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Vertreibung aus dem Irak

Von Karl Grobe

Die Zahl 202 ist eine der beschämendsten dieses Jahrzehnts. Sie benennt die Gesamtzahl der Flüchtlinge aus dem Irak, die von den USA bis Ende 2006 ins Land gelassen worden sind. Die Regeln, die Paragrafen über die Zulassung irakischer Flüchtlinge waren unerbittlich, auch in anderen Staaten aus der "Koalition der Willigen", die zusammen mit den USA seit März 2003 Krieg gegen den Irak führten.

Der Angriffskrieg war durch das Völkerrecht und die UN-Satzung nicht gedeckt; die Kriegsbegründungen verflüchtigten sich ins Reich der Unwahrheiten; fürs erste blieb die Verheißung einer demokratischen Zukunft übrig.

Deren formale Voraussetzungen wurden inzwischen geschaffen. Aber Wahlen, deren Resultat nach einem Vierteljahr noch einmal nachgezählt werden muss, und Parteien, die meist Gefolgschaften nicht unbedingt bestbeleumdeter Politiker sektiererisch-konfessioneller Ausrichtung sind, beschmutzen die Fassade. Dass Wähler oft viel Mut aufbrachten, um ihre Stimme abgeben zu können, spricht für das Volk, aber nicht für die Oberen.

Eins fehlt vor allem: der irakische Mittelstand. Er sollte Träger der Demokratie sein, doch er ist gegangen oder vertrieben. Die vor der Diktatur Saddam Husseins nach Jordanien, Syrien, in den Iran, in die Türkei geflohen waren, sind nicht zurückgekehrt. Die Kämpfe zwischen "meist konfessionellen" Banden und Milizen und die Islamisierung der geduldeten und von der Besatzung geförderten Machtstrukturen waren abschreckend genug. Dann trieb die Besatzungspolitik selbst Eliten aus dem Land.

Irakische Fehler in Afghanistan

Die kritiklose Ent-Baathisierung enthauptete nicht nur die Verwaltung. Sie zerstörte auch das Gesundheitswesen und den Bildungssektor, zwei Bereiche, in denen der Irak trotz Diktatur erstaunliches Niveau erreicht hatte. Vollends vernichtete die Aufspaltung der Bevölkerung in Sunniten und Schiiten gerade in den großen Städten die religiös indifferente und im übrigen tolerante Zivilgesellschaft.

Waren vor der Invasion schon fast drei Millionen gut ausgebildete Iraker aus dem Land geflohen, so blieb nun nochmals für wohl zwei Millionen nur die Auswanderung. Zudem wurden die Hoffnungen der Dortgebliebenen enttäuscht, die von der Demokratisierung Besserung ihrer Arbeitsbedingungen erwartet hatten - neue Krankenhauseinrichtungen, modernere Computer, Ersatzteile für alles, was in den Jahren der UN-Sanktionen und durch das Bombardement zuschanden gemacht worden war. Und geistige Freiheit, Toleranz, natürlich auch materiellen Wohlstand erwarteten sie selbstverständlich.

Mehr als ein Fünftel der 25 Millionen Iraker lebt jenseits der Grenzen. Dagegen ist die Zahl 202 aufzuwiegen, denn die USA sperrten sich gegen die Aufnahme verfolgter Iraker gerade in den drei Kriegs- und Nachkriegsjahren, als ihre Besatzungspolitik die Strukturen zerstörte.

Der geflohene, vertriebene Mittelstand fehlt dem Irak. Dass er im Ausland, interniert oder gerade geduldet, in die Verelendung getrieben worden ist, wiegt schwerer als Wahlen und der Anschein von Souveränität.

Die "Koalition der Willigen" hat falsch gemacht, was falsch zu machen war. Gelernt haben die USA nur wenig. Obamas neues Einvernehmen mit Hamid Karsai aus Kabul lässt als fast sicher erscheinen, dass sie entschlossen sind, in Afghanistan die irakischen Fehler zu wiederholen.

Karl Grobe ist freier Autor.

Quelle: Frankfurter Rundschau vom 17.05.2010. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Karl Grobe.

Veröffentlicht am

18. Mai 2010

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