Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

Ihre Spende ermöglicht unser Engagement

Spendenkonto:
Bank: GLS Bank eG
IBAN:
DE36 4306 0967 8023 3348 00
BIC: GENODEM1GLS
 

Für einen deutschen Pazifismus

Von Ekkehart Krippendorff

Als US-Präsident George W. Bush 2002 für seinen Irak-Krieg eine "Koalition der Willigen" konstruierte, wurde er auf einer Pressekonferenz auf die Deutschen angesprochen - ob die mit dabei wären. Mit einer knappen Handbewegung erledigte er seine Antwort: "The Germans are pacifists" - auf deutsch: Auf die ist kein militärischer Verlaß. Welch ein Triumph der Friedensbewegung! Natürlich wissen wir alle, daß das so nicht stimmt und zu schön ist, um wahr zu sein - aber daß das jahrhundertealte stereotype Bild von Deutschland und den Deutschen als autoritätsgläubig und eben militaristisch von der gegenteiligen internationalen Wahrnehmung ersetzt wird, die Deutschen als friedfertig und ohne soldatischen Stolz, das ist schon aufregend und Anlaß zur Zufriedenheit über Jahre geleisteter historisch-politischer Bildungsarbeit.

Und tatsächlich hatte Bush so ganz unrecht ja nicht, denn Bundeskanzler Schröder als opportunistischer Taktiker der Macht erklärte gleich darauf großspurig, die deutsche Regierung werde keine Abenteuer-Politik mitmachen (obwohl sie dann diesen Krieg nicht nur logistisch direkt sondern indirekt auch materiell klammheimlich unterstützte). Man mag über die Aufarbeitung unserer traumatischen Vergangenheit kritisch und selbstkritisch denken wie man will, aber es gibt nach den Erfahrungen zweier Weltkriege doch so etwas wie eine relative Konstante im "kulturellen Gedächtnis": Die Kriegs- und Militärmüdigkeit.

Immer wieder zu erinnern ist an die Tricks und Lügen, ohne die die erste Regierung Adenauer die Wiederbewaffnung hinter dem Rücken von Parlament und Kabinett (Rücktritt Gustav Heinemanns) gegen den massiven Widerstand der westdeutschen Bevölkerung nicht hätte durchsetzen können: Der Ausruf von Carlo Schmid (1946) "Wir wollen unsere Söhne nie mehr in die Kasernen schicken!" oder auch Franz-Josef-Strauß’ opportunistische Demagogie "Wer noch einmal ein Gewehr in die Hand nimmt, dem soll die Hand abfallen" (1947) reflektierten den Zeitgeist bis weit in die fünfziger Jahre. Die schließliche passive Akzeptanz der Bundeswehr - erleichtert durch das Baudissin’sche Versprechen vom "Bürger in Uniform" - hielt sich durch bis zum Wendejahr 1989, als die Bundesrepublik unversehens keinen Feind mehr hatte, und darum die auf strikte Landesverteidigung vereidigte Bundeswehr für einige kritische Monate dramatischer Verunsicherung gewissermaßen nackt und ohne Legitimation dastand: Wäre damals ein Referendum über ihren Fortbestand abhaltbar gewesen, sie hätte es kaum überlebt.

Glücklicherweise brach genau zu diesem Zeitpunkt Saddam Hussein seinen zweiten Golfkrieg vom Zaun, der den deutschen Strategieplanern ein neues, in der Folge systematisch ausgearbeitetes Bedrohungsszenario bescherte, das als Folge u.a. den Einsatz deutscher Marine zur Sicherung lebenswichtiger Handelswege und Rohstofflieferungen vorsah. Aber zur breiten öffentlichen Akzeptanz einer aktiven "out of area"-Rolle für das deutsche Militär reichte es gleichwohl nicht aus. Vergebens bemühten sich Regierung, Opposition und nicht zuletzt die spezialisierten Meinungsmacher der Medien den Deutschen klarzumachen, daß sie nun weltpolitische Verantwortung zu übernehmen hätten und sich nicht mehr unter dem Schirm der amerikanischen Schutzmacht einer Gratis-Sicherheit erfreuen könnten. Solches blieb landauf landab meinungspublizistisch propagiert und akademisch von den Experten der politikwissenschaftlichen Disziplin der "Internationalen Beziehungen" gelehrt die militärstrategische Staatsraison der Bundesrepublik. Unsere politische Klasse wollte dazugehören, wollte nicht auf Dauer ausgeschlossen sein von der Großen Politik - und war ja eben auch als selbsternannter "Exportweltmeister" je länger desto unvermeidlicher ein Mitspieler, ein Großer unter den Mittleren.Ekkehart Krippendorff, Kritik der Außenpolitik; Frankfurt/M. 2000.

