EXKLUSIV bei ‘Democracy Now’: WikiLeaks kündigt neue Enthüllungen anGrößte Enthüllung von Geheimdokumenten in US-GeschichteVon Daniel Ellsberg, 22.10.2010 - Democracy Now! Das Interview führen Amy Goodman und Juan Gonzalez Zu Gast ist heute "Whistleblower" Daniel Ellsberg, der 1971 die ‘Pentagon Papers’ (Pentagon-Papiere) veröffentlicht hat. Juan Gonzalez: Die "Whistleblower"-Organisation WikiLeaks plant für morgen (23. Oktober) die größte Veröffentlichung von nicht freigegebenen US-Dokumenten in der Geschichte unseres Landes. Es wird erwartet, dass WikiLeaks bis zu 400.000 Geheimakten über den Irak-Krieg veröffentlichen wird. WikiLeaks-Gründer Julian Assange wird dies am Samstagmorgen auf einer Pressekonferenz in London bekanntgeben. Es wird die größte Enthüllung in der Geschichte der Vereinigten Staaten - weit größer als die ‘Afghanistan-Kriegstagebücher’ (Afghan War Diary (AWD)), die aus 91.000 Dokumenten bestanden und die WikiLeaks im Sommer veröffentlicht hatte. Schon bereitet sich die US-Regierung hektisch auf die Folgen vor. Ein Team aus Hunderten von Analysten der ‘Defence Intelligence Agency’, kämmt Geheimdokumente über den Irak durch, von denen sie glauben, dass sie morgen durchsickern werden. Amy Goodman: WikiLeaks veröffentlichte im Juli 91.000 Dokumente - die ‘Afghanistan-Kriegstagebücher’ (Afghan War Diary) - und wurde dafür von der US-Regierung verdammt. Das Weiße Haus und das Pentagon werfen WikiLeaks vor, sich unverantwortlich verhalten zu haben. Sie würden Menschenleben gefährden, wurde behauptet. Doch Associated Press (AP) berichtete vor kurzem von einem Brief aus dem Pentagon, in dem steht, dass keine US-Geheimdienstquellen oder -Methoden durch die Enthüllungen preisgegeben wurden. Nichtsdestotrotz, so WikiLeaks, sei man jetzt im Fadenkreuz der US-Regierung. Kurz nach der Veröffentlichung der ‘Afghanistan-Kriegstagebücher’, forderten die USA andere westliche Staaten, wie Großbritannien, Deutschland oder Australien, auf, strafrechtlich gegen Julian Assange vorzugehen und seine internationale Reisefreiheit drastisch einzuschränken. Erst vor kurzem beschuldigte WikiLeaks Amerika der ‘finanziellen Kriegsführung’ gegen die Gruppe. Wie Julian Assange vergangene Woche mitteilte, hätte eine Firma, die Spenden (die für WikiLeaks eingehen) sammelt, das Konto gekündigt - nachdem Australien und die USA WikiLeaks auf mehrere ‘Schwarze Listen’ gesetzt hätten. Bradley Manning, ein Geheimdienstspezialist der US-Army, sitzt seit Mai im Gefängnis. Ihm wird vorgeworfen, ein Video weitergegeben zu haben, auf dem zu sehen ist, wie ein Helikopter des US-Militärs in Bagdad eine Gruppe unschuldiger Iraker tötet. Um mehr zu erfahren, ist heute der vielleicht wichtigste "Whistleblower" Amerikas bei uns - in unserem New Yorker Studio: Daniel Ellsberg. Er enthüllte 1971 die geheime Geschichte des Vietnamkrieges. Heute Abend wird er nach London weiterfliegen, um an der Pressekonferenz von WikiLeaks am Samstag teilzunehmen. Dan Ellsberg, willkommen bei ‘Democracy Now!’. Können Sie uns etwas über die 400.000 Seiten sagen, die jetzt veröffentlicht werden sollen? Daniel Ellsberg: Angeblich sind es 400.000 Dokumente. Natürlich ist das eine Enthüllung in einer Größenordnung, die mir vor 40 Jahren - ohne Scanner und ohne all diese digitalen Möglichkeiten - nie möglich gewesen wäre. Ich benutzte damals die modernste Technik: Xerox(-Kopierer). 