Spiritualität des Kampfes für eine andere Welt - eine Kultur des Lebens für alle
Politisches Nachtgebet zur Erinnerung an Dorothee Sölle: "Das Ganze verändern - ein gutes Leben für alle"
Von Ulrich Duchrow - Vortrag beim Ökumenischen Kirchentag 13. Mai 2010 in München
Ich beginne mit einigen Zeilen aus Dorothee Sölles Glaubensbekenntnis von 1968, das im Kontext des Politischen Nachtgebets in Köln entstand:
"Ich glaube an den Geist
der mit Jesus in die Welt gekommen ist
an die Gemeinschaft aller Völker
und unsere Verantwortung für das
was aus unserer Erde wird
ein Tal von Jammer Hunger und Gewalt
oder die Stadt Gottes.
Ich glaube an den gerechten Frieden
der herstellbar ist
an die Möglichkeit eines sinnvollen Lebens
für alle Menschen
an die Zukunft dieser Welt Gottes."
Dieses Glaubensbekenntnis brachte ihr damals vom damaligen rheinischen Präses Beckmann den Vorwurf der Häresie ein. Angesichts der Krise heute ist es aktueller denn je. Das möchte ich zeigen, indem ich versuche, uns an Dorothees Spiritualität des Kampfes teilnehmen zu lassen, um die heutige Situation zu verstehen und zu bestehen.
Was hat uns als ökumenische Basisbewegung seit den 1960er Jahren an Dorothee Sölle so fasziniert? In der weltweiten Ökumene erlebten wir - besonders im Süden der Welt - Christinnen und Christen, die mühelos schärfste Analyse der Realität und politischen Kampf mit Frömmigkeit, Feiern und tiefer Spiritualität verbanden. Sie lebten ganzheitlich. Wir Westler hingegen trugen in uns das Erbe der Dualismen der Moderne: Verstand versus Gefühl, Geist versus Materie, Frömmigkeit versus politisches Engagement etc. Dorothee - zuerst zusammen mit den Freundinnen und Freunden des Politischen Nachtgebets - überwand die dualistische Moderne nicht durch Regression, sondern durch gleichzeitige Verschärfung des kritischen Bewusstseins und des politischen Kampfes, verbunden mit dem Sprudelnlassen der emotionalen, spirituellen Quellen auch der eigenen Traditionen. So wurde sie für uns im Kirchentag, in den ökumenischen Netzen, im Konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Befreiung der Schöpfung eine Lehrerin der Spiritualität des Kampfes für eine andere Welt, um "das Ganze zu verändern".
Dorothee Sölle hat für eine andere Welt gekämpft. Das Stichwort "andere Welt" in der Form "Eine andere Welt ist möglich" ist das Motto des Weltsozialforums, des Sammelbeckens der weltweiten sozialen Bewegungen. In diesem Zusammenhang denkt man vorwiegend an eine andere Welt im Sinn von alternativen politisch-ökonomischen Strukturen. Diese hat auch Dorothee Sölle im Blick. Aber sie weiß, dass andere Strukturen auch immer ein anderes Menschsein erfordern - und umgekehrt. Das eine ist nicht ohne das andere zu haben. Wer meint, man müsse nur viele Leute bekehren, dann würden sich die Strukturen schon ändern, irrt. Wer meint, man müsse nur Strukturen ändern, dann ändere sich auch der Mensch, irrt ebenfalls, wie nicht nur die Geschichte des sog. Realsozialismus zeigt. Es geht also im Blick auf eine "andere Welt" um eine tief greifende Transformation sowohl der ökonomischen, sozialen, politischen und ökologischen Strukturen als auch der Menschen als Subjekten der Veränderungen. Beides will ich deshalb nacheinander in den Blick nehmen (obwohl es eigentlich gleichzeitig gedacht werden muss) und drittens fragen, welche Rolle die "Spiritualität" in diesem Transformationsprozess spielt.