Der Realismus dieses "außenpolitischen Weltbildes" lag auch den zwar taktisch ungeschickten aber durchaus realpolitischen Bemerkungen zugrunde, die Bundespräsident Horst Köhler sein Amt kosteten: Er hat mit einer gewissen realistischen Naivität nur das ausgesprochen, was alle Beteiligten auf der Chefetage der deutschen Politik selbstverständlich wissen aber klugerweise nicht aussprechen: Die Lebenslüge deutscher (aber natürlich auch amerikanischer, englischer, französischer etc.) Außenpolitik von der reinen Friedens- und Demokratiemission ihrer Militäreinsätze im Ausland beim Namen genannt. Und natürlich war der Adressat seiner offenen Sprechweise das militärkritische, militärskeptische, sich den staatspolitischen Notwendigkeiten nicht fügen wollende deutsche Wählerpublikum.

Denn die Konstante einer mehrheitlichen Militär- und Kriegsverweigerung seit 1945 war und ist noch immer weitgehend ungebrochen. Nicht zuletzt die Friedensbewegung der 80er Jahre (die übrigens nicht unwesentlich dazu beigetragen hatte, daß die sowjetische Führung unter Gorbatschow die DDR freigab) hatte der bis dahin passiven Verweigerung eine erhebliche Öffentlichkeit und Schubkraft verschafft und, wie der hier besonders einschlägige Historiker Wolfram WetteWolfram Wette, Militarismus in Deutschland. Geschichte einer kriegerischen Kultur; Frankfurt/M. 2008. formulierte, das "Fundament einer gesellschaftlich breit verankerten Mentalität der Friedfertigkeit, die es so in Deutschland früher nicht gegeben hat," zum Vorschein gebracht - sehr zur Verunsicherung und Frustration der "realpolitisch" sozialisierten politischen Klasse. Im Grunde hatte Horst Köhler ihr mit seinen Anmerkungen zur Realpolitik einen Dienst erweisen wollen, nur ohne dann den Mut aufzubringen, auch dazu zu stehen, hatte er doch erkannt, daß die deutschen Wähler-Bürger offensichtlich einer kräftigen Schulung in Sachen Weltpolitik bedürfen, daß sie aufgeklärt werden müssen über den militärischen Preis ihres Wohlstandes.

An eben diesem Punkte stehen wir heute noch oder wieder und zwar deutlicher als zuvor: Die Bundesregierung und alle im Parlament vertretenen staatstragenden Parteien - nur scheinbar abweichend die Linke - bemühen sich geradezu verzweifelt, uns, ihrem Volk, die mehrheitliche Skepsis bzw. Ablehnung des Afghanistan-Engagements der Bundeswehr mit realpolitischer Logik auszutreiben und uns davon zu überzeugen, daß deutsche Sicherheit am Hindukusch verteidigt werden muß. Bisher ohne Erfolg. Noch im April dieses Jahres klagte der Wehrbeauftragte des Bundestages, Reinhold Robbe, es sei "auf Dauer nicht tragbar", daß ständig Umfragen veröffentlicht würden, in denen sich die Mehrheit gegen den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr ausspreche: Nur noch 13 Prozent hielten diesen für sinnvoll - ein offensichtlich dramatischer Legitimitätsverlust und symptomatisch für den Mangel an welt- und realpolitischer Bildung. Denn die Ablehnung des deutschen Afghanistan-Einsatzes als der aktuellen Wirklichkeit einer militarisierten Außenpolitik speist sich aus dem, was Robbe euphemistisch die fehlende "gesellschaftliche Anerkennung" der Soldaten nennt, das "freundliche Desinteresse der Gesellschaft", das er - seine letzte Amtshandlung - mittels eines Runden Tisches in "aufrichtige Zuwendung" umzuwandeln hofft.