10 Jahre früher wäre mir das, was ich getan habe, (technisch) noch nicht möglich gewesen. Amy Goodman: Sie haben damals 7.000 Seiten kopiert? Daniel Ellsberg: Ja. Es hat lange gedauert - immer eine Seite nach der andern. Ich bin ziemlich neidisch auf die modernen Möglichkeiten. Doch ich freue mich, WikiLeaks Solidarität erweisen zu können, für das, was sie - und vor allem, ihre Quellen - getan haben. Wer immer WikiLeaks die Informationen zugespielt hat, wusste, dass es ihm oder ihr genauso ergehen könnte wie Bradley Manning - dass man gegen ihn oder sie Anklage erheben und ihn oder sie einsperren könnte. Wir wissen nicht, das heißt, ICH weiß nicht, wer die Quelle ist. Und falls die Army - ohne begründeten Zweifel - beweisen kann, dass Bradley Manning die Quelle war, hat er meine Bewunderung, und ich danke ihm für seine Leistung. Vor 40 Jahren bin ich selbst dieses Risiko eingegangen und habe es bis heute nie bereut. Ich finde, es ist das Risiko wert, womöglich den Rest deines Lebens im Gefängnis zu sitzen - wenn man dadurch dazu beitragen kann, einen Krieg, wie den Afghanistan- oder Irak-Krieg, abzukürzen. Damals litten wir unter Vietnam. Und es war wirklich eine geheime Angelegenheit - es ist diese Geheimniskrämerei, diese falsche Geheimniskrämerei, durch die Informationen zurückgehalten werden, Informationen wie jene, die uns in (Kriege wie) Vietnam, Afghanistan oder Irak verstrickt haben und die den Krieg in Afghanistan am Laufen hält. Wenn irgendeine Chance besteht, ihn abzukürzen, so ist die Sache es sicher wert, dass ein Mensch dafür mit (s)einem Leben (im Gefängnis) bezahlt. Juan Gonzalez: Überrascht Sie die Art, wie das Militär damit umgeht oder das hohe Maß an Schadensbegrenzung, das sie jetzt offensichtlich betreiben - in Vorbereitung auf die Veröffentlichung der (neuen) Dokumente? Daniel Ellsberg: Nun, die werden wissen - die denken, dass sie wissen -, was durchsickern wird. Sie sind äußerst alarmiert - wie das immer so ist, wenn ein Leck auftaucht. Auch bei den ‘Pentagon Papers’ war das natürlich so. Damals behaupteten sie, der Schaden für die nationale Sicherheit sei so groß, dass sie die Druckpressen anhalten müssten. Zum ersten Mal in unserer Geschichte entschied der Oberste Gerichtshof jedoch anders - nachdem er die Zeugenaussagen zu dem Fall gehört hatte. Inzwischen hatten 17 - letztlich sogar 19 - Zeitungen sich umentschieden und die ‘Pentagon Papers’ abgedruckt. Sie druckten die Dokumente. Das war ziviler Ungehorsam. Sie hielten sich nicht an die Warnungen des Generalstaatsanwaltes. Damals kam niemand zu Schaden - soweit bekannt. Es entstand kein Schaden irgendwelcher Art. Was die Veröffentlichungen (von WikiLeaks) im Juli diesen Jahres angeht, so haben die Medien ziemlich unkritisch Warnungen herausgegeben. Ich wüsste nicht, dass irgendjemandem etwas zugestoßen wäre (infolge der Veröffentlichungen). Daher denke ich, wir sollten ihre Warnungen auch jetzt nicht so furchtbar ernst nehmen. Amy Goodman: Nun, auf der Pressekonferenz des Weißen Hauses im August verurteilte Verteidigungsminister Robert Gates die durchgesickerten ‘Afghanistan-Kriegstagebücher’: (Eingeblendet) US-Verteidigungsminister Robert Gates: Die Konsequenzen der Veröffentlichungen dieser Dokumente für das Schlachtfeld - was unsere Truppen, unsere Verbündeten und unsere afghanischen Partner angeht -, sind möglicherweise ernst und gefährlich und werden unseren Beziehungen und unserem Ruf in diesem zentralen Teil der Welt Schaden zufügen. Unsere Gegner werden etwas über die Quellen und Methoden der Geheimdienste erfahren sowie über die Taktik des Militärs, dessen technische Vorgehensweise und dessen Prozedere. Dieses Ministerium wird eine gründliche und aggressive Untersuchung durchführen - um herauszufinden, wie es zu diesem Leck kommen konnte und um die Person, oder die Personen, zu identifizieren, die dafür verantwortlich sind, und (wir werden) feststellen, welche Informationen preisgegeben wurden. (Ende) Amy Goodman: Auf derselben Pressekonferenz sagte damals Admiral Mullen, der Vorsitzende des ‘Joint Chiefs of Staff’ (JCS): Mr. Assange kann sagen, was er will - über die höheren Werte, um die es ihm und seiner Quelle, seiner Meinung nach, geht. Doch die Wahrheit ist: Vielleicht klebt schon das Blut einiger junger Soldaten oder einer afghanischen Familie an ihren Händen. Sie können gegen diesen Krieg sein, soviel sie wollen; legen Sie sich doch mit der politischen Seite an, kritisieren Sie meine Entscheidungen oder die Entscheidungen unserer Kommandeure vor Ort, die getroffen wurden, um die Mission, die uns anvertraut wurde, zu einem erfolgreichen Ende zu führen, aber gefährden Sie doch nicht Jene (Soldaten) zusätzlich, die sich freiwillig in Gefahr begeben haben - nur damit Sie selbstzufrieden auftrumpfen können. (Ende) Amy Goodman: Allerdings erhielt Associated Press (AP) einen Brief aus dem Pentagon, in dem es heißt, dass durch die Veröffentlichung von WikiLeaks keine US-Geheimdienstquellen oder -Methoden preisgegeben wurden. Dan Ellsberg - was sagen Sie dazu? Daniel Ellsberg: Wissen Sie, trotz allem, was uns Admiral Mullen, oder selbst Präsident Bush oder Präsident Barack Obama, über das Gute, das sie angeblich erreichen wollten oder wollen, sagen, gibt es, meiner Ansicht nach keine Belege, dass sie solche Absichten haben. Und was das ‘Blut an den Händen’ angeht, so muss ich leider sagen, dass tatsächlich viel Blut vergossen wurde, allerdings meine ich damit nicht das hypothetische Blut, das angeblich auf das Konto von WikiLeaks geht. Es gibt keine Berichte über etwas in der Art. Im Grunde wird verlangt, dass die Presse sich aus der Geschichte raushält - oder sogar, dass die Leser/innen diese Sachen nicht lesen. Sie reden davon, dass das Material zurückgegeben werden soll - was auf den ersten Blick absurd erscheint. Es ist doch reichlich absurd, wenn einer will, dass bereits veröffentlichtes Material zurückgegeben wird - Material, das schon im Cyberspace kursiert. Offensichtlich drohen sie mit Strafverfolgung, denn sie haben dieselben Worte benutzt, die damals - bei den ersten Anschuldigungen gegen mich - fielen. Es ging damals um das Spionage-Gesetz (Espionage Act) - ein Gesetz, das ursprünglich nichts mit dem ‘Official Secrets Act’ zu tun hat. Doch es wurden Worte verwendet, wie "Rückgabe der Information", "d) und (e)". Ich war die erste Person, gegen die eine solche Anklage