihn gut, gaben ihm ein Gewehr und eine rot-weiße Armbinde.

Die polnischen Aufständischen kooperierten nicht mit den Russen, die schon in der Nähe waren ("Sie hassten die Russen mehr als die Deutschen", kommentierte Jachek). Stalin stoppte sein Militär, und die Rebellen waren gezwungen, sich nach 63 Tagen Kampf den Deutschen zu ergeben. Jachek und ein anderer jüdischer Junge fanden in dem zerstörten Ghetto einen Bunker, wo sie sich 10 Monate - bis zur Ankunft der Roten Armee - unter der Erde verstecken konnten.

All dies erzählte er mir, während wir dort warteten, sein Gesicht nur wenige Zentimeter von meinem entfernt, seine hellblauen Augen verrieten seine Frustration, seine Geschichte in dieser Art zu erzählen, wozu er sonst Stunden benötigt. Ich war froh, als ich hörte, jemand würde ein Buch über ihn schreiben.

Mittendrin näherte sich uns ein etwa 60jähriger Mann und erzählte mir, dass er mich zweimal gewählt hätte. "Nicht dass ich mit allen Ihren Ansichten übereinstimme", bekannte er, "aber ich wollte, dass intelligente Leute in der Knesset sitzen." Ich muss zugeben, dieses Motiv war mir neu.

Bevor ich nach Hause ging, betrat ich noch ein Geschäft in der Nähe. Dort traf ich eine Frau, die ich von vor 40 Jahren kannte, als ihr Mann der Manager des "Kammer-Quartetts" war, vielleicht die hervorragendste Satiregruppe in der Geschichte Israels. Ihr Schwager, Yehiel Kadisai, war der treue Sekretär von Menachim Begin. Er war für seine totale Ergebenheit gegenüber seinem Führer bekannt - nicht wegen irgendeines persönlichen Gewinns. Wir verglichen das Israel von damals mit dem Israel von heute.

Der Taxifahrer, der mich dann nach Hause fuhr, erzählte mir, er sei kürzlich aus Las Vegas zurückgekehrt. Er war in die USA gekommen, weil seine Frau für Binyamin Netanyahu arbeitete, als er Botschafter Israels bei der UN war. Nachdem er einige glückliche Jahre in der Hauptstadt des Glücksspiels gelebt hatte, entließ die Gesellschaft, für die er arbeitete, 17.000 Beschäftigte auf einen Schlag. Er war sieben Monate arbeitslos. Als er wegen einer Hochzeit in der Familie nach Israel zurückkam, sah er, dass die israelische Wirtschaft blühte. So entschied er sich, vorläufig hier zu bleiben. Eine israelische Flagge wehte über seinem Taxi, und er klang äußerst zufrieden.

DIES SIND zufällige Beispiele von Israelis am Vorabend des Unabhängigkeitstages 2010.
Erinnerungen an den Holocaust, Nostalgie nach einem unschuldigeren Israel, Wut über Korruption, Zufriedenheit mit der israelischen Wirtschaft, die in einer Zeit blüht, während die ganze Welt in einer Wirtschaftskrise steckt. Kein einziges Wort über Frieden. Kein einziges Wort über die Besatzung.

Wenn ich diese Leute gefragt hätte, was sie darüber denken, würde ich wahrscheinlich ein und dieselbe Antwort von allen bekommen haben: Frieden ist eine gute Sache. Wir wollen Frieden. Für Frieden wären wir bereit, besetzte Gebiete aufgeben, ja sogar Ost-Jerusalem und zur Hölle mit den Siedlungen! Aber was tun? Wir haben keinen Partner. Die Araber wollen keinen Frieden. Deshalb wird es keinen Frieden geben - nicht morgen, nicht in zehn, nicht in fünfzig Jahren. Da kann man nichts tun. So ist es nun mal.

Wenn ich dieselbe Stunde in ähnlicher Gesellschaft in Ramallah verbracht hätte, würde ich wahrscheinlich sehr ähnliche Antworten erhalten haben. Bittere Erinnerungen an die Nakba, Zorn über die Korruption in den oberen Kreisen, vielleicht sogar etwas Befriedigung über die Verbesserung der wirtschaftlichen Situation in der Westbank. Und kein bisschen Glaube an Frieden. Da kann man nichts tun. So ist es nun mal.