Vor etwas mehr als 100 Jahren hat Max WeberMax Weber, Akademische Antrittsrede 1895; Gesammelte Schriften, Tübingen 1958. für das Kaiserreich denselben Befund mangelnder "politischer Reife der breiten Massen" diagnostiziert: Wenn ihnen "die Abhängigkeit ihrer ökonomischen Blüte von ihrer politischen Machtlage nicht täglich vor Augen geführt wird, wohnen die Instinkte für diese spezifischen Interessen nicht in den breiten Massen der Nation. Es wäre ungerecht, sie von ihnen zu beanspruchen. Nur in großen Momenten, im Fall des Krieges, tritt auch ihnen die Bedeutung der nationalen Macht vor die Seele. Allein in normalen Zeiten sinkt dieser politische Instinkt bei den Massen unter die Schwelle des Bewußtseins." Mit Neid sieht Weber damals in England den Erfolg der "Erziehung" des Proletariats als "die Resonanz der Weltmachtstellung, welche den Staat stetig vor große machtpolitische Aufgaben stellt und den Einzelnen in eine chronische politische Schulung nimmt, die er bei uns nur, wenn die Grenzen bedroht sind, akut empfängt."

In Deutschland also keine "chronische" weltpolitische Erziehung, sondern die Herbeiführung von Kriegen als "großen Momenten." Herbeigeführt, sprich: provoziert war der Deutsch-Französische Krieg 1870 durch Bismarcks perfide "Emser Depesche", die das gewünschte propagandistische Resultat von "begeisterter Einmütigkeit und Opferbereitschaft" in ganz Deutschland hatte;Ploetz, Auszug aus der Geschichte, Bd.2, S. 841. herbeigeführt die - bei genauerem Hinsehen keineswegs so überwältigende, vielmehr vor allem von der bürgerlichen Jugend getragene - Kriegseuphorie im August 1914, wozu der Chef des Marinekabinetts in seinem Tagebuch notierte: "Stimmung glänzend. Die Regierung hat eine glückliche Hand gehabt, uns als die Angegriffenen hinzustellen";Ekkehart Krippendorff, Staat und Krieg. Die historische Logik politischer Unvernunft; Frankfurt/M. 1985. herbeigeführt auch die Zustimmung des ohnehin bereits entmündigten Volkes zum nächsten Krieg: Adolf H. war im Sommer 1939 so enttäuscht über die ihm berichtete mangelnde Kriegsbereitschaft seines Volkes, daß er den fingierten Angriff auf den polnischen Sender Gleiwitz brauchte, um am 1.September erklären zu können: "Seit 4 Uhr 45 wird zurückgeschossen." Natürlich sind solche Lügen als das Schmieröl für die Akzeptanz kriegerischer Politik keine deutsche Erfindung: Shakespeare führt sie in der Eröffnungsszene von Heinrich V, geradezu exemplarisch vor - sie wurde zur publizistischen Rechtfertigung der Aggressionsstrategie amerikanischer Regierungen (Präsident Johnson und Tonkin-Golf 1964, Präsident Bush und die Massenvernichtungswaffen des Irak 2002) kurzfristig erfolgreich nachgespielt - das Muster ist immer wieder dasselbe. Darum darf man auch die meinungsbildende Dimension der aktuellen bundesdeutschen Kriegspolitik in dieser herrschaftstaktischen Perspektive sehen.