erhoben wurde, der Erste, der diese Erfahrung gemacht hat. Im aktuellen Fall hat die Anklagevertretung bessere Trümpfe in der Hand, weil Präsident Obama bereits mehrere Anklagen wegen durchgesickerter Informationen vor die amerikanische Öffentlichkeit gebracht hat - mehr als jeder andere US-Präsidenten vor ihm. Allerdings sind es im Ganzen nur drei Fälle. Weil es kein Gesetz gibt, das sich tatsächlich auf solche Sache anwenden ließe, haben es andere Präsidenten bei je einem Fall von (Strafverfolgung) belassen. Obama aber versucht es nun schon zum dritten Mal. Seine Drohung gegenüber der Presse - gegenüber Ihnen und selbst Ihrer Leserschaft (weil sie ungenehmigte Informationen nicht zurückgeschickt haben), beinhaltet, meiner Meinung nach, eine klare Warnung: Wir werden strafrechtlich gegen euch vorgehen. Was die Anklagevertretung betrifft, so denke ich, dass die Regierung sehr aggressiv vorgehen wird und versucht, den ‘Espionage Act’ (Spionage-Gesetz) als ‘eine Art Official Secrets Act’ (über den Umgang mit offiziellen Geheimnissen) anzuwenden. Das könnte bedeuten, dass wir künftig noch weniger über diese Lügen erfahren werden - über Lügen, die dazu beitragen, Kriege zu verlängern, Lügen, die uns in falsche Kriege verwickeln. Juan Gonzalez: Was ist das für eine Politik, wenn man bedenkt, dass Präsident Obama in sein Amt gewählt wurde, weil er gesagt hat, er wolle eine transparentere und offenere Regierung? Jetzt scheint er in die entgegengesetzte Richtung zu steuern. Daniel Ellsberg: Nun, dieses Versprechen ist genauso hinfällig wie sein Versprechen, Guantánamo zu schließen und anderes mehr. Wenn es ganz allgemein um die Verteidigung geht oder um die ‘Homeland Security’, ist er keineswegs transparenter oder weniger schwammig, als Bush es war. Und - wie gesagt - er ist aggressiver, wenn es um Strafverfolgung geht. Ein weiterer Aspekt ist in meinen Augen, dass Obama den Anschein erweckt, als werde er den Irak-Krieg beenden bzw. der Krieg sei schon beendet. Meiner Meinung nach handelt es sich hier um eine bewusste Lüge. Die 400.000 Dokumente beschreiben den Krieg sehr eindrücklich. Ich denke, es ist fast die gleiche Lüge, die Präsident Lyndon B. Johnsons (als ich für ihn arbeitete) gebrauchte, um das Ausmaß und die (voraussichtliche) Dauer des Krieges, in den wir gerade hineinschlitterten, vor der Öffentlichkeit herunterzuspielen. Ohne die neuen Dokumente zu kennen, sage ich schon jetzt - und ich wette, ich riskiere diese Wette -, dass sich in den insgesamt 400.000 Dokumenten, die bis ins Jahr 2010 reichen, nichts finden wird, in dem steht, dass Präsident Obama plant, unsere Stützpunkte im Irak im kommenden Jahr oder im Jahr danach oder irgendwann während seiner Amtszeit abzuziehen. Ich wette, es existiert nicht einmal ein Plan, die Stützpunkte an die Irakis zu übergeben. Das bedeutet: Anstatt so zu handeln, wie er es versprochen hat - das heißt, alle amerikanischen Truppen bis Ende 2011 aus dem Irak abzuziehen -, werden am Ende von Obamas Amtszeit (2013 oder 4 Jahre später) immer noch Zehntausende US-Soldaten dort (im Irak) stehen. Amy Goodman: Wir sollten hinzufügen, dass Sie damals ein hochrangiges - ein hochrangiger Offizieller des Pentagon waren. Sie waren für die RAND Corporation tätig. Daniel