Haiti: 6 Monate nach dem ErdbebenDie politischen Hindernisse beim WiederaufbauVon Yves Engler, 19.07.2010 - CounterPunche Vor sechs Monate starben bei einem verheerenden Erbeben auf Haiti mehr als 230.000 Haitinaner/innen. Rund 100.000 Häuser wurden völlig zerstört sowie Hunderte Schulen und viele andere Gebäude. Die Szenerie der Zerstörung füllte die Bildschirme der ganzen Welt. Nach einem halben Jahr hat sich erstaunlich wenig an dem Anblick geändert. Der Präsidentenpalast, der durch das Erdbeben zerstört wurde, liegt nach wie vor in Trümmern - ein Symbol für die Größenordnung der Zerstörung. Port-au-Prince liegt noch immer unter Schutt. Circa 1,3 Millionen Menschen leben in 1.200 Übergangscamps - Zeltlagern, die in und um die Hauptstadt errichtet wurden. Laut einer Schätzung sind weniger als 5% der Trümmer des Erdbebens beseitigt. Allein in Port-au-Prince liegen 20 Millionen Kubikmeter Schutt. Das macht das Aufräumen natürlich zu einer großen Herausforderung. Wenn Tag für Tag tausend Lastwagen zur Verfügung stünden, würden sie 3 bis 5 Jahre brauchen, um den ganzen Schutt wegzubringen. Aber es stehen nicht einmal 300 Lastwagen für diese Aufgabe zur Verfügung. Die technischen Hindernisse auf dem Weg zum Wiederaufbau sind immens hoch. Noch gewaltiger jedoch sind die politischen Hindernisse. Kurz nach dem Erdbeben wurden Haiti $10 Milliarden an internationaler Hilfe zugesagt. Bis zum 30. Juni waren gerade einmal 10% der 2,5 Milliarden, die für 2010 zugesagt worden waren, eingetroffen. Viele der Gelder wurden durch politisches Gerangel verzögert. So verlangte die internationale Gemeinschaft - vertreten durch die USA, Frankreich und Kanada - vom haitianischen Parlament, per Gesetz, einen achtzehnmonatigen Notstand zu beschließen. Dieser Gesetzesvorschlag hätte im Grunde bedeutet, dass die Regierung die Kontrolle über den Wiederaufbau abgibt. Das Geld nicht zu übergeben, war ein Druckmittel (pressure tactic), mit dem Ziel, der internationalen Gemeinschaft die Kontrolle über die ‘Interim Commission for the Reconstruction of Haiti’ (Interimskommission für den Wiederaufbau Haitis) zu verschaffen. Die Kommission darf über die Milliarden (für den Wiederaufbau) verfügen. Dieses (politische) Manövrieren stieß in Haiti auf Proteste und verbreitete eine feindselige Stimmung. Die internationale Gemeinschaft sah sich hierauf gezwungen, etwas kürzer zu treten. Ursprünglich war geplant, die Mehrzahl der Sitze in der Interimskommission mit Repräsentanten ausländischer Regierungen und internationaler Finanzinstitutionen zu besetzen. Jetzt sollen diese Vertreter nur die Hälfte der Sitze des 26-köpfigen Komitees einnehmen. Dennoch ist weiterhin geplant, dass die Weltbank und andere internationale Institutionen über das Geld verfügen sollen. Der ehemalige amerikanische Präsident Bill Clinton und Haitis Premierminister Jean-Max Bellerive sind die beiden Ko-Vorsitzenden der Wiederaufbaukommission, die sich am 17. Juni zum ersten Mal getroffen hat. Die Muskelspiele der westlichen Mächte bei der Besetzung dieser Kommission, haben gezeigt, dass die seit langem praktizierte Politik - die Glaubwürdigkeit und Stärke des haitianischen Staates - zu untergraben, weitergeführt wird. Seit zwei Jahrzehnten werden die Regierungen Haitis durch Washington und dessen Verbündete bewusst geschwächt. So hatten sie die Privatisierung einer Reihe von Staatsunternehmen auf Haiti verlangt sowie verbilligte (Import-)Zölle für landwirtschaftliche Produkte - alles im Namen neoliberaler Theorien. Dies führte zum Niedergang der haitianischen Nahrungsmittelproduktion und beschleunigte den Exodus der Menschen vom Land in die Großstädte. Diese Entwicklung ist mitschuldig an der großen Zahl von Opfern und dem Ausmaß der Zerstörungen durch das Erdbeben. Washington hat jene haitianischen Regierungen destabilisiert, die die Interessen der Armen über die Interessen der ausländischen Konzerne stellten. So wurde am 29. Februar 2004 die gewählte Regierung von Jean-Bertrand Aristide durch Amerika, Frankreich und Kanada gestürzt. Im Anschluss kam es zu einer schrecklichen Welle der politischen Repression. Die UNO besetzte das Land - sie besetzt es bis heute. Seit 2004 hält sich Aristide gezwungenermaßen im südafrikanischen Exil auf. Seine Partei - die Fanmi Lavalas - darf bei keiner Wahl mehr antreten (das gilt auch für die kommende Wahl, die am 28. November stattfinden soll). All diese Faktoren haben dazu geführt, dass es auf Haiti keine Institution mehr gibt, die glaubwürdig genug und