Der Krieg als Vehikel staatspolitischer Bewußtseinsbildung - das hat auch unsere politische Klasse erkannt und rituell umgesetzt: Ein Soldatenehrenmal im historischen Bendlerblock in Berlin wurde gerade rechtzeitig fertiggestellt, um im April sechs in Afghanistan gefallene Soldaten als für den Staat geopferte Menschenleben würdig, und das heißt vor allem in mediengerechter Großinszenierung - nicht Schmerz und Trauer, sondern staatlicher Stolz - die letzte Ehrung zu erweisen: Eine transpolitische Sinnstiftung des rational dem unverstellten Verstand nicht vermittelbaren gewaltsamen Todes, dessen tieferer Sinn aber in eben der Erziehung des Volkes zu weltpolitischer Verantwortung besteht und in der uralten Legitimation von Krieg als Preis für das Mitspielen der politischen Klasse in der Oberliga der Staatengemeinschaft. Noch einmal Max Weber: "Diese Leistung einer Einstellung des Todes in die Reihe der sinnvollen und geweihten Geschehnisse liegt letztlich allen Versuchen, die Eigenwürde des politischen Gemeinschaftsverbandes zu stützen, zugrunde." Das Repertoire der Herrschaftssicherung und Kriegsrechtfertigung hat eine lange Tradition und eine begrenzte Variationsbreite.

Allerdings trifft eben das nun in Deutschland auf Widerstände, wie sie andere Staaten und deren Soldaten nicht oder weniger deutlich ausgeprägt kennen - eben die militärkritische, um nicht zu sagen die anti-militaristische Mentalitätsveränderung als Folge der vom eigenen Militarismus verursachten Katastrophen. Nur in Deutschland gab es schon in der Weimarer Republik - wenn auch damals noch ohne jede signifikante Breitenwirkung - das Phänomen der "pazifistischen Offiziere"Wolfram Wette (Hg.), Pazifistische Offiziere in Deutschland 1871-1933; Bremen 1999., die sich teilweise sogar in zivil-pazifistischen Organisationen und Gruppen engagierten, ein deutsches Paradoxon ebenso wie der Begriff des "patriotischen Pazifisten": Menschen, nicht nur Männer, die aus den Erfahrungen des Weltkrieges gelernt hatten. Sie und ihre Historiker bereiteten jenen Mentalitätswandel vor, der nach dem Zweiten Weltkrieg dann mehrheitsfähig werden konnte: Ein deutscher "Sonderweg", so wie der Militarismus einer gewesen war. Nur in Deutschland konnte es jenen terminologischen Eiertanz geben um die von der Empirie längst beantwortete Frage, ob der Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr nun "Krieg" sei, oder nicht; dahinter steht die Scheu, dem noch immer nicht ausreichend realpolitisch erzogenen Volk die schlichte Wahrheit zuzumuten, über die es täglich von Zeitung und Fernsehen informiert wird: Die Bundesrepublik führt Krieg, und unsere Regierung schlittert sehenden Auges jeden Tag tiefer in diesen aussichtslosen Morast. Darum ist es an der Zeit, wenigstens in Gedanken den abwärts rollenden Kriegswagen anzuhalten und darüber nachzudenken, ob das bisher nur negativ wahrgenommene Potential der deutschen Militärgegnerschaft, ihre landläufig als Pazifismus bezeichnete Haltung, nicht konstruktiv realisierbare Perspektiven enthält, die es verdienen, wahrgenommen und geprüft zu werden.

