Atomwaffen adieu? US-Nuklearwaffen in Europa auf der NATO-AgendaVon Wolfgang Kötter Die US-amerikanischen Atombomben in Europa sind Relikte des Kalten Krieges und haben dort schon lange nichts mehr verloren. Das sagten in der Vergangenheit zumeist Friedensgruppen und Abrüstungsanhänger. Nun aber hat die Forderung auch die Parlamente und Regierungen erreicht. Auf Antrag von Belgien, Deutschland, Luxemburg, den Niederlanden und Norwegen beschäftigen sich sogar die NATO-Außenminister auf ihrem heute in der estnischen Hauptstadt Tallinn beginnenden Treffen mit einem möglichen Abzug der noch verbliebenen Atomwaffen aus den europäischen Stationierungsländern. In einem Brief an NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen erinnern die Fünf daran, dass US-Präsident Obama die Vision einer atomwaffenfreien Welt entwickelt und versprochen hat, sich um eine substantielle Reduzierung strategischer Nuklearwaffen und eine verringerte Rolle atomarer Waffen zu bemühen. Sie wollen das Treffen kurz vor der Konferenz zur Überprüfung des Atomwaffensperrvertrages im Mai zu einer Diskussion über ein neues strategisches Konzept der NATO und die Zukunft der US-Atomwaffen in Europa nutzen. Nicht nur der deutsche Bundestag verabschiedete einen entsprechenden Antrag, Abgeordnete mehrerer europäischer Parlamente fordern den US-Präsidenten in einem offenen Brief auf, die Frage der US-Atomwaffen in ihren Ländern nach dem Abschluss der START-Verhandlungen vorrangig zu behandeln. "Es ist der tiefe Wunsch der Mehrheit der Menschen in Europa, dass taktische Atomwaffen zurückgezogen und eliminiert werden", heißt es in dem Brief. Europa als atomares MinenfeldTatsächlich war Europa während des Kalten Krieges mit Atomwaffen regelrecht zugepflastert und die beiden deutschen Staaten gehörten zu den am dichtesten bestückten Regionen. Allein im Westen waren Berechnungen der Federation of American Scientists zufolge etwa 7.300 Atomsprengköpfe der Alliierten deponiert. Ab 1953 verlegten die USA zunächst als "Atomic Annie" bezeichnete Atomgeschütze, dann atomare Fliegerbomben, später aber auch Granaten, Raketen und Atomminen in die Bundesrepublik. Berühmtberüchtigt wurde der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer mit seiner Forderung nach Ausrüstung der Bundeswehr mit taktischen Atomwaffen, denn sie seien ja "nichts weiter als die Weiterentwicklung der Artillerie". Einer der emsigsten Befürworter des deutschen Kernwaffenbesitzes, der Atom- und spätere Verteidigungsminister Franz Josef Strauß, befand, die Deutschen könnten "den Russen doch nicht mit Pfeil und Bogen" gegenüberstehen. Zahlreiche Dokumente und Veröffentlichungen bestätigen inzwischen, dass die Alt-BRD in den 1950er und -60er Jahren sogar noch hartnäckiger als damals befürchtet nach den verheerendsten Massenvernichtungswaffen der Menschheitsgeschichte strebte. Misstrauisch verfolgten die jeweiligen Bundesregierungen das von den Großmächten USA und Sowjetunion betriebene Projekt eines Nuklearen Nichtverbreitungsvertrages. Strauß verunglimpfte das Abkommen in Anspielung auf die für Deutschland nachteiligen Regelungen nach dem 1. Weltkrieg als "ein neues Versailles und zwar eines von kosmischen Ausmaßen" und Adenauer schmähte es als "Tragödie für uns Deutsche". Doch der Vertrag war nicht zu verhindern. Darum bemühten sich die bundesdeutschen Diplomaten während der Verhandlungen zumindest darum, die nukleare Statusdifferenz zu den