Noam Chomsky: Quo Vadis?Rede auf dem ‘7th Istanbul Gathering for the Freedom of Thought’Von Noam Chomsky, 19.10.2010 - ZSpace Heute Morgen, in meiner kurzen Eröffnungsrede, habe ich eine entscheidende Tatsache hervorgehoben, nämlich dass Rechte normalerweise nicht gewährt sondern errungen werden - durch den leidenschaftlichen Kampf der informierten Basis. Das gilt auch für das Kernprinzip ‘Redefreiheit’. Ich denke, wir sollten diese Tatsache als Richtschnur nehmen. Wenn wir uns Gedanken darüber machen, wie wir weiter vorgehen sollten, kann uns diese Richtschnur an vielen Fronten von Nutzen sein: Wie sollen wir gegen die aktuellen weltweiten Wellen der Repression vorgehen? Wie können wir das schon Erreichte, das unter Beschuss steht, vorantreiben? Und, um auf die eher visionäre Ebene einzugehen, die von den Organisatoren dieser Konferenz vorgeschlagen wurde: Ich denke, wir sollten uns auch Gedanken über längerfristige Perspektiven machen - über die Zeit nach jenem fernen Tag, wenn angemessene Standards zum Schutze der Redefreiheit eingeführt sein werden und - nach ihrer Einführung - auch beachtet werden. Ich habe erwähnt, dass die USA und die Türkei sich in vielerlei Hinsicht unterscheiden. Dennoch sind beide Länder Beispiele, die auf klare und lehrreiche Weise zeigen, wie Rechte errungen und anschließend verteidigt werden. Was die USA angeht, so wird allgemein angenommen, dass das Recht auf Redefreiheit und die Pressefreiheit durch den Ersten Verfassungszusatz garantiert werden, der vor über zweihundert Jahren eingefügt wurde. Das ist aber nur sehr bedingt richtig. Ein Grund ist die (veraltete) Formulierung des Zusatzes, ein anderer - und der wesentlichere Grund - ist die Tatsache, dass das Recht etwas ist, was sich in der Gerichtspraxis entwickelt beziehungsweise das, was die Öffentlichkeit zu schützen bereit ist. Darauf werde ich morgen noch einmal eingehen. Lassen Sie mich an dieser Stelle nur darauf hinweisen, dass sich amerikanische Gerichte erst seit den 60er Jahren so vehement für die Redefreiheit einsetzen. Sie taten es, nachdem vonseiten der Bürgerrechtsbewegung und anderen Formen des Aktivismus Druck erzeugt wurde - auf breiter Front. Doch nachdem der Aktivismus heute rückläufig ist, erodieren auch diese Rechte wieder - wie wir heute schon gehört haben. Das ist ein weiteres Thema, auf das ich morgen zurückkommen möchte. Aus Fakten wie diesen ergibt sich eine Frage, hinsichtlich unserer längerfristigen Zielsetzungen, was die ‘Redefreiheit’ angeht. Die Frage, die ich meine, ist keineswegs neu. George Orwell ist einer, die sie gestellt hat. Er wurde berühmt, weil er Kritik an feindlichen, totalitären Regimen übte, doch war er nicht weniger scharfzüngig, wenn es um die Übel der eigenen (britischen) Gesellschaft ging. Ein hervorragendes Beispiel ist sein Essay über die "Zensur der Literatur in England", wie er es formuliert hat. Er verfasste den Text als Einleitung zu ‘Farm der Tiere’ (‘Animal Farm’)Anmerkung d. Übersetzerin: Hier ein Hinweis zum Schicksal der erwähnten ursprünglichen Einleitung zu ‘Animal Farm’ http://home.iprimus.com.au/korob/Orwell.html ., einer bissigen Satire über die Verbrechen des Stalinismus. In dieser Einleitung* gibt er der britischen Leserschaft den Rat, nicht allzu selbstgefällig auf die Entblößung der stalinistischen Verbrechen zu reagieren. Im freien England, so schreibt Orwell in seinem Essay, könne man Gedanken auch ohne Gewalt unterdrücken. Er nennt einige Beispiele und fügt in wenigen erläuternden Sätzen an, die allerdings wichtige Erkenntnisse enthalten: "Was die Zensur der Literatur in England betrifft, so ist es eine traurige Tatsache, dass es sich größtenteils um eine freiwillige (Selbstzensur) handelt", schreibt