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Interview mit der afghanischen Friedensaktivistin Malalai Dschoja (Joya)

TIME Magazine spielt falsches Spiel und unterschlägt ihre Botschaft

 

Von Sonali Kolhatkar, 04.05.2010 - AlterNet / ZNet

3. Mai 2010. Malalai Dschoja, die afghanische Aktivistin und ehemalige Abgeordnete des Afghanischen Parlamentes nimmt kein Blatt vor den Mund. Sie zählt zu den lautesten Gegnern des Krieges der USA und der Nato in Afghanistan. In einem aktuellen ArtikelIm Originalartikel finden Sie hier englischsprachige Links. forderte sie die USA auf: "Hört auf, meine Leute zu töten".

Vor nahezu drei Jahren wurde Dschoja aus dem Afghanischen Parlament ausgeschlossen, weil sie die Herrschaft der Warlords angeprangert hatte. Seither muss sie um ihr Leben fürchten. Sie hat mehrere Mordanschläge überlebt. Dennoch will sie weiterhin in Afghanistan leben. Ihre Memoiren ‘A Woman Among Warlords’Auf Deutsch ist dieses Buch noch nicht erschienen; erhältlich von Malalai Joya: ‘Ich erhebe meine Stimme’ (2009), die sie mit Unterstützung von Derrick O’Keefe verfasst hat, sind Ende vergangenen Jahres bei Simon and Schuster erschienen. In der vergangenen Woche setzte das TIME Magazine Dschoja auf seine Liste der 100 einflussreichsten Personen des Jahres 2010 ("100 Most Influential People"Im Originalartikel finden Sie hier englischsprachige Links.). Am 3. Mai konnte ich Malalai Dschoja für ein Interview gewinnen. Sie sprach mit mir per Satellitentelefon aus Afghanistan.

Sonali Kolhatkar: Gerade hat das TIME Magazine Sie zu den 100 einflussreichsten Personen des Jahres 2010 hinzugefügt. Doch die Autorin Ayyan Hirsi Ali, die dies für TIME verkündete, schrieb: "Ich hoffe, dass sie mit der Zeit einsehen wird, dass die Truppen der USA und der Nato in ihrem Land ihre Verbündeten sind. Sie muss ihre Bekanntheit, ihre Standfestigkeit und die Klugheit, die sie unter Beweis gestellt hat, dazu benutzen, die Truppen auf ihre Seite zu bringen, anstatt (sie) aus ihrem Land heraus (zu bringen)"Im Originalartikel finden Sie hier englischsprachige Links.. Wie antworten Sie auf diese Aussage?

Malalai Dschoja: Ich bin sehr wütend über die Art und Weise, wie sie mich vorgestellt haben. TIME zeichnet ein falsches Bild von mir. Sie haben meinen Kampf gegen die Besatzung Afghanistans durch Amerika und die Nato nicht einmal erwähnt - das ist ekelerregend. Im Grunde wissen alle, dass ich an der Seite der glorreichen Antikriegs-Bewegungen auf der ganzen Welt stehe und immer wieder bewiesen habe, dass ich niemals einen Kompromiss mit den USA oder der Nato eingehen werde, die mein Land besetzt halten und die blutbesudeldsten Feinde meines Volkes mit Macht ausgestattet haben und meine unschuldigen Landsleute in Afghanistan töten. Was TIME getan hat, ist, als ob man jemanden mit der einen Hand einen Preis verleiht und mit der anderen Hand wieder wegnimmt. Ich habe ihnen - über mein Defense CommitteeIm Originalartikel finden Sie hier englischsprachige Links. - meinen Protest zukommen lassen, aber TIME hat es nicht einmal für nötig befunden, auf diesen Protestbrief zu antworten. Vielleicht ist das ja die Art von Meinungsfreiheit, die diese Zeitschrift praktiziert. Allerdings bin ich froh zu sehen, dass viele meiner Freunde und Unterstützer sich gegen dieses Geschreibsel wenden und dies auch durch Kommentare auf der TIME-Seite oder durch Emails zum Ausdruck bringen.

Sonali Kolhatkar: Anfang 2010 gelang es einigen Journalisten zu belegen, dass US-Soldaten während einer nächtlichen Razzia zwei schwangere Frauen getötet haben. Wie häufig sind solche Vorfälle im heutigen Afghanistan?