Atommächten so gering wie möglich zu halten und den entstehenden Vertrag für die eigenen Ansprüche zurechtzubiegen. Erst mit sechzehn Monaten Verspätung unterzeichnete die sozialliberale Regierung Brandt/Scheel den am 1. Juli 1968 abgeschlossenen Atomwaffensperrvertrag. Weitere vier Jahre vergingen, bevor der Bundestag den Vertrag am 24. Februar 1974 ratifizierte, und die 90 Gegenstimmen aus der CDU/CSU-Fraktion zeugen von der seinerzeit massiven Front gegen den Atomwaffenverzicht. Gleich mehrere Sonderregelungen waren der Preis für den Beitritt der BRD: Die nukleare Teilhabe in der NATO, die atomare Forschung und Entwicklung einschließlich der "Dual-Use"-Nuklear-Technologie und schließlich das Bestehen auf die "europäische Option", die bedeutete, an einer möglichen "Europäischen Atomstreitmacht" teilzunehmen. Wie Altkanzler Helmut Schmidt bestätigte, wurden ab Mitte der 60er Jahre etwa 700 Atombomben heimlich in der Bundesrepublik gelagert. In einem Geheimabkommen hatten sich US-Präsident Johnson und Bundeskanzler Kiesinger am 18. September 1968 sogar darauf geeinigt, dass deutsche Korpskommandeure die Freigabe der Atomwaffen im NATO-Hauptquartier anfordern konnten, ohne dass die Bundesregierung informiert werden musste. Teilweise als Atomminengürtel an der Grenze zur DDR verlegt, besaß die Atom-Munition mit einer Sprengkraft zwischen 0,2 und 45 Kilotonnen bis zur dreifachen Zerstörungskraft der Hiroshima-Bombe. Miniatombomben sollten außerdem mit kleinen Fahrzeugen, Hubschraubern oder Personen zum Einsatzort transportiert werden. "Jeder atomare Krieg", so Helmut Schmidt rückblickend, "hätte große Teile des deutschen Volkes ausgelöscht." Im Osten waren seit 1958 sowjetische nukleare Trägermittel vorwiegend in den brandenburgischen Wäldern stationiert. Neueren Forschungsberichten zufolge hatten Spezialeinheiten auf vier Flugplätzen mindestens 200 Sprengköpfe deponiert. Sie lagerten zumeist in oberirdischen Bunkern - wie etwa auf dem einstigen Militärflughafen in Jüterbog. Ständige Atomwaffen-Depots sollen sich auch in Groß Dölln, Werneuchen, Brand und Finsterwalde befunden haben. Abzug der Atomwaffen auf der TagesordnungDer Ost-West-Konflikt ist inzwischen überwunden, dennoch stehen in Europa einer Entnuklearisierung auch gegenwärtig noch erhebliche Barrieren entgegen. Die Nuklearmacht Frankreich verfügt über ca. 300 Kernwaffen und Großbritannien besitzt rund 180 nukleare Sprengköpfe. Dazu kommen bis zu 200 Atombomben vom Typ B-61, von denen jede die fünffache Zerstörungskraft der Hiroshimabombe besitzt. Die USA haben sie in Belgien, Deutschland, Italien, den Niederlanden und in der Türkei stationiert. Zehn bis zwanzig davon lagern auf dem Bundeswehr-Fliegerhorst Büchel bei Cochem an der Mosel. Im Ernstfall würden entsprechend der "nuklearen Teilhabe" auch deutsche Piloten mit ihren Tornado-Jagdbombern diese Massenvernichtungswaffen zum Einsatzort fliegen. Obwohl Umfragen zufolge die Mehrheit der Bevölkerung die Beseitigung der Atomwaffen befürwortet, hat die Nukleare Planungsgruppe der NATO die Beibehaltung der geltenden Nuklearstrategie stets bekräftigt. Doch Widerstand kann durchaus erfolgreich sein. So trat Kanada bereits 1989 aus der technischen Teilhabe aus und Griechenland ist seit Anfang 2001 atomwaffenfrei. Nach der Vereinigung wurde auch Deutschland zumindest partiell von Atomwaffen befreit. Denn in den östlichen Bundesländern dürfen entsprechend dem 2+4-Vertrag