I. Strukturen, die verändert werden müssen
Wenn nicht kollektive Entscheidungen und praktische Schritte für eine Transformation des herrschenden Systems vollzogen werden, wird es auf Dauer kein menschliches Leben auf dieser Erde geben. Das sollte uns allen klar sein. Was sind die Gründe dafür, dass das herrschende System nicht lebensfähig ist und wir deshalb nach einer Alternative suchen müssen? Zentral für die Beantwortung dieser Frage ist das Problem des Wachstums.
Das kapitalistische System braucht notwendig Wachstum. Kapital ist (Geld- und anderes) Vermögen, das man investiert, um für die Privateigentümer eine möglichst hohe Rendite auf die eingesetzten Ressourcen und Arbeitsleistungen zu gewinnen. Daraus entsteht Wachstumszwang und das rationale Nutzenkalkül, die natürlichen Ressourcen möglichst frei zu nutzen, so wenig wie möglich arbeitende Personen zu beschäftigen und Arbeitslöhne zu senken. Dies ist der Grund für die Tendenz des Kapitals und der es stützenden neoliberalen Politik, die Quellen des Reichtums, Natur und die arbeitenden Menschen, zu zerstören.
Die Ressourcen der Erde sind begrenzt, besonders Öl, auf dem die kapitalistische Industrialisierung beruht, aber auch die landwirtschaftlichen Flächen für die Ernährung, die nun noch durch Agro-Sprit-Produktion dezimiert werden. Außerdem stößt auch die soziale und ökologische Ausbeutung von Menschen und Erde an Grenzen. In einem ökonomischen Modell, das auf grenzenlosem Wachstum aufbaut, müssen die Profiteure dieses Systems nach Möglichkeiten suchen, die ökonomischen, sozialen und ökologischen Grenzen in ihrem Interesse zu erweitern. Das haben sie in der neoliberalen Phase seit den späten 1970er Jahren auf dreierlei Weise getan:
- Kostensenkung durch Abbau des Sozialstaates
- Spekulative Geldvermehrung ohne Basis in der Realwirtschaft
- Imperiale Kriege zum Raub begrenzter Ressourcen.
Das dreifache Hinausschieben der Grenzen des Wachstums für die Reichen und Mächtigen funktioniert jedoch immer weniger. Nach dem Zusammenbruch des Finanz-Casinos konnte der Markt, der Gott der Neoliberalen, nicht mehr helfen und die Spekulanten schreien nach dem schon zuvor instrumentalisierten Staat. Aber was sie wollen, ist ihre Auslösung durch die Steuerzahler, d.h. die Sozialisierung der Verluste, nachdem sie die Gewinne privatisiert haben. Dadurch werden die Schulden der privaten Eigentümer und der Banken auf die öffentlichen Haushalte übertragen und die politischen Institutionen noch erpressbarer und unfähiger, die Regeln des Finanzsystems grundlegend zu verändern. Am Freitag letzter Woche jammerte Kanzlerin Merkel nur in die Mikrophone: "Erst haben wir sie gerettet, jetzt erpressen sie uns, die Finanzmärkte." Hätte man das nicht vorher wissen können? So machen die Herrschenden weiterhin keine Anstrengungen, eine Wirtschaft im Dienst des Lebens aller zu entwickeln.
Die Ursache dieser selbstmörderischen Entwicklungen ist der im Kapitalismus angelegte Zwang zum Wachstum des Kapitals.44 Darum ist es lebensnotwendig, Kapital und Geld zu entmachten, die uns in diese sozialen, ökonomischen und ökologischen Katastrophen treiben. Und darum brauchen wir ein ganz neues Modell (Paradigma) für die politische Ökonomie und für das Verständnis des Menschen. Wir müssen tatsächlich das Ganze verändern, damit Leben, gutes Leben für alle möglich wird.
