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Völkerrecht: Spur der Verwüstung

Die bittere Lehre aus dem Bombenangriff von Kunduz vor genau einem Jahr lautet: Der Krieg zermalmt das Recht

Von Jürgen Rose

Mit dem Luftschlag von Kunduz am 4. September 2009 hat die deutsche Afghanistanpolitik ihre Unschuld verloren", konstatierte jüngst die Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung. Dieser Aussage muss man in doppelter Hinsicht widersprechen. Zum einen handelte es sich, wie die euphemistische Begrifflichkeit suggerieren mag, keineswegs um einen Klaps auf den Hosenboden widerborstiger afghanischer Halbstarker, sondern um einen mörderischen Angriff aus der Luft. Und zum anderen hatte sich diese Republik bereits in dem Moment schuldig gemacht, als der erste Soldat des "Kommandos Spezialkräfte" seinen Stiefel im Rahmen der "Operation Enduring Freedom", jenes völkerrechtswidrigen, von George W. Bush proklamierten Kreuzzugs gegen den Terror auf afghanischen Boden gesetzt hatte.

Aber auch die Legitimität der anderen Mission am Hindukusch, jener vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mandatierten und damit zumindest formal völkerrechtskonformen International Security Assistance Force, kurz ISAF, ist längst brüchig. Denn als im März 2007 die Bundesregierung Tornado-Waffensysteme nach Mazar-i-Sharif entsandte und der Bundestag dem zustimmte, war klar, dass die deutschen Streitkräfte in Afghanistan in einen formidablen Krieg verwickelt waren.

Ruf nach Konsequenzen

Eines freilich illustrierte jene nächtliche Feuerhölle, in der nach den akribischen Recherchen des Journalisten Christoph Reuter 91 Menschen zerfetzt und verbrannt wurden: Die Deutschen hatten das Töten wieder gelernt, und zwar gründlich. Angesichts des Geschehenen herrscht in der Öffentlichkeit bis heute Entsetzen und Empörung, insbesondere bei denjenigen, die die bitteren Lektionen aus der verheerenden Geschichte des preußisch-deutschen Militarismus gelernt und nicht bereits wieder vergessen hatten. Da half auch nicht, dass Deutschland nach monatelangem Hinhalten an die Familien der Opfer mittlerweile eine "Wiedergutmachung" geleistet hat. Von einer angemessenen Entschädigung kann dabei angesichts eines Betrages von 5.000 US-Dollar für jede betroffene Familie, unabhängig von der Zahl der Opfer und vom Grad der Schädigung, keine Rede sein. Zudem erfolgte die Zahlung lediglich gnadenhalber, also unter Ausschluss der Anerkennung irgendwelcher Rechtspflichten.

Völlig zu Recht wurde nach dem Bombenmassaker umgehend der Ruf nach juristischen Konsequenzen für die Verantwortlichen laut. Leider vergebens. Sowohl die Generalbundesanwältin als auch der Wehrdisziplinaranwalt haben ihre Ermittlungen gegen Oberst Georg Klein, der den Befehl zum Bombenabwurf gegeben hatte, mangels Tatverdachts eingestellt. Überraschen konnte dies nicht wirklich, hatte sich doch die deutsche Politik unter dem Eindruck des Geschehens dazu durchgerungen, offiziell einzuräumen, dass die Bundeswehr in Afghanistan im Rahmen eines "nicht-internationalen bewaffneten Konfliktes" kämpft, wie die völkerrechtliche Terminologie lautet. Der Verdacht liegt nahe, dass dies auch geschah, um Klein und seine Mitstreiter einer justiziellen Sanktionierung zu entziehen. Denn wenn ein bewaffneter Konflikt vorliegt, unterfällt die juristische Bewertung militärischen Handelns den hierfür vorgesehenen Rechtsregeln. Kodifiziert sind diese primär im sogenannten Humanitären Völkerrecht (HVR). Dessen Kernbestand findet sich in den Genfer Konventionen von 1949 sowie den beiden Zusatzprotokollen von 1977.