über die deutsche Einheit keine Kernwaffen stationiert werden. Die gesamte russische Atomwaffeninfrastruktur wurde bis 1991/92 endgültig abgezogen. Somit bildet der Osten seither bereits de facto eine völkerrechtlich garantierte atomwaffenfreie Zone. Mit 20 Jahren Verspätung könnte jetzt vielleicht auch der Westen nachziehen. Das Pentagon hat bei den Überlegungen für eine neue Nuklearstrategie schon mal angedeutet, dass es auf die Atomwaffen in Europa möglicherweise verzichten könnte: "Diese regionalen Abschreckungsstrukturen und neuen Fähigkeiten (…) ermöglichen eine verringerte Rolle nuklearer Waffen in unserer nationalen Sicherheitsstrategie", heißt es in einem Papier. Und an anderer Stelle: "Aber die Rolle der US-Atomwaffen in diesen regionalen Abschreckungsstrukturen kann reduziert werden durch eine Stärkung der Rolle der Raketenabwehr und anderer Fähigkeiten." Ohnehin haben die USA in den letzten Jahren stillschweigend ihre Stationierungsorte im britischen Lakenheath und im rheinland-pfälzischen Ramstein geräumt. Der Generalstabschef der russischen Streitkräfte Armeegeneral Nikolai Makarow reiste bereits nach Washington, um mit seinem Amtskollegen, dem Vorsitzenden der Vereinigten Stabschefs der USA Admiral Mike Mullen, über das Thema zu sprechen. Washington verfügt über etwa 1.200 nichtstrategische Atomwaffen, für Moskau schwanken die Schätzungen zwischen 4.600 und 8.000 Sprengsätzen. Die russischen Militärs behaupten, damit Unterlegenheiten bei den konventionellen Waffen ausgleichen zu müssen. Die bis an Russlands Grenzen vorgerückte NATO ist auf diesem Gebiet technologisch und zahlenmäßig haushoch überlegen. Darum macht es Sinn, dass auf der heutigen Tagesordnung im Tallinner Radisson Blu Hotel auch der KSE-Vertrag steht, der sich mit dem konventionellen Kräfteverhältnis befasst. Russland hat ihn seit 2007 ausgesetzt, weil der Westen die modifizierte Version nicht ratifiziert hat. Moskau fordert außerdem, den veränderten geostrategischen Verhältnissen in Europa Rechnung zu tragen. Es sind also spannende Verhandlungen zu erwarten. US-Atomwaffen in Europa
Quelle: Federation of American Scientists Die Kampagne "unsere zukunft - atomwaffenfrei"Die Kampagne startete im August 2007 mit dem Ziel, dass Deutschland bei der Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrages im kommenden Mai vor den Vereinten Nationen verkündet: "Deutschland ist atomwaffenfrei: Wir haben die nukleare Teilhabe beendet, als einen Schritt zu einer atomwaffenfreien Welt." Die Kampagne wird auf zwei Ebenen durchgeführt. Einerseits will sie durch Aktionen informieren und mobilisieren, andererseits soll durch Lobbyarbeit politischer Druck erzeugt werden. Unter dem Motto "unsere zukunft - atomwaffenfrei. next stop New York 2010" und mit vielen Veranstaltungen will die Kampagne in diesem Frühjahr die Grundlage dafür schaffen, eine neue Dynamik für die Abrüstung von Atomwaffen auszulösen und die Atomwaffen in Büchel abzuziehen und zu verschrotten. Denn nach Ansicht der Initiatoren werden die Bundesregierung, die NATO und alle Atommächte nur mit viel Druck und Engagement handeln. Die AbrüstungsaktivistInnen sind überzeugt: Gemeinsam mit allen gesellschaftlichen AkteurInnen können PolitikerInnen, engagierte Menschen der Friedensbewegung und die Kirchen in Deutschland es schaffen, dass Atomwaffen geächtet und aus Deutschland abgezogen werden.
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