Alternativen im strukturellen Bereich sind längst von kritischen Ökonomen ausgearbeitet worden. Ich verweise wegen der aktuellen Krise des Geld- und Finanzsystems nur auf das Buch von Christian Felber, Kooperation statt Konkurrenz. 10 Schritte aus der Krise. Seine besondere Stärke besteht darin, dass es nicht nur langfristige Alternativen zum kapitalistischen System und zu dem mit ihm verbundenen Menschenbild aufzeigt, sondern sehr konkrete wirtschaftliche und politische Vorschläge und auch persönliche Schritte zu deren Umsetzung anbietet. Es geht ihm um einen dritten Weg jenseits des Privatkapitalismus und des zentralistischen Staatssozialismus. Ebenso sagt Dorothee Sölle in ihren Erinnerungen: "Es muss einen dritten Weg geben." Und sie fährt fort: "Der historisch notwendige Untergang des Kommunismus… hat mit dem autoritären und undemokratischen Charakter des Staatssozialismus zu tun, mit dessen unerträglicher Verhöhnung der Menschenrechte." Sie sucht nach so etwas wie einen partizipatorischen Sozialismus von unten. "Der Staatsozialismus ist tot, aber der Sozialismus als Utopie einer solidarischen Gesellschaft wird noch dringend gebraucht."
Eines der Beispiele, die zeigen, dass ein solcher Ansatz möglich ist, ist der Erfolg der sozialen Bewegungen in weiten Teilen Lateinamerikas. Als z. B. in Uruguay, vorbereitet durch die Arbeit der sozialen Bewegungen, eine neue Regierung ans Ruder kam, ließ sie als ersten Akt in die Verfassung schreiben: Wasser darf niemals privatisiert werden. Ebenso in Bolivien: durch die Regierung von Evo Morales, die durch die sozialen Bewegungen an die Macht kam, haben die indigenen Völker zum ersten Mal nicht nur volle bürgerliche Rechte, sondern können auch Hauptakteure und Nutznießer einer demokratisierten Wirtschaft sein. Aus Lateinamerika ließen sich weitere Beispiele anführen. Aber auch bei uns wächst das Interesse an einer auf dem Konzept der Gemeingüter aufbauenden Wirtschaftsweise und an "solidarischer Ökonomie".
Die Umsetzung solcher grundlegenden, lebensnotwendigen Veränderungen ist nicht von den jetzt Mächtigen zu erwarten, sondern nur durch einen langen Kampf der betroffenen Menschen.
II. Wie können betroffene Menschen zu Subjekten des Kampfes für eine andere Welt
werden?
Wenn denn die Herrschaft der westlichen Zivilisation um des Überlebens willen geändert werden muss und wenn alternative strukturelle Ansätze vorhanden sind, warum kämpfen dann nicht mehr Menschen für eine "andere Welt"? Diese Frage beantwortet der buddhistische Ökonom Karl-Heinz Brodbeck in seinem Buch Die Herrschaft des Geldes auf verblüffende Weise. Er zeigt nämlich, dass seit der Einführung des Geldes im Zusammenhang größer und arbeitsteiliger werdender Gesellschaften sich nicht nur die Struktur des Wirtschaftens, sondern auch die Seele der Menschen geändert hat. Sie sprechen nicht mehr nur miteinander, sondern sie rechnen und berechnen sich gegenseitig. Das Ego tritt in den Vordergrund gegen die Gemeinschaft und gegen das Mitgefühl und die Solidarität untereinander. Wir selber fragen an erster Stelle: "Rechnet sich das?", "was bringt das mir?" Nur weil wir selbst nach immer mehr streben, auch wenn wir schon genug zum Leben haben, kann die Geldherrschaft regieren. Als das Volk in der französischen Revolution gegen den König aufstand, hatte dieser keine Chance mehr. Die Voraussetzung dafür war, dass die Menschen den Untertantengeist in sich selbst überwunden hatten. Können wir den kalkulierenden Geldgeist in uns überwinden? Können wir uns von der Spiritualität des Geldes freimachen und mitfühlend, solidarisch werden?