Malalai Dschoja: Ja, die USA und die Nato lügen oft, wenn sie Unschuldige töten, und sie hindern auch die Medien daran, über zivile Opfer zu berichten. In entlegenen Teilen des Landes - wo es keine Medien gibt, die darüber berichten könnten, so dass keine Notiz davon genommen wird -, gibt es die meisten zivilen Opfer. In vielen Fällen (veröffentlicht) die Nato, wenn es zu Toten kommt, Statements, in denen es heißt: Viele Aufständische wurden getötet. Doch wenn man versucht, von den Menschen vor Ort etwas zu erfahren, findet man heraus, dass in Wirklichkeit Frauen und Kinder - und nicht Aufständische - getötet wurden. Die afghanischen Medien sind zum größten Teil in den Händen krimineller afghanischer Banden und berichten sehr selten über Zivilisten, die von den USA und der Nato getötet wurden. In Afghanistan sind die meisten Medien, vor allem aber die TV-Sender, ein Werkzeug der Nordallianz-Kriegsherren - Kriegsherren wie Atta Mohammed, Qanooni, Mohseni, Mohaqqiq, Rabbani und andere. Jeder hat seinen eigenen Fernsehkanal. Natürlich mögen sie keine Reportagen über die zivilen Opfer ihrer Herren in Amerika und bei der Nato.

Die US-Botschaft in Kabul betreibt ein Büro, das sämtliche Medien in Afghanistan sorgfältig überwacht. Wenn sie auf eine Berichterstattung stoßen, die gegen die Interessen der USA ist, versuchen sie auf verschiedene Weise, diese zu stoppen. Häufig ist Bestechung das Mittel der Wahl. Die USA führen nicht nur einen militärischen Krieg, sondern auch einen Krieg an der Propagandafront. Ich glaube, die Propaganda spielt eine zentrale Rolle. Sie versuchen es so darzustellen, als sei dieser Krieg gerechtfertigt. Wenn sie Zivilisten töten, streiten sie es umgehend ab und behaupten, alle Getöteten seien Taliban. Wenn es keine Möglichkeit gibt, einen Sachverhalt unabhängig klären zu lassen, spiegeln sich in der Medienwelt nur die Lügen. Nur in wenigen Fällen traten ein paar mutige und gerechtigkeitsliebende Journalisten - wie Jerome Starkey - vorIm Originalartikel finden Sie hier englischsprachige Links. und machten deren schändliches Lügen zunichte.

Sonali Kolhatkar: In letzter Zeit wird viel über die positiven Aussagen Hamid Karsais bezüglich der Taliban spekuliert. Wie kurz steht die Zentralregierung in Kabul davor, einen Frieden mit den Taliban zu schmieden, und was würde das für den Krieg der USA und der Nato bedeuten? Was würde es für die Menschen in Afghanistan bedeuten?

Malalai Dschoja: Ich glaube, Karsai könnte es nicht wagen, eine solche Erklärung abzugeben oder die Taliban oder die Parteiführer von Gulbuddin Hekmatyar zu treffen, ohne das "Okay" des Weißen Hauses zu haben. In Wirklichkeit baten die USA ihn um einen Frieden mit den Taliban und mit der Partei (des Kriegsherren) Hekmatyar oder zumindest darum, die Macht mit ihnen zu teilen. Außerdem muss die US-Regierung den Menschen in den Nato-Ländern zeigen, dass sie keine Kriegstreiberin ist sondern für Friedensgespräche mit den Taliban. Aber das ist nur Show. Amerika will nicht ewig mit den Taliban kämpfen. Es braucht die Taliban als Entschuldigung, um die Besatzung in Afghanistan fortzuführen - zur Umsetzung seiner strategischen, regionalen und militärische Interessen. Ich glaube, einige Taliban sowie Hekmatyars Führer sind dem Karsai-Regime bereits beigetreten. Einer der wichtigsten Parteiführer der Hekmatyar-Partei - "Hadi Arghandiwal" - ist Wirtschaftsminister unter Karsai.

Das ist es, was die USA wollen. In der Vergangenheit haben sie diese brutalen, unmenschlichen Führer aufgebaut. Diese Leute sind bereit, für die USA zu arbeiten, solange man ihnen die Taschen mit Dollars füllt und ihnen hohe Posten in der Regierung anbietet. Die US-Regierung ist in Afghanistan sehr bemüht, reaktionäre Kräfte und Individuen an die Macht zu bringen, denn sie können diese Leute benutzen, um das Aufkeimen pro-demokratischer und nationaler Kräfte und Gruppierungen in meinem Land zu stoppen.

