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Gegengipfel in Toronto

Redebeitrag von Maude Barlow

Von Amy Goodman, 02.07.2010 - Democracy Now!

Amy Goodman: Während sich die FührerInnen der Welt zum G20-Gipfel in Toronto trafen, versammelten sich Tausende - unter ihnen maßgebliche Aktivisten aus aller Welt - in Torontos Massey Hall, um sich gegen die Gipfel-Agenda zu wenden. Eine der Schlüssel-RednerInnen auf dem Treffen der GipfelgegnerInnen war Maude Barlow. Sie leitet das ‘Council of Canadians’, die größte Bürgerrechtsorganisation Kanadas. Barlow ist zudem MitbegünderIn des ‘Blue Planet Project’.

Sie sagte in Toronto:

Maude Barlow: Der G20-Gipfel geht zu Ende. Nehmen wir dies zum Anlass, um uns einige Fakten anzusehen. Fakt ist, dass sich die Welt, wie nie zuvor in unserer Geschichte, in arm und reich spaltet. Die Reichsten 2 Prozent haben mehr Habe als die Hälfte aller Haushalte dieser Erde zusammen. Die reichsten 10 Prozent halten 85% des - weltweiten - Besitzes in Händen. Die arme Hälfte der Menschheit besitzt zusammen weniger als 1 Prozent des globalen Besitzes. Die drei reichsten Männer der Welt besitzen mehr als die ärmsten 48 Staaten dieser Erde. Fakt ist auch, dass die für die globale Finanzkrise 2008 Verantwortlichen freigekauft wurden und hier, auf dem G20-Gipfel der Regierungen, sogar belohnt werden - während im Jahr 2009 34 Millionen Menschen arbeitslos wurden, wie die ‘International Labor Organisation’ sagt. Das Heer der Arbeitslosen ist dadurch auf 239 Millionen Menschen angewachsen (die höchste jemals registrierte Zahl). Weitere 200 Millionen Menschen arbeiten in prekären Jobverhältnissen und sind von Arbeitslosigkeit bedroht. Laut Weltbank werden bis Ende 2010 weitere 64 Millionen Menschen ihren Arbeitsplatz verloren haben.

Bis 2030 werden mehr als die Hälfte der BewohnerInnen der Megastädte des Globalen Südens Slums bewohnen - das heißt, diese Menschen werden keinen Zugang zu Bildung, Wasser, medizinischer Versorgung oder sanitären Einrichtungen haben.

Eine weitere Tatsache ist, dass der globale Klimawandel rapide weitergeht. Jedes Jahr fallen ihm mindestens 300.000 Menschen zum Opfer. Die Kosten der Zerstörungen betragen - Jahr für Jahr - $125 Milliarden. Der Klimawandel wird als "stille Krise" bezeichnet: Abschmelzen von Gletschern, Bodenerosion und durch den Klimawandel verursachte chaotische und immer heftigere Stürme, die unzählige Millionen Menschen aus ländlichen Regionen vertreiben. Sie fristen nun, an den Rändern der urbanen Zentren, ein Dasein in verzweifelter Armut. Fast alle Opfer leben im Globalen Süden - in Gemeinden, die keine Schuld an den Treibhausgasemissionen haben. Doch sie sind auf dem G20-Gipfel nicht vertreten.

In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Erdatmosphäre um ein volles Grad erwärmt. Bis 2100 wird sie sich um 2 Grad erwärmt haben. Das ist die Entwicklung. Fakt ist auch, dass die Lungen unseres Ökosystems, nämlich die Tropenwälder, verschwinden. Falls weiter in dieser Geschwindigkeit abgeholzt wird ("geerntet", wie sie es nennen), stehen 2030 nur noch 10 Prozent unserer Tropenwälder. 90 Prozent der großen Meerestiere sind bereits verschwunden - Opfer einer Fischerei, die Raubbau betreibt und kein Maß kennt. Ein prominenter Forscher, der das Aussterben wissenschaftlich verfolgt hat, sagt, die blaue Grenze existiere nicht mehr. Die Hälfte der globalen Sumpfgebiete (Wetlands) - die Nieren unseres Ökosystems - wurde bereits im 20. Jahrhundert vernichtet. Das Artensterben vollzieht sich tausend Mal schneller als vor der Zeit des Menschen. Laut eines Wissenschaftlers des ‘Smithsonian Institute’ ist eine Entwicklung zu weniger Biodiversität erkennbar, das heißt, Arten und Ökosysteme werden schneller vernichtet, als die Natur sie neu erschaffen kann.

Fakt ist auch, wir verschmutzen unsere Seen, Flüsse und Ströme, bis sie tot sind. Tag für Tag werden zwei Millionen Tonnen landwirtschaftlicher Abfälle und Abwässer in die Gewässer unserer Welt entsorgt. (…) Die Menge des jährlich verunreinigten Wassers entspricht mehr als dem Sechsfachen des Wassers, das in allen Flüssen dieser Welt fließt.

Was unser Grundwasser angeht, so beuten wir es schneller aus, als wir dessen Regenerierung gewährleisten. Wir pumpen es ab, um chemisch gedüngte Pflanzen, die in Wüsten angebaut werden, zu bewässern und pumpen es in die Wasser gierigen Großstädte. Letztere entsorgen Unmengen von Abwasser (Wasser, das nicht aus den Meeren stammt) in die Ozeane: 700 Milliarden Liter!