Der Geist des Geldes ist der des Individualismus. Das Ego will gewinnen und das Gewonnene mit Gewalt verteidigen. Aber ist das nicht "natürlich"? Sind die Menschen nicht eben so ihrem Wesen nach? Nein, sie sind durch die Gewöhnung an eine immer totalitärer werdende Geld-Eigentumswirtschaft so geworden. Darum kann es auch geändert werden. Aber wie? Hier hilft ein Hinweis auf Hirnforschung, Beziehungspsychologie und Glücksforschung. Diese kommen zu dem Ergebnis, dass - sobald Menschen genug zum Leben haben - eine weitere Akkumulation von Geld nicht zufriedener macht. Was glücklich macht, sind gelingende Beziehungen. Das entspricht der Einsicht und Weisheit vieler Kulturen und Religionen. Wir sind, was wir sind, durch andere. Bischof Tutu pflegt das mit der afrikanischen Ubuntu-Kultur zu erläutern: "Ich lebe, weil du lebst". Darum gibt es persönliche Heilung und gesellschaftliche Befreiung, also die "Veränderung des Ganzen", nur in Gemeinschaft mit anderen. So kann die Herrschaft des Geldes auch in uns selbst überwunden werden.
Was heißt das konkret? In dem wir aus der Isolierung und dem Konkurrenzverhalten heraustreten und uns mit anderen zusammentun, um für Gerechtigkeit und Frieden zu kämpfen, werden wir menschlich. Wir erfahren die Geistkraft Gottes, wie Dorothee Sölle in ihrem Glaubensbekenntnis sagt, wir werden befreit und geheilt zu unserem eigentlichen Menschsein. Wir können unseren Fatalismus überwinden, die Depression verlässt uns, die Sucht nach Mehr lässt uns los. So geht unsere eigene Heilung und Umwandlung Hand in Hand mit gesellschaftlicher Transformation.
Auf diesem Hintergrund geht es darum, in allen betroffenen Schichten Menschen zu befreien, zu heilen, zu organisieren und in Allianzen zu verbinden, die sich zur Wehr setzen und an Alternativen arbeiten. Dies geschieht bereits überall in der Welt, und zwar in Bündnissen zwischen sozialen Bewegungen, Gewerkschaften und auch den kritischen Teilen der Kirchen und anderen Glaubensgemeinschaften.
Das aktuelle Beispiel dafür ist der Volkswiderstand in Griechenland. Hier läuft die dramatische zweite Runde der von den Kapitaleignern und ihren Agenten verursachten Finanzkrise. Die nach wie vor unregulierten Hedgefonds attackieren den Euroraum an seinem schwächsten Glied und zwingen die Regierungen erneut, Steuergelder in das herrschende Finanzkapital zu pumpen. Anstatt die Ursachen zu bekämpfen, zwingen die europäischen Regierungen die griechische Regierung zusammen mit dem IWF, die von den verschuldeten Entwicklungsländern bekannten Strukturanpassungsprogramme aufzulegen, um die Bevölkerungen mit Sparmaßnahmen dazu zu bringen, das Kapital zu bedienen. Gleichzeitig wird eine Medienkampagne gegen die griechische Bevölkerung eröffnet, sie hätten zu fette Löhne und Pensionen eingeheimst. Genau das Umgekehrte ist richtig. Allen voran Deutschland hat die Löhne gedrückt, um Handelsbilanzüberschüsse zu erwirtschaften, die u.a. Griechenland in die Defizite treiben. Deutsche Firmen haben die Korruption angeheizt, die die Eliten in Griechenland begünstigen. Die deutsche Rüstungsindustrie und die europäische Militarisierungspolitik nötigen die Regierung zur Aufrüstung und damit zur Verschwendung von Milliarden Euro. Wenn sich jetzt nicht die Gewerkschaften, die sozialen Bewegungen und hoffentlich die Kirchen verbünden, um sich europaweit mit der griechischen Bevölkerung und untereinander zu solidarisieren, werden die Spekulanten ein Land nach dem anderen aufrollen - Portugal, Spanien, Italien, England zuerst und dann alle anderen. So wird die Umverteilung des von der Bevölkerung erwirtschafteten Reichtums von unten nach oben auf immer dramatischere Weise fortgesetzt und verschärft. Also tretet der Diffamierung des griechischen Widerstands durch die Bildzeitung und die Politiker entschieden entgegen und verbündet euch, wo immer ihr könnt - angefangen vor Ort bis zur europäischen Ebene! Was bedeutet in solchen Zusammenhängen Spiritualität?