Ellsberg: Richtig. Ich verbrachte Jahre damit… Ich arbeitete für das Pentagon und das US-Außenministerium. Ich verbrachte Jahre damit, den Mund zu halten - während Präsidenten uns belogen und Geheimnisse zurück hielten. Das war falsch von mir. Aus diesem Grund bewundere ich Personen (auch einen wie Bradley Manning, der beschuldigt wird, falls er tatsächlich die Quelle sein sollte) beziehungsweise die Personen, die es sonst getan haben, denn diese Personen haben ihre persönliche Freiheit riskiert, um die Wahrheit zu sagen. Ich denke, diese Leute sind bessere Staatsbürger; sie verhalten sich patriotischer, als die, die das Maul halten. Amy Goodman: Dan Ellsberg - können wir noch einmal auf den Wortlaut von §793 (‘Espionage Act), auf das Anti-Whistleblower-Gesetz zurückkommen. Daniel Ellsberg: Ja. Amy Goodman: … in welcher Weise könnten auch Journalisten davon betroffen sein? Daniel Ellsberg: Es kann im Grunde auch auf… angewendet werden… der Wortlaut ist so allgemein gehalten, weil es in dem Gesetz eigentlich um Spionage geht, um Leute, die dem Feind heimlich Geheiminformationen zukommen lassen. Das Gesetz wurde nicht gemacht, um die Redefreiheit oder den Ersten Verfassungszusatz zu schützen (für den Fall, dass Informationen an die Öffentlichkeit gelangen). In dem Gesetz geht es vielmehr darum, dass Informationen unrechtmäßig erhalten und behalten wurden - Informationen, die von den Behörden nicht freigegeben wurden, und es geht um die Weitergabe von Informationen an Personen ohne Berechtigung. Also klagt man Leute an, die diese Informationen bekommen haben. Ein häufig zitierter Fall ist der AIPAC-Fall - der Fall der (amerikanischen) Israel-Lobby. Man hat diesen Leuten vorgeworfen, sie hätten nicht freigegebene Informationen erhalten. Sie wurden, gemäß des oben genannten Gesetzes, angeklagt. Der Fall wurde unter Bush untersucht und unter Obama fallengelassen. Aber das war nicht der erste Fall dieser Art. Anthony Russo, der damals (Anfang der 70er Jahre) mein Mitangeklagter war, befand sich in derselben Situation. Er hatte das Material lediglich erhalten - und behalten. Zu diesem Zeitpunkt war er dazu nicht berechtigt. Er schickte es aber nicht zurück. Zumindest für eine gewisse Zeit war er im Besitz von Papieren, die er hätte zurückschicken können - ebenso wie die ‘New York Times’. Doch der Wortlaut des Gesetzes könnte auch auf die Leserschaft der ‘New York Times’ angewendet werden. Ich denke, dass die ‘New York Times’ (die ‘Iraq War Logs’ von WikiLeaks) abdrucken wird. Die ‘New York Times’ ist nicht autorisiert, diese Geheiminformationen anzunehmen - selbst wenn diese für sie und die Bürger/innen wichtig sind. Die Informationen wurden ihnen aber in ungerechtfertigter Weise vorenthalten - dennoch sollen sie nicht berechtigt sein, sie zu behalten. Wenn sie das Zeug nicht zurückschicken, machen sie sich im Grunde strafbar - aber das wird nicht passieren. Was Journalisten betrifft, so ist es tatsächlich so, dass sie gewarnt wurden, sie könnten von dem Gesetz betroffen sein. Juan Gonzalez: Was hat es damit auf sich, dass die Regierung jetzt einen Popanz aufbaut, sie würde versuchen, Julian Assange anzuklagen - er hält sich doch gar nicht in den Vereinigten Staaten auf, er agiert doch an einem anderen