er. "Unpopuläre Ideen können unterdrückt und unbequeme Fakten ausgeblendet werden, ohne dass es irgendeines offiziellen Verbotes bedarf". Einer der Gründe hierfür war die Konzentration der Presse in den Händen "reicher Männer, die jede Menge Gründe haben, bei bestimmten, wichtigen Themen unehrlich zu sein", schreibt er. Ein weiterer - meiner Ansicht nach noch wichtigerer Grund - lag in der guten Erziehung, im Eingebundensein in die dominante intellektuelle Kultur, die zwischen uns, so Orwell, das "’allgemeine, stillschweigende Übereinkommen erzeugt, dass es ungehörig ist, eine bestimmte Tatsache anzusprechen". Dieses Essay, das als Einleitung zu ‘Farm der Tiere’ geschrieben wurde, ist kaum bekannt - im Gegensatz zum Buch selbst, das die Tyrannei der Sowjetunion erbittert verurteilt. Das Werk wurde berühmt und überall gelesen. Warum wurde die Einleitung nicht mit veröffentlicht? Vielleicht bestätigt dies ja Orwells These von der literarischen Zensur im freien England. Das Essay wurde viele Jahre später unter Orwells unveröffentlichten Schriften entdeckt. Der entscheidende Punkt ist, dass selbst in ferner Zukunft - wenn die Rechte etabliert sein werden und jene Rechte, die heute nur auf dem Papier stehen, umgesetzt sein werden -, weiter neue, wichtige Fragestellungen am Horizont auftauchen werden. An dieser Stelle wäre ein kurzer historischer Rückblick nützlich. Vor hundert Jahren wurde es in den etwas freieren Gesellschaften immer schwieriger, die Bevölkerung mit Gewalt zu kontrollieren. Gewerkschaften wurden gegründet - und parallel dazu Arbeiterparteien, die in die Parlamente einzogen. Immer mehr Menschen kamen in den Genuss des Wahlrechts. Volksbewegungen stellten sich der Behördenwillkür entgegen. Sicher taten sie es nicht zum ersten Mal - aber zum ersten Mal mit so viel Erfolg und auf so breiter Front. In England und in den USA, den damals freiesten Staaten, erkannten die dominanten Gruppen der Gesellschaft, dass es nötig wurde, sich von der Gewalt ab- und anderen Maßnahmen zuzuwenden, um die Kontrolle zu behalten: In erster Linie ging es um Gedankenkontrolle und um die Kontrolle der Haltungen (der Menschen). Prominente Intellektuelle forderten die Entwicklung einer wirkungsvollen Propaganda, die der gemeinen Masse die "nötigen Illusionen" und "starke, emotionale Vereinfachungen" überstülpen sollte. Es sei nötig, so drängten sie, Mittel und Wege zu finden, um "Konsens zu erzeugen" (manufacturing consent) - einen Konsens, der sicherstellen sollte, dass die Allgemeinbevölkerung - diese "dummen, streitlustigen Außenseiter" - weiterhin in die Rolle von "Zuschauern" gedrängt würden und nicht die Rolle "von aktiv Handelnden" bekamen. Die kleine, privilegierte Gruppe der "Männern in Verantwortung" sollte weiterhin - ungestört "vom Stampfen und Rasen der verblendeten Herde" - Politik gestalten können. Diese Zitate stammen von den beiden renommiertesten unter den progressiven ‘öffentlichen’ Intellektuellen des 20. Jahrhunderts in Amerika: Walter Lippmann und Reinhold Niebuhr - Liberale à la Wilson, Roosevelt und Kennedy. Niebuhr ist übrigens Barack Obamas Lieblingsphilosoph. Parallel dazu begann sich eine gewaltige PR-Industrie zu entwickeln - mit denselben Zielsetzungen. Die führenden Persönlichkeiten dieser Branche (ebenfalls dem liberalen Zipfel des (politischen) Spektrums angehörig) sagten, die PR-Industrie müsse die Allgemeinbevölkerung "auf die oberflächlichen Dinge des Lebens - wie etwa Mode bewussten Konsum -" hinlenken", damit die "intelligente Minderheit" freie Hand habe, um den angemessenen politischen Kurs festzulegen. Doch die Sorgen hörten nicht auf. So lehrte der demokratische Aufstand während der 60ger Jahre die elitären