Dabei sind zwei Prämissen zu beachten. Die erste, daß es den Pazifismus als kodifizierte politische Weltanschauung und Lehre nicht gibt: Die Spannweite des Begriffs und seiner Inanspruchnahme ist enorm breit. Sie reicht von der in seiner Radikalität einmaligen Existenz Mahatma Gandhis bis zu dem österreichischen Bauern Franz Jägerstätter, der Hitler den Kriegsdienst verweigerte und dafür willig in den Tod ging, vom bedingungslos gewaltfreien Nelson Mandela, der kompromißlos 26 Jahre in Einzelhaft gehalten wurde, bis zur leidenschaftlichen Rüstungsgegnerin Berta von Suttner, deren Roman "Die Waffen nieder" (1914) der Bewegung zumindest in Mitteleuropa eine mächtige Stimme verlieh. Die zweite Prämisse, daß intellektuelle Kritiker von Krieg und Rüstung in bestimmten Situationen pazifistische Positionen beziehen, Kriegsdienstverweigerer in anderen Umständen durchaus mit der Waffe zu kämpfen bereit sein können. Hier und heute in Deutschland sind solche Positionen und Haltungen von Bedeutung und Interesse, die mit dem Potential einer pazifistisch grundierten Kriegs- und Militärgegnerschaft konstruktiv umzugehen wissen und einen deutschen Sonderweg in der Weltstaatengesellschaft wenigstens zu erkunden bereit sind. Ihr Credo heißt nicht waffenlose Tatenlosigkeit, sondern aktives und gewaltfreies Engagement deutscher Außenpolitik, heißt nicht-militärische Intervention bei sozio-politischen Großkonflikten. Die Arbeitshypothese pazifistischer Forscher, Lehrer, Sozialarbeiter, Vermittler, Mediziner und Helfer aller Art ist die, daß es prinzipiell für jeden gesellschaftlichen oder politischen Konflikt eine gewaltfreie Lösung gibt - nur ist diese ist in der Regel die schwierigste, die am mühsamsten zu findende, die am meisten Geduld erfordernde, die mit den größten Widerständen aus Gesellschaft und Politik zu rechnen hat, weil sie den gängigen und tradierten Techniken und Taktiken des Politikgeschäfts zuwiderläuft und das ganze Gewicht historischer Wahrheiten gegen sich hat. So schrieb Max Weber 1916 der Schriftstellerin Gertrud Bäumer: "Wer eine Welt der diesseitigen Kultur bejaht, der möge wissen, daß er an die Gesetzlichkeiten der diesseitigen Welt gebunden ist, die auf unabsehbare Zeit die Möglichkeit und Unvermeidbarkeit des Machtkrieges einschließen."

Dem steht entgegen die ermutigende Mitteilung Goethes: "In der Idee leben heißt das unmögliche handeln, als wenn es möglich wäre."Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke (Artemis) Bd.9, S.525. Und Pazifisten, welcher Couleur auch immer, leben "in der Idee": Ob das nun ein Daniel Barenboim ist, der, inspiriert von Goethes Vision des interkulturellen Islam-Dialogs, 1999 in Weimar mit arabischen und israelischen Musikern das "West-East Divan Orchestra" gründete, ob es die zahlreichen palästinensisch-israelischen Lehr- und Lernprojekte sind, die in den letzten Jahren nicht zuletzt von jungen Deutschen initiiert und vermittelt wurden - das "Forum ziviler Friedensdienst" hat seit 1997 über 300 Friedensfachkräfte ausgebildet und betreut Projekte nicht nur in Nahost, sondern auch auf dem Balkan und den Philippinen -, ob es die Hilfsaktionen des deutschen Grundrechte-Komitees waren, kriegsgeschädigte Kinder aus dem Kosovo zu Ferienaufenthalten nach Deutschland zu bringen, ob es die Aktion "Kontakte" ist, die vergessene ehemalige sowjetische Kriegsgefangene betreut, ob es das Tübinger Institut für Friedenspädagogik ist, das mit einer Ausstellung "Peacebuilders Around the World" und dazugehörigen Workshops vor kurzem mehrere Wochen in spannungsgeladenen Regionen Indiens unterwegs war ("Peace Counts on Tour") oder mit dem einer japanischen NGO gehörigen "Peaceboat" Häfen im Mittelmeer zwischen der Türkei, Griechenland und Ex-Jugoslawien anlief und dort Begegnungen zwischen verfeindeten und misstrauischen ethnischen Gruppen zustandebrachte, ob es die (1999 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten) "Ärzte ohne Grenzen" sind, ob es, weitgehend vergessen, die erstaunlichen Erfolge von Schul- und Städtepartnerschaften sind, die z.B. aus dem historischen "Erbfeind Frankreich" einen guten, normalen Nachbar gemacht haben ("Mentalitätswandel") - kurz: Die deutsche Nachkriegsgesellschaft (bei Naturkatastrophen die relativ spendenfreudigste!) ist nicht nur im "Meinungsbild" friedfertig geworden, ihr Pazifismus war und ist auch einer der Tat in Gestalt humanitärer Engagements, die ihr offensichtlich näherliegen und gemäßer sind, als das von der Regierung betriebene "Peace Enforcing", das Frieden mit Waffen schaffen will.