fähig sind, den Wiederaufbau zu leisten. Die Regierung unter Präsident Rene Preval hat den Rückhalt in der armen Mehrheit der Bevölkerung verloren, weil sie sich Washington und den Eliten vor Ort angedienert hat. Vor kurzem verteidigte Preval das Verbot der Fanmi Lavalas - obgleich diese noch immer die populärste Partei des Landes ist. Auch die 10 000 Soldaten der UNO-"Friedenstruppe" auf Haiti sind allgemein unbeliebt. In den ersten beiden Jahren nach dem Putsch 2004 unterstützte die Truppe die haitianische Polizei regelmäßig bei deren brutalen Übergriffen gegen arme Gemeinden und friedliche Demonstrationen (auf denen die Rückkehr der gewählten Regierung gefordert wurde). Die UNO-Truppen beteiligten sich in direkter Weise an einer brutalen politischen "Pazifizierungs-"Kampagne, bei der es wiederholt zu so genannten "Antibanden"-Angriffen in den Armenvierteln von Port-au-Prince kam. Die beiden schlimmsten Razzien fanden am 6. Januar 2005 und am 22. Dezember 2006 statt. Dabei starben insgesamt 35 unschuldige Zivilisten; Dutzende wurden verletzt. Das geschah in dem dichtbevölkerten Stadtteil Cité Soleil (einer Pro-Aristide-Bastion). Im April 2008 machten die UNO-Truppen erneut deutlich, worin sie ihre oberste Aufgabe im Land sehen, nämlich in der Verteidigung der enormen ökonomischen Kluft, die hier herrscht: Als es - aufgrund gestiegener Lebensmittelpreise - zu Aufständen kam, schlugen sie die Proteste nieder, indem sie eine Hand voll Demonstranten töteten. Auch die NGOs, die vom Ausland her finanziert werden, haben sich auf Haiti unglaubwürdig gemacht, weil sie ihren Beitrag zu dem nun schon zwanzig Jahre dauernden Prozess der Schwächung der jeweiligen Regierung, geleistet haben. Manche Menschen auf Haiti sprechen inzwischen schon voller Ironie von einer "Republik der NGOs". Jedenfalls haben die NGOs enormen Einfluss und werden - als mutmaßliche Helfer - (finanzielle) Unterstützung erhalten. Manchmal helfen sie ja auch tatsächlich. Aber wie würde es uns gefallen, wenn sämtliche Schulen und sozialen Dienstleistungen von ausländischen Wohlfahrtsorganisationen geleitet würden? In Port-au-Prince findet man Graffitis, die die NGOs kritisieren. ‘Nieder mit den NGOs!’. Vor zwei Wochen beklagte sich der haitianische Journalist Wadner Pierre: "Die NGOs demütigen und diskriminieren die Armen und die respektable Bürger Haitis nach wie vor, indem sie ihnen unterstellen, sie seien alles gefährliche oder gewalttätige Leute oder Wilde. Dabei wissen die gar nichts - nicht einmal, wie man ein Zelt aufstellt. Gleichzeitig ignorieren sie die Stärke und den Mut dieses Volkes". In den letzten zwei Monaten kam es in Port-au-Prince und andernorts zu einer Reihe von Großdemonstrationen. Die Demonstranten forderten die Rückkehr Aristides nach Haiti und die Aufhebung des Verbots der Partei Fanmi Lavalas. Natürlich zeigten sich die Demonstranten auch wütend über den schleppenden Wiederaufbau und die sechsjährige ausländische Okkupation. Wie sollten Menschen reagieren, die einen Beitrag zur Hilfe leisten wollen? Erstens. Alle ernst gemeinten Anstrengungen für den Wiederaufbau müssen darauf ausgerichtet sein, die Regierung Haitis zu stärken, damit SIE Unterkünfte, Bildung, Krankenversorgung und andere soziale Dienstleistungen bereitstellt. Die Hilfe muss in andere Kanäle gelenkt werden und darf nicht in neoliberale Anpassung(sprogramme), Sweatshop-Ausbeutung und NGO-Wohlfahrt fließen. Sie muss umgelenkt werden, sodass sie eine Investition in die Regierung und in die öffentlichen Institutionen Haitis darstellt. Zweitens. Der ländliche Raum Haitis braucht große Investitionen. Die Landwirtschaft auf Haiti ist praktisch ausgelöscht. Ein Grund für die Armut der Haitianer sind Auslandsbeihilfen, die Sweatshop-Arbeit höher bewerteten als die Landwirtschaft. So entsorgen beispielsweise die USA ihren Reis auf dem haitianischen Markt. Noch vor 30 Jahren versorgte sich Haiti zu 90% selbst mit Reis. Heute kommen weniger als 10% des Reises vom heimischen Markt. Drittens. Die Partei Fanmi Lavalas muss ab sofort wieder zu den Wahlen zugelassen werden, und Aristide muss aus dem Exil zückkehren dürfen. Erst, wenn die Haitianer ihre Angelegenheiten wieder selbst in die Hand nehmen dürfen, wird der tatsächliche Wiederaufbau beginnen. Quelle: ZNet Deutschland vom 26.07.2010. Originalartikel: The Political Roadblocks to Haiti’s Reconstruction . Übersetzt von: Andrea Noll. Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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