III. Spiritualität des Kampfes
Aus dem bisher Gesagten wird klar:
- Die Überwindung des herrschenden kapitalistischen Systems ist notwendig, will die Menschheit auf einer bewohnbaren Erde überleben.
- Der Kampf für die lebensnotwendige andere Welt muss in Bündnissen von unten her geführt werden. Genau dies ist auch die biblische Perspektive.
- Die Subjekte für die notwendigen Veränderungen sind nicht einfach vorhanden, sondern müssen geheilt und befreit werden zum Kampf, zur Selbstorganisation. D. Sölle hat viel dazu aus feministischer Perspektive geschrieben unter dem Stichwort "empowerment", Ermächtigung.
- Es geht nicht um Einzelreparaturen im System, sondern um eine grundlegende Ablösung der tötenden westlichen Zivilisation durch eine Kultur des Lebens.
Welche Spiritualität ist diesen enormen Herausforderungen gewachsen? Im Jahr 2007 organisierten der Ökumenische Rat und der Rat für Weltmission (CWM) gemeinsam eine Konsultation in Korea unter dem Thema: "Transforming Theology and Life-Giving Civilization". Der Bericht beginnt mit dem Satz:
"Heute erleben wir eine tötende Zivilisation. Sie manifestiert sich in wirtschaftlicher Ungerechtigkeit, ökologischer Zerstörung, imperialistischer Bedrohung und wachsenden religiösen Konflikten. Das zwingt uns, dringend die Möglichkeiten einer Kultur des Lebens zu erkunden. Diese entfaltet sich in gegenseitigen Beziehungen, Koexistenz, Harmonie mit der Natur und Solidarität mit denen, die für Gerechtigkeit kämpfen."
Dies ist der Horizont für eine Spiritualität des Kampfes heute: eine Kultur des Lebens zu entwickeln, die gekennzeichnet ist durch gelingende Beziehungen. Es geht bei dieser Spiritualität nicht um Bewusstseinserweiterung oder seelische Überhöhungen von einzelnen Individuen. Es geht um gemeinschaftliche Vollzüge - für uns ChristInnen eigentlich keine Überraschung, wenn wir denn keine modernen Heilsegoisten sind, sondern uns am Leib Christi, insbesondere in der zentralen Feier der Eucharistie, orientieren. Leib Christi ist aber als Vorgriff auf die Einheit der Menschheit im Bezug auf den ganzen Kosmos zu sehen. Damit ist eine selbstkritische Komponente eingebaut. Spiritualität in diesen Bezügen schließt den Kampf gegen irregeleitete Spiritualität in uns selbst und unseren Kirchen und die Abkehr von falschen Göttern ein.
Diese Ansätze einer Spiritualität des Kampfes haben wir in einer internationalen Gruppe zur Vorbereitung der 7. Vollversammlung des ÖRK weiter entfaltet und daraus eine Broschüre gemacht mit dem Titel Die politische Ökonomie der Heiligen Geistes. Dabei ging es vor allem um die Überwindung der individualistischen Spiritualität in Verbund mit der Herrschaft der instrumentellen Vernunft (Zweck-Mittel-Rationalität) in der westlich-bürgerlichen Moderne: "Dieser Text lädt uns ein, für die Enthüllungen des Heiligen Geistes in der Geschichte feinfühlig zu werden und die "instrumentale Vernunft" - die Art Vernunft, die zum Tragen kommt, wenn wir unsere Eigeninteressen vorantreiben wollen - in den Dienst der "pneumatologischen Vernunft" zu stellen - der Art von Vernunft nämlich, die uns in den Kampf um ‚Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung’ führt." (S. 59)
Wir aktualisierten damals die schöpferischen, prophetischen und gemeinschaftsbildenden Manifestationen des Geistes gegen die falschen Götter des Geldes, des Marktes und der Imperien, wie sie in der Bibel bezeugt werden. Denn auch in den biblischen Zeugnissen erscheint der Geist Gottes immer in Spannung zu Gottes Widersachern und zwar in dreifacher Hinsicht.