Pazifistische Strategien in der ganzen Breite möglicher konkreter Praktiken phantasievoll zu entwickeln wären ein deutscher Beitrag, dem weltweit sich dramatisch ausbreitenden politischen und gesellschaftlichen Desintegrationsprozess entgegenzuwirken, den mit Gewalt zu unterdrücken ganz offensichtlich und an allen Krisenherden beobachtbar konterproduktiv versagt. Eigentlich sollte es unmittelbar einsichtig sein, daß man mit Militär zwar viel Unmilitärisches machen kann - z.B. Katastrophenhilfe - aber eines nicht: friedlich-demokratische Gesellschaften zu organisieren. Mit Maschinenpistolen im Anschlag lassen sich keine Dialoge zwischen Streitenden führen. Wieder einmal wird dieser Tage über den militärisch inzwischen völlig unsinnigen Wehrdienst diskutiert. Wie wäre es, wenn die Bundesrepublik einen gleichwertigen Friedensdienst einrichtete: Junge Menschen (Männer und Frauen) ein Jahr lang auszubilden in Konfliktprävention und -mediation, ausgerüstet mit ökonomischem, soziologischem, sozialpsychologischem und kommunikativem Grundwissen; das steht längst griffbereit und abrufbar in den Regalen der Friedens- und Konfliktforscher. Und dann würden solche, nennen wir sie "Friedensbrigaden", der UNO zur Verfügung gestellt. Sollen andere Staaten ihr politisches Glück bei der Wiederherstellung friedlicher Ordnungen mit Soldaten und Panzerfahrzeugen versuchen - die deutsche Gesellschaft offeriert als alternatives Modell die gewaltfreie Intervention ausgebildeter Friedensexperten.

Vielleicht, ja mit hoher Wahrscheinlichkeit ist ein solches Projekt nicht durchsetzbar - jedenfalls nicht ohne einen Mentalitätswandel unserer politischen Klasse und der Medien-Meinungsöffentlichkeit. Aber den Versuch wenigstens des gedanklichen Experiments sollte es wert sein. Nelson Mandela war 27 Jahre lang der einschüchternde Beweis für das realpolitische Scheitern seiner nur in der Idee lebendigen Wahrheit; die burmesische Trägerin des Friedensnobelpreises Suu Kyi lebt seit 14 (immer wieder verlängerten) Jahren in Arrest, aber auch sie ohne ihre Idee einer zivilen demokratischen Regierung an die Wirklichkeit zu verraten. Aktive Pazifisten müssen nicht nur Stärke sondern auch Geduld mitbringen im Vertrauen auf die langfristige Möglichkeit des heute unmöglich Scheinenden. Wenn das absehbare Scheitern auch des deutschen Teils des Afghanistan-Krieges eintritt und immer mehr Namen auf dem Opferaltar in Berlin eingetragen werden müssen, dann hat der Pazifismus hier eine ernsthafte Chance. Darauf kann man sich vorbereiten.

Mai/Juni 2010

Dieser Beitrag erscheint in einer Kurzfassung in der Freitag und in der Langfassung in der Juli-Nummer der "Blätter für deutsche und internationale Politik". Wir bedanken uns bei Ekkehart Krippendorff dafür, dass er ihn uns freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat.

Fußnoten

Veröffentlicht am

12. Juni 2010

Artikel ausdrucken

Weitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von