Wenn Barack Obama und seine Mitarbeiter die Absicht haben, mit ernsthaften Friedensbemühungen anzufangen, wie es jetzt scheint, dann sollten sie folgendes bedenken: bevor sie sich an die schwierigen Probleme des Friedenstiftens machen, muss auf beiden Seiten die große Skepsis gegenüber dem Frieden überwunden werden. Jede Seite ist vollkommen davon überzeugt, dass die andere Seite keinen Frieden will, und sie bringt ein Dutzend Beweise aus dem wirklichen Leben.

Dieser Mangel an Glauben ist das Ergebnis von 120 Jahren Konflikt, eine endlose Kette von Gewalt, Kriegen und Krisen, für die jede Seite die andere verantwortlich macht. Die Palästinenser sehen die Israelis als landraubende Diebe, die Israelis sehen die Araber als Kannibalen mit Messern zwischen ihren Zähnen.

Dieser Mangel an Glauben ist auch sehr bequem. Wenn es keine Chancen gibt, besteht keine Notwendigkeit, etwas zu tun. Kein Grund aufzustehen, zu handeln, zu demonstrieren, etwas zu ändern. Es kann nichts gemacht werden. So ist es eben.

VOR EINIGEN Tagen veröffentlichten zwei amerikanische Persönlichkeiten ein wichtiges Dokument.

Zbigniew Brzezinsky war der nationale Sicherheitsberater von Präsident Jimmy Carter. Er wurde als Falke angesehen, aber vor allem war er ein Realist. Er spielte eine bedeutende Rolle, in der er China näher an die USA brachte, in der er die Mujahidin in Afghanistan gegen die sowjetischen Eindringlinge bewaffnete, indem er einer der Gastgeber bei der Camp David Konferenz 1978 war, die die Grundlage für den israelisch-ägyptischen Frieden legte. Dort spielte er Schach mit Begin. (Vielleicht haben sie mit einander polnisch gesprochen). Vor einigen Jahren rief er Präsident George W. Bush dazu auf, die amerikanische Politik im Nahen Osten zu verändern, wozu auch eine Veränderung der negativen Haltung gegenüber der Hamas gehört.

Stephen Solarz war ein Kongressmann. Ein jüdischer New Yorker, der auf ausländische Beziehungen spezialisiert war. Er spielte eine Rolle bei den amerikanischen Beziehungen mit Nord-Korea und den Philippinen. Vor vielen Jahren hatte ich mit ihm ein Gespräch und war von seinem emotionalen Engagement für den israelisch-palästinensischen Frieden beeindruckt.

Wenn zwei solche Persönlichkeiten gemeinsam ein Manifest veröffentlichen, müssen sie in den USA Aufmerksamkeit wecken. Aber der Inhalt des Dokumentes ist nicht weniger bedeutend als die Identität der Autoren.

Die beiden machen einen praktischen und detaillierten Vorschlag, der die folgenden Schritte einschließt:

  • Präsident Obama wird nach Jerusalem kommen und sich direkt von der Rednertribüne aus in der Knesset an die israelische Öffentlichkeit wenden.
  • Er wird dasselbe in Ramallah tun und sich an die palästinensische Öffentlichkeit wenden.
  • Er wird eine Rede in der Altstadt von Jerusalem halten und sich an alle Völker im Nahen Osten wenden.

Bei all diesen Reden wird Obama einen amerikanischen Friedensplan vorlegen.

ICH GLAUBE, dass dies eine ausgezeichnete Idee ist (und nicht nur weil Präsident Anwar Sadat von Ägypten den ersten Schritt mit beträchtlichem Erfolg machte, und nicht nur, weil ich vor einigen Monaten vorgeschlagen hatte, Obama solle eine Rede in der Knesset halten). Es ist vernünftig, praktisch und realisierbar.