Meinungsmacher das Fürchten. Intellektuelle aus Europa, den USA und Japan forderten ein Ende der "demokratischen Exzesse". Die Bevölkerung sollte wieder in Apathie und Passivität zurückgeworfen werden. Vor allem die "für die Indoktrination der Jugend" verantwortlichen Institutionen - Schulen, Universitäten und Kirchen - sollten, durch härtere Maßnahmen, dafür Sorge tragen. Ich berufe mich hier auf Aussagen von Angehörigen des - internationalen - liberalen Zipfels des (politischen) Spektrums. Ihre Vertreter in den USA gehörten damals dem Stab der Regierung Carter an, ihre Pendants in anderen demokratischen Industriestaaten bekleideten dort entsprechende Positionen. Die Rechten forderten noch drastischere Maßnahmen. Bald wurde alles getan, um die demokratische Bedrohung zu reduzieren - mit einigem Erfolg. Nun, wir leben heute in dieser Ära. Überlegungen dieser Art sollten uns lehren, dass es für uns auch dann noch schwierige, herausfordernde Berggipfel zu erklimmen gilt, wenn die schwere Aufgabe bewältigt und das Recht auf freie Meinungsäußerung etabliert sein wird (und nachdem dessen formale Etablierung auch geschützt sein wird). Kehren wir noch einmal zum Thema ‘Türkei’ zurück. Die Aufgaben, die direkt vor uns liegen, sind weit schwieriger. Vor fünf Jahren wurde ich gebeten, auf einer Konferenz, die hier, an diesem Ort, stattfand, eine Rede zum Thema ‘freie Meinungsäußerung’ zu halten. Ich möchte Einiges von dem wiederholen, was ich damals gesagt habe. Ich glaube, es ist wichtig, dass es nicht in Vergessenheit gerät. Die Türkei hat durchaus ihren Teil zu den Menschenrechtsverletzungen auf dieser Welt beigetragen - zu extremen Menschenrechtsverletzungen, einschließlich großer Straftaten. Nach der Diskussion, die wir heute geführt haben, ist es nicht mehr nötig, darauf näher einzugehen. Gleichzeitig kann die Türkei auf eine bemerkenswerte Tradition zurückblicken, wenn es darum geht, sich gegen solche Verbrechen zur Wehr zu setzen. Ich denke in erster Linie an die Opfer, die sich weigerten, sich zu unterwerfen und stattdessen - mutig und leidenschaftlich - für ihre Rechte weiterkämpfen. Dieser Mut und diese Leidenschaft können für Menschen, die ein privilegiertes, sicheres Dasein führen, ein Beispiel sein, das uns inspiriert und uns mit Demut erfüllt. Doch es geht noch weiter - und hier ist die Türkei wirklich außergewöhnlich, wenn nicht sogar einmalig auf der Welt: Diese Kämpfe werden mitgetragen von prominenten Autoren, Künstlern, Journalisten, Herausgebern, Akademikern usw. Und diese protestieren nicht etwa nur gegen die Verbrechen des Staates. Sie gehen viel, viel weiter: Sie leisten konstanten Widerstand. Sie riskieren harte Strafen (und werden manchmal auch hart bestraft). Im Westen gibt es nichts Vergleichbares. Wenn ich Europa besuche und die selbstgerechte Anschuldigung höre, die Türkei sei noch nicht reif für eine Aufnahme in die aufgeklärte Europäische Union, dann habe ich manchmal das Gefühl, und manchmal spreche ich es auch aus, dass es genau umgekehrt ist - vor allem bei der Verteidigung der Redefreiheit. In dieser Hinsicht kann die Türkei wirklich stolz auf sich sein, und wir alle können aus ihrem Beispiel eine Menge lernen. Noam Chomsky ist Professor für Linguistik am Massachusetts Institute of Technologie (MIT) und hat in den 60er Jahren die Vorstellungen über Sprache und Denken revolutioniert. Zugleich ist er einer der prominentesten und schärfsten Kritiker der gegenwärtigen Weltordnung und des US-Imperialismus.
Quelle: ZNet Deutschland vom 20.10.2010. Originalartikel: Quo Vadis . Übersetzt von: Andrea Noll. FußnotenVeröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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