Indes entpuppt sich das HVR als janusköpfig. Einerseits soll es zwar den Krieg einhegen, seine Exzesse verhindern, Kriegsgefangene und vor allem die unbeteiligte Zivilbevölkerung schützen. Andererseits handelt es sich mitnichten um "Kriegsverhinderungsrecht", sondern gestattet durchaus die kriegerische Auseinandersetzung, indem es letztere festgelegten Regularien unterwirft. So darf der Konfliktgegner mit den völkerrechtlich zulässigen militärischen Mitteln und unter Wahrung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit bekämpft und auch getötet werden. Dies gilt nicht nur für Kombattanten in Uniform, sondern auch für all jene, die sich in organisierten bewaffneten Gruppen dauerhaft oder als einzelne Zivilisten zeitweise an Kampfhandlungen beteiligen. Dagegen sind Zivilpersonen, die nicht an Kampfhandlungen teilnehmen, zu schützen und zu schonen. Nicht unerheblich eingeschränkt wird dieses Prinzip allerdings dadurch, dass im Zuge von Angriffen auf militärische Ziele durchaus zivile Opfer und Schäden in Kauf genommen werden dürfen. Unzulässig ist lediglich, dass dabei die zivilen Verluste in keinem Verhältnis zum erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil stehen.

Von langer Hand vorbereitet?

Wendet man diese Regeln nun auf den Fall Kunduz an, so war die gewaltsame Kaperung der beiden Tanklastwagen, die Treibstoff für die ISAF transportierten, zweifellos ein feindseliger Akt der gegnerischen Guerilla. Diese feindliche Handlung war zum Zeitpunkt der Bombardierung keineswegs beendet - im Gegenteil waren die Taliban unter Mithilfe lokaler Dorfangehöriger damit beschäftigt, die festgefahrenen Tanker wieder flottzukriegen und zu diesem Zweck unter anderem Treibstoff aus diesen abzuzapfen. Nach militärischer Logik durften beide Akteure gemäß den Regeln des HVR zu diesem Zeitpunkt bekämpft werden. Gleichermaßen durften die beiden Tankfahrzeuge ins Visier genommen werden, um zu verhindern, dass der Feind aus dem erbeuteten Treibstoff einen Vorteil für seine Kampfführung ziehen konnte.

Zudem - und dafür sprechen gewichtige Indizien - ist davon auszugehen, dass es sich bei dem gesamten Geschehen an diesem Tage um eine von langer Hand vorbereitete Geheimoperation handelte, die von der im Raum Kunduz operierenden "Task Force 47" durchgeführt wurde. Darin involviert waren nicht nur deutsche Soldaten des Kommandos Spezialkräfte, sondern auch Angehörige des Bundesnachrichtendienstes sowie aller Wahrscheinlichkeit nach US-amerikanische Special Forces und Geheimdienste. Das Ziel der Operation könnte darin bestanden haben, mehrere hochrangige Taliban-Kommandeure zusammen mit einer möglichst großen Anzahl ihrer Kämpfer zu vernichten. All dies wäre im Prinzip durch das HVR und auch durch das sehr offene Mandat des UN-Sicherheitsrates gedeckt, welches der ISAF erlaubt, "alle zur Erfüllung ihrer Aufgaben notwendigen Mittel" einzusetzen.

Unübersehbar offenbart sich in jenem nicht nur völkerrechtlich ungemein komplexen Geschehen erneut die Absurdität der Vorstellung, einen Krieg "sauber" führen oder darin gar "unschuldig" bleiben zu können. Darüber hinaus gibt das Desaster von Kunduz Anlass zum Zweifel, ob das "ius in bello" die Kriegführung wirklich maßgeblich beschränken oder gar unmöglich machen könnte - ganz im Gegenteil erweist sich: Krieg zermalmt und vernichtet stets das Recht.

Jürgen Rose ist Oberstleutnant a. D. und Vorstandsmitglied der kritischen SoldatInnenvereinigung Darmstädter Signal .

Quelle: der FREITAG vom 03.09.2010. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Jürgen Rose und des Verlags.

Veröffentlicht am

04. September 2010

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