Seit vielen Jahren glaube ich, dass es keinen Ersatz für einen direkten Dialog gibt ohne eine dritte Partei. Frieden ist der Rahmen zum Leben für beide Völker, und allein der Mechanismus des Friedenmachens kann viel zu ihrer Versöhnung beitragen. Wenn außerdem eine dritte Partei beteiligt ist, wendet sich jede Seite an sie und nicht an den Gegner. Außerdem radikalisieren beide Seiten ihre Positionen, um etwas zu haben, das sie bei einem Kompromiss aufgeben können.

Die Oslo-Erfahrung hat dies bewiesen. Das Abkommen hatte hinter dem Rücken der Amerikaner und der ganzen Welt in direkten Gesprächen ohne Vermittler stattgefunden. Die Norweger agierten nur als diskrete Gastgeber. Die Geschichte brachte zwei tapfere Führer zusammen - Yasser Arafat und Yitzhak Rabin - die fähig gewesen wären, den wirklichen Frieden voran zu bringen.

Doch er misslang. Wenn eine Seite viel stärker als die andere ist, ist die stärkere Seite versucht, ihren Willen durchzusetzen. Rabin wurde öffentlich ermordet und Arafat starb unter Umständen, die kaum Zweifel lassen, dass auch er ermordet wurde. Das große Experiment schlug fehl und ließ eine Situation zurück, die schlimmer als die vorherige war. In solch einer Situation ist das Engagement einer dritten Partei - der USA - notwendig.

Man spricht von einem "aufgezwungenen Frieden". Aber das ist nicht der richtige Ausdruck. Es ist unmöglich, Völkern Frieden aufzuzwingen, die es nicht wollen. Bestenfalls führt dies zu einer Unterschrift auf einem Stück Papier, das keine Chance hatte, erfüllt zu werden.

Die Aufgabe der USA ist, nicht "aufzuzwingen", sondern zu "überzeugen" - und ich benütze das Wort nicht zynisch.

Zu überzeugen bedeutet: die israelische und palästinensische Öffentlichkeit zu der Überzeugung zu führen, dass Frieden möglich ist, dass die andere Seite ihn auch nötig hat, dass jemand dafür sorgen wird, dass die Bedingungen eingehalten werden, dass jemand ihre Sicherheit in der nächsten Zeit und auf Dauer garantieren wird. Und der wichtigste Punkt: dass jede Partei davon nur profitieren wird.

In Israel wird Obama die realen Ängste eines vom Holocaust gezeichneten Volkes berücksichtigen müssen und den Samen der Hoffnung wieder einpflanzen, um den Glauben aufzubauen, dass es für Israel in der Familie der Nahost-Nationen einen Platz gibt, die Überzeugung bestärken, dass die US Israel bei zukünftigen Krisen nicht im Stich lassen wird, aber auch Israel vor den ernsten Gefahren warnen, denen es gegenübersteht, wenn die Zweistaatenlösung nicht sehr bald realisiert wird.

In Palästina wird er die Ängste eines von der Nakba traumatisierten und von der Besatzung geschädigten Volkes berücksichtigen müssen; die Realisierung der Hoffnung der Palästinenser versprechen: die Unabhängigkeit innerhalb von zwei Jahren zu erreichen; dass die USA keine ethnische Säuberung zulässt, aber auch auf die existentielle Gefahr hinweisen, die sie bedroht, wenn der Staat Palästina nicht bald neben Israel Realität wird. Er muss auch das Veto der USA aufheben, das einer Fatah-Hamas-Versöhnung auferlegt wurde.

Obama muss beiden Völkern einen fairen, ausbalancierten und realistischen Friedensplan vorlegen, der in die kleinsten Details geht, und mit einem vernünftigen doch festgesetzten Zeitplan, einem Plan, der jeder Seite erlaubt, zu behaupten, den Sieg errungen zu haben.

Obama ist ein Mann mit vielen Talenten, vor allem aber hat er die Fähigkeit zu überzeugen. Er ist in der Lage, die tiefen Emotionen der Leute und der Völker anzurühren. Ich hoffe, er benützt dieses Talent zugunsten der beiden seit langem leidenden Völker dieses gequälten Landes.

Zum 62. Jahrestag der Gründung des Staates Israels könnte ich mir kein schöneres Geschenk vorstellen.

Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert.

Weblinks:

Veröffentlicht am

20. April 2010

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