(1) Die prophetische Manifestation des Geistes
Martin Buber weist darauf hin, dass in der Zeit vor dem Königtum im Alten Israel der Geist Gottes immer nur als prophetisches Charisma bezeugt wird. Die sog. Richter müssen immer zuerst "nabi" (Seher) werden, um den bedrängten Stämmen Befreiung von Angreifern zu bringen und Recht gegen Unterdrücker zu schaffen. Die Propheten nach Einführung des Königtums sind geradezu definiert durch ihre kritische Position zur Macht. Zunächst bezieht sich die prophetische Kritik vor allem auf den König und seine Eliten. Seit dem Eindringen der Eigentums-Zins-Geldwirtschaft in Israel im 8. Jh. v.Chr. treibt der Geist sie dann auch, gegen die aufzutreten, die die wirtschaftlichen Mechanismen benutzen, um selbst unsolidarisch Grundbesitz anzuhäufen, indem sie das verpfändete Land ihrer Schuldner an sich reißen und diese selbst als Schuldsklaven für sich arbeiten lassen (vgl. z. B. Jes 5,8). Bezeichnend ist, dass der prophetische Geist sie nie nur Kritik an Personen oder Strukturen üben lässt. Sie nehmen vielmehr in dem ungerechten Verhalten des ganzen Volkes Götzendienst wahr - in jener Zeit vor allem bezogen auf Baal (Herr und Besitzer). Das heißt, es geht in der Prophetie auch immer um die Unterscheidung der Geister.
(2) Die schöpferische Manifestation des Geistes
Den schöpferischen Geist Gottes verbinden wir spontan mit der Einhauchung des
Lebensatems bei der Erschaffung des Menschen (Gen 2). Aber auch diese Geistkraft ist nicht
neutral. Die priesterliche Schöpfungsgeschichte in Gen 1 - in der babylonischen
Gefangenschaft verfasst - lässt den Geist Gottes über den Chaoswassern schweben,
bekanntlich ein Bild für die imperialen Mächte, die das Leben gefährden. Entsprechend endet
die Urgeschichte in Gen 11 mit der Entmachtung des Imperiums Babel durch das Eingreifen
Gottes.
(3) Die gemeinschaftsbildende Manifestation des Geistes
Die Pfingstgeschichte im Kontext des Römischen Imperiums (Apg 2ff.) ist die Kontrasterzählung zu Gen 11. Die Römer sagen "divide et impera" und spielen die Völkerschaften gegeneinander aus. Der Pfingstgeist bringt die Menschen zusammen - nicht in der Uniformität des römischen Unterdrückungsfriedens, sondern so, dass sie die Verschiedenheit ihrer Sprache und Kultur behalten können, aber sich gegenseitig verstehen und so eine neue solidarische Gemeinschaft bilden können. Diese entfaltet auch in ökonomischer Hinsicht ein Kontrastprogramm zu Rom, wie in Apg 4, 32ff. deutlich wird. Niemand beansprucht für sich absolutes Privateigentum, sondern sie teilen, was sie haben. So gibt es keine Armen unter ihnen.