Zusätzlich verbraucht die Minen-Industrie weltweit 800 Billionen Liter Wasser. Auch sie hinterlässt Wasser als Abwasser. Die Produktion von Biokraftstoffen verschlingt mittlerweile ein Drittel (!) des nutzbaren globalen Wassers. Diese Menge an Wasser würde ausreichen, um die Welt zu ernähren. Fast drei Milliarden Menschen unseres Planeten haben - im Umkreis von einem Kilometer ihrer Unterkunft - kein fließendes Wasser. Alle acht Sekunden stirbt ein Kind an einer Krankheit, die mit schlechter Trinkwasserqualität zusammenhängt. Die globale Wasserkrise wird stetig schlimmer. Berichten zufolge stehen einige Länder - von Indien über Pakistan bis zum Jemen - an der Schwelle einer immensen Krise. Laut Weltbank wird der Wasserbedarf den Zugang zu Wasser um 40 Prozent übersteigen. Vielleicht klingt das sehr statistisch, doch das Leid, das hinter diesen Zahlen steckt, lässt sich nicht in Worte fassen. Eine Tatsache ist auch, dass angesichts der bevorstehenden Wasser- und Nahrungsmittelkrisen (es wird nicht mehr genug Nahrung und Wasser für alle geben) reiche Länder, globale Hedgefonds und globale Pensions-Investmentfirmen damit begonnen haben, Wasser, Felder, Ländereien und Wälder des Globalen Südens aufzukaufen. Auf diese Weise erzeugen sie eine neue Welle des invasiven Kolonialismus - mit massiven geopolitischen Auswirkungen. Mehrere reiche Staaten, in denen es zu Lebensmittelengpässen gekommen ist, haben in Afrika bereits eine Fläche aufgekauft, die insgesamt mehr als das Doppelte von Großbritannien beträgt. Ich glaube kaum, dass ich übertreibe, wenn ich sage, dass unsere Erde noch nie so vielen Gefahren und Problemen ausgesetzt war.

Was aber tun die 20 FührerInnen, die sich hier, in Toronto, versammelt haben? Einige sind bereits angereist; die anderen werden heute Abend kommen. Worüber werden sie sich in den nächsten Tagen unterhalten? Übrigens: Der Gipfel selbst kostet $1 Million pro Minute. Wenn er zu Ende geht, so unsere Berechnungen, wird diese Veranstaltung fast $2 Milliarden gekostet haben. Zum Vergleich: Das Jahresbudget der Vereinten Nationen beträgt $1,9 Milliarden. Und ich kann Ihnen jetzt schon versichern, dass sich der Gipfel mit den oben genannten Themen nicht ernsthaft befassen wird.

Die Erklärungen sind schon verfasst, das Scheitern ist bewusst vorprogrammiert. Stattdessen werden die Hoheiten aus aller Welt (die mehr miteinander gemein haben als mit ihren jeweiligen Bürgerinnen und Bürgern) sich auf diesem Gipfel damit befassen, die Themen und Interessen ihrer eigenen Klasse voranzutreiben und den Status quo zu erhalten, der den Eliten dieser Länder so nützlich ist, aber auch der Geschäftswelt und den so genannten B-20 (dieser neue Begriff meint jene Community, die privatem, privilegiertem Zugang genießt, um ihre Lösungen des Freien Marktes den sehr geneigten Führerinnen und Führern präsentieren zu können). Auf der Agenda steht: Mehr von der schlechten Medizin, die die Welt überhaupt erst krank gemacht hat. Die Finanzspekulation darf uneingeschränkt weitergehen, der Umweltschutz wird dereguliert, das Wachstum soll endlos steigen, der Handel wird nicht reguliert, die Ressourcen weiter ausgebeutet; die Reichen bekommen Steuererleichterungen, die Sozialversicherungen müssen Einschnitte hinnehmen. Den ArbeitnehmerInnen wird der Krieg erklärt. Kurz gesagt: wilder Kapitalismus.

Blicken wir nun auf unser eigenes Land (Kanada), auf die Angriffe gegen das, was Generationen von Kanadiern zum Aufbau einer gerechten Gesellschaft geleistet haben. Die kanadische Regierung unter Stephen Harper hat so ziemlich jede Gruppierung, die anderer Meinung ist, abgesägt - von uns Frauen und den (Indigenen) der First Nation, über internationale Agenturen und kirchliche Gruppen, wie KAIROS, bis zu den Alternativen und dem ‘Canadian Council for International Cooperation’.

Amy Goodman: Dies war Maude Barlows Rede. Barlow war eine der Hauptrednerinnen auf der Veranstaltung in der Massey Hall von Toronto am Freitagabend. 3.000 Menschen quetschten sich bei diesem Event in die Halle. Zur selben Zeit trafen sich die G8 und später die G20. Laut Schätzungen wurden zwischen 900 und 1.000 Menschen verhaftet, unter ihnen viele Journalisten. Es war die größte Massenverhaftung in der kanadischen Geschichte. Für die Sicherheitsmaßnahmen im Rahmen des Gipfels wurden - so wird geschätzt -, mehr als $1 Milliarde ausgegeben. Es war der teuerste Gipfel in der Geschichte Kanadas.

 

Amy Goodman ist Moderatorin des TV- und Radioprogramms ’ Democracy Now! ‘, das aus rund 500 Stationen in Nordamerika täglich/stündlich internationale Nachrichten sendet.

 

Quelle: ZNet Deutschland vom 18.06.2010. Originalartikel: Maude Barlow: "The World Has Divided into Rich and Poor as at No Time in History. Übersetzt von: Andrea Noll.

Veröffentlicht am

11. Juli 2010

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