Sonali Kolhatkar: Vor kurzem schrieben Sie auf ‘Daily Beast’Im Originalartikel finden Sie hier englischsprachige Links., im heutigen Afghanistan käme es zu vielen antiamerikanischen Protesten, über die nicht berichtet würde. Erzählen Sie uns mehr über diese Proteste. Wo finden sie statt? Wer sind die Demonstranten? Sind sie nur gegen die USA und die Nato oder auch gegen die Fundamentalisten?

Malalai Dschoja: Ja, wir wurden im vergangenen Jahr Augenzeugen der Proteste der Menschen - vor allem in den östlichen und westlichen Landesteilen Afghanistans. Meist handelte es sich um Reaktionen auf den Tod von Zivilisten durch die USA und die Nato. Bei jedem Nato-Bombardement gehen Leute auf die Straße und rufen antiamerikanische Slogans. Leider sind sie nicht organisiert, und in einigen Fällen werden sie von den Taliban benutzt. Die meisten Proteste dieser Art haben wir in den Provinzen Nangahar, Ghazni, Loghar, Herat und Helmand gesehen. Doch auch darüber wird normalerweise nicht berichtet. Vor einigen Tagen verbrannten wütende Demonstranten in Loghar rund 20 Tanklaster der Nato. Es war nur einer von vielen Protesten. Die Weltmedien berichteten darüber.

Die Demonstranten wenden sich nicht nur gegen die USA und die Nato sondern auch gegen die afghanische Regierung. Die Menschen sehen, dass die Regierung zutiefst korrupt ist, dass sie in die Hände von Mördern und Plünderern der Nordallianz gefallen ist. Daher haben sie die Schnauze voll. Im vergangenen Monat versammelte sich in der Provinz Baghlan eine große Menschenmenge - Tausende von Arbeitern. Sie protestierten gegen Mahmood Karsai (Hamid Karsais jüngerer Bruder und stellvertretender Vorsitzender der Afghanischen Handelskammer), gegen diesen Kopf der "Wirtschaftsmafia" in Afghanistan. Mahmood Karsai hat einige ehemalige staatliche Fabriken unter seine Kontrolle gebracht. Normalerweise ignorieren die USA, die Nato und die afghanische Regierung die Proteste der Menschen. Doch ich bin überzeugt, dass diese Proteste im Laufe der Zeit noch organisierter werden - aufgrund der Wut der Menschen. Die Afghanen stehen am Rande eines Aufstands - aber Armut, Verfall und die Abwesenheit starker demokratischer Kräfte im Land verhindern zur Zeit noch einen sehr, sehr ernsthaften Aufstand. Ich bin sicher, dass sich diese Kräfte in den nächsten Jahren entwickeln werden und die Proteste machtvoller werden, so dass sie das afghanische Marionettenregime und die Besatzungstruppen ins Wanken bringen werden.

Sonali Kolhatkar: Seit vielen Monaten sprechen die USA kaum verhohlen darüber, dass sie in (der Provinz) Kandahar kurz vor einer Offensive gegen die Taliban stehen. Wenn es zu dieser Offensive kommt, was, denken Sie, wird im Sommer, als Reaktion auf die Offensive, geschehen?

Malalai Dschoja: Wie schon gesagt, die USA wollen nicht ständig gegen die Taliban kämpfen. Sie kämpfen nur hie und da gegen sie, um dem amerikanischen Volk zu zeigen, dass die USA sich in Afghanistan im Krieg befinden und ihre Anwesenheit notwendig ist. Die Offensive in Kandahar wird sich nicht von der in Mardschah oder in anderen Regionen unterscheiden. Man wird einige korrupte Offizielle und Polizisten installieren - Leute, die noch übler sind als die Taliban. Einige Tage später werden die Taliban zurückkehren - wie wir das in der Vergangenheit erlebt haben. Mardschah wurde zu einem Taliban freien Distrikt erklärt. In Wirklichkeit sind die Taliban dort ständig präsent. Sie sind nur für kurze Zeit aus der Gegend verschwunden.

Nach der Operation in Mardschah wurde ein Sprecher des Afghanischen Verteidigungsministeriums auf einer Pressekonferenz gefragt, warum man es zugelassen habe, dass die Taliban aus der Region verschwinden konnten, warum man die Taliban nicht getötet oder gefangengenommen hätte, anstatt sie nur aus der Region zu vertreiben.

Wir gehen davon aus, dass auch in Kandahar so vorgegangen werden wird. Sie werden ihre Operation durchführen und den Taliban gestatten, in eine andere Region zu wechseln. Einige Zeit später wird man dann dort eine Operation durchführen. Es ist ein Show-Kampf, kein echter Krieg gegen den Terror. Wäre es anders, so könnten die USA und die Nato die Taliban in wenigen Tagen auslöschen und für immer besiegen. Doch dann würden ja alle sagen, sie sollen die Besatzung in Afghanistan beenden.