Diese drei Dynamiken des Geistes nach biblischem Zeugnis - Prophetie, Leben und Gemeinschaft - sind auch beim Apostel Paulus zu finden. Die göttliche Erwählung der Nicht- Weisen, der Nicht-Mächtigen, der Plebejer in Korinth stellt er denen entgegen, die Gottes Geist zur eigenen Machtentfaltung okkupieren wollen (1 Kor 1 ff.). Im Leib Christi dienen die Charismen einander statt zu herrschen (Kap. 12). Die höchste Gabe Gottes ist die Solidarität inmitten einer unsolidarischen Umwelt (1 Kor 13). Im Römerbrief ist Geist die Gegenspielerin zur Macht der Sünde (inkarniert im Imperium Romanum), die die Menschen der Gier, dem Begehren, unterwirft und sie so daran hindert, das Gute entsprechend der Tora zu tun (Rö 7-8). Ja, die Geistkraft stachelt im Kosmos die Sehnsucht, das Stöhnen unter den Geburtswehen einer neuen Schöpfung an. Alle geschaffene Kreatur wartet und hofft auf die Befreiung von der Verderbtheit, die nach Gen 8 durch die Gewalttätigkeit der Menschen in die Welt kommt - eine Perspektive, die wir erst heute angesichts des Sterbens der Arten und der Klimakatastrophe in ihrer ganzen Bedeutung wahrzunehmen lernen.
Fassen wir die kurze Erinnerung an die biblischen Zeugnisse zum Geist Gottes zusammen, so ergibt sich die erstaunliche Erkenntnis, das es in der Bibel überhaupt keine Spiritualität gibt, die nicht Spiritualität des Kampfes ist. Eine Spiritualität, die sich mit den Verhältnissen unter der Macht der Sünde abfindet und einfach individuelle Vergeistigung, Versenkung oder Bewusstseinserweiterung sucht, ist das Gegenteil biblischer Spiritualität. Sie ist nicht etwa neutral, sondern sie stützt das existierende Unrecht. Leider war der Eröffnungsgottesdienst dieses Kirchentages auf der Theresienwiese weitgehend ein Beispiel dafür.
Da heute das Unrecht und die Gewalt systemisch den ganzen Erdball im Griff haben und - was noch schlimmer ist - die Haupttäter den Namen "christlicher Westen" tragen, drängt sich die Frage auf, wie sich diejenigen Teile der Christenheit, die selbstkritisch in der biblischen Spiritualität des Kampfes leben wollen, mit ähnlichen Gruppierungen aus den anderen Glaubensgemeinschaften und den humanistisch orientierten Menschen keinen Glaubens verbünden können. Viele Ansätze aus verschiedenen Religionen und Kulturen sind nicht nur kompatibel mit einer biblisch fundierten Spiritualität des Kampfes für eine andere Welt, sondern ermöglichen eine gemeinsame Praxis für die bedrohte Erde und Menschheit. Voraussetzung dafür ist allerdings die jeweilige selbstkritische Revision der eigenen Traditionen, was im Fall des nachkonstantinischen Christentums eine tief greifende Umkehr und Konflikte mit den an das herrschende System angepassten Teilen der Kirchen einschließt.
Das hat Dorothee Sölle in ihrem Buch "Mystik und Widerstand" erforscht, in ihren Gedichten besungen und in ihrem Leben gelebt. Darum bleibt sie uns eine große Lehrerin. Lassen wir uns von ihr inspirieren - zu einer Konspiration für die neue Kultur des Lebens. Venceremos!
Segen
Möge Gott dich segnen mit Unbehagen
gegenüber allzu einfachen Antworten,
Halbwahrheiten und oberflächlichen Beziehungen,
damit Leben in der Tiefe deines Herzens wohne.
Möge Gott dich mit Zorn segnen
gegenüber Ungerechtigkeiten, Unterdrückung
und Ausbeutung von Menschen,
damit du nach Gerechtigkeit und Frieden strebst.
Möge Gott dich mit Tränen segnen,
zu vergießen mit denen, die unter Schmerzen,
Ablehnung, Hunger und Krieg leiden,
damit du deine Hand ausstreckst, um sie zu trösten
und ihren Schmerz in Freude zu verwandeln.
Und möge Gott dich mit Torheit segnen,
daran zu glauben, dass du die Welt verändern kannst,
indem du Dinge tust,
von denen andere meinen,
es sei unmöglich, sie zu tun.
So segne euch Gott mit der Geistkraft des Mutes
Amen
(Aus: Kairos Europa (Hg.), 2007, Liturgische Inspirationen im Engagement für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung, Kairos Europa, Heidelberg, 48)