Das einzige Ergebnis der Operation in Kandahar werden zivile Opfer sein - arme, unschuldige Opfer. Sie sind die Einzigen, die in diesem Krieg getötet werden. Die Taliban müssen keine Niederlagen hinnehmen - nicht einmal gravierende Opfer. Die Afghanen wissen sehr gut, dass die USA Afghanistan weder Demokratie noch Frieden bringen werden. Es ist die Pflicht des afghanischen Volkes, für seine Werte einzutreten und zu begreifen, dass die Okkupation uns nur weiter in die Sklaverei hineintreibt. Wie immer richte ich meine Botschaft an alle gerechtigkeitsliebenden Menschen auf der ganzen Welt und sage: Keine Nation vermag einer anderen die Befreiung zu schenken.

Sonali Kolhatkar: Können Sie uns etwas über ihren derzeitigen parlamentarischen Status sagen? Die Fundamentalisten haben Ihnen ja vor einigen Jahren das Abgeordnetenamt, in das Sie gewählt wurden, genommen. Kamen Sie je vor Gericht? Könnten Sie bei den nächsten Wahlen wieder als Kandidatin antreten?

Malalai Dschoja: In der letzten Phase des Treffens des ‘Interparlamentarischen Bündnisses’, wurde mir durch eine Delegation des Afghanischen Parlamentes die Aufhebung meiner Suspendierung versprochen, so dass ich wieder ins Parlament zurückkehren könne. Doch das war eine Lüge. Sie standen nicht zu ihrem Versprechen.

Ich habe vor einigen Monaten einen Brief vom Gericht erhalten. Daraufhin antwortete ich wahrheitsgemäß und gab Auskunft über meine starke Haltung gegenüber den Warlords. Sie verlangten von mir, mich (für Aussagen, die ich in einem TV-InterviewSiehe http://www.rferl.org/content/article/1076620.html . gemacht hatte) zu entschuldigen. Sie sagten, sie würden mich ins Parlament zurückkehren lassen. Doch ich betonte, dass meine Aussagen der Wahrheit entsprächen und dass ich mich niemals bei Kriminellen und Plünderern entschuldigen würde. Dennoch kann ich bei den Wahlen antreten, die Ende des Jahres stattfinden sollen. Ich habe mich noch nicht entschieden, ob ich kandidieren soll. Doch ob ich im Parlament oder außerhalb diene - ich werde meinen Kampf für Gerechtigkeit, für Frieden und gegen die Besatzung fortsetzen. Das Parlament war ein kleiner Teil meines Kampfes. Mir bleiben noch viele andere Betätigungsfelder und Optionen. In einem Parlament mit Kriminellen zu sein, war für mich eine große Folter. Es war eine Folter, die Gesichter von so brutalen Männern wie Qanooni, Sayyaf, Mohaqqiq, Piram Qul, Haji Almas, Haji Fayeed usw. Tag für Tag vor mir zu sehen. Doch für mein Volk habe ich diese Aufgabe angenommen.

Ich glaube, die nächsten Wahlen werden noch ekelhafter werden - voller Betrug. Der neue Chef der Wahlkommission ist ein bekannter Kriegsherr der Nordallianz. Er wird versuchen, all diese Kriegsherren ins Parlament zu bringen und zu verhindern, dass Menschen wie ich - Menschen, mit einer demokratischen Gesinnung - hochkommen. Viele sind der Meinung, dass wir an einem Punkt sind, an dem sie niemals zulassen werden, dass ich bei diesen Wahlen gewinne, weil sie es nicht mehr ertragen könnten, mich im Parlament zu haben. Aber solange diese Kriminellen, diese eingeschworenen Feinde der Demokratie, der Frauenrechte und der Menschenrechte an der Macht sind und solange die Besatzungstruppen aus der Luft bomben und die Feinde meines Volkes unterstützen und solange sie unschuldige Menschen in meinem Land töten, werde ich weiterkämpfen.

Weitere Information finden Sie auf der Seite von Malalai Dschoja (Joya) malalaijoya.com

Quelle: ZNet Deutschland vom 09.05.2010. Originalartikel: Time Magazine’s Sneaky Way of Muffling the Message of an Afghan Peace Activist . Übersetzt von: Andrea Noll.

Fußnoten

Veröffentlicht am

11. Mai 2010

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