Ort? Er veröffentlicht die Dokumente in einem anderen Land und… Daniel Ellsberg: Nun, sie versuchen, andere Länder dazu zu bringen, ihn - gemäß deren Recht - anzuklagen. Manche Länder haben natürlich strengere Gesetze als wir. Selbst Großbritannien - wohin ich morgen reisen werde -, hat ein Gesetz über Geheiminformationen (Official Secrets Act). Wir haben kein solches Gesetz. Wir hatten eine Revolution und einen Unabhängigkeitskrieg, und wir haben einen Verfassungszusatz, der uns Meinungsfreiheit garantiert (First Amendment). Die Briten hatten das nicht. Doch falls die Strafverfolgung (in den USA) weitergeht, falls sie erfolgreich ist und nicht fallengelassen wird und falls sich der Oberste Gerichtshof auf ihre Seite stellt…. vor 40 Jahren wäre das wohl nicht passiert - dann hätten wir im Grunde einen Fall im Sinne eines Gesetzes über Offizielle Geheimnisse und die Auswirkungen wären… In diesem Fall wird es für diese Typen nicht mehr unbedingt nötig sein, nach der Person zu suchen, die die Informationen durchsickern ließ, also nach der Person, die es getan hat. Sie können sich dann einfach jemanden greifen, dessen Namen in einem Nebensatz in der Story erwähnt wird, sagen wir, einen Journalisten. Sie können ihn fragen: "Wer hat die Straftat begangen? Wir sind nicht hinter Ihnen her. Wir wollen nur den, der gegen dieses Gesetz verstoßen hat". Wenn der Journalist oder die Journalistin den Namen nicht preisgibt, schicken sie ihn oder sie ins Gefängnis - so wie Judith Miller, die für 90 Tage eingesperrt wurde. Danach war sie im Grunde kooperativ. Einige werden lieber ins Gefängnis gehen, viele werden es nicht tun. Ich denke, von diesem Zeitpunkt an, werden sich die Quellen auf niemanden mehr verlassen können außer auf WikiLeaks - WikiLeaks wird ihre Anonymität schützen, damit es auch in Zukunft die Informationen herausgeben kann, die wir brauchen. Daher bin ich der Ansicht, dass WikiLeaks heute noch wichtiger ist als früher. Ich denke auch, dass Bob Woodward (einer der ‘Watergate’-Enthüller), der uns in seinem neuen Buch (‘Obama’s Wars’) wirklich eine Menge Informationen vermittelt, die auf geheimen Dokumenten basieren, die ihn die Regierung sehen ließ… ich denke, er sollte diese Dokumente WikiLeaks anonym zur Verfügung stellen. Ich möchte ihn wirklich dazu drängen. Bringt sie raus! Wir alle sollten sie lesen können, um uns unsere eigene Meinung zu bilden. Das wäre das Pendant zu den ‘Pentagon Papers’, in Bezug auf Afghanistan, denn die Dokumente, die wir bisher haben, sind es (noch) nicht. Wir müssen weiter darauf warten, dass einer etwas Derartiges veröffentlicht: Dokumente über die übergeordnete Ebene. Ich hoffe, dass Leute aus dem Weißen Haus oder dem Pentagon oder aus der CIA oder dem Außenministerium, die Zugang zu solchem Material haben, sich die Tatsache zunutze machen, dass es WikiLeaks gibt und die Informationen rausrücken, die wir brauchen, um die Kriege zu beenden. Amy Goodman: Bei der letzten Dokumenten-Veröffentlichung ging es um 91.000 Dokumente, doch… Daniel Ellsberg: … von denen jedes fünfte (15.000) - aus Gründen der Schadensbegrenzung - zurückgehalten wurde. Diese Dokumente wurden von WikiLeaks noch nicht herausgegeben. Sie werden derzeit noch überarbeitet. Amy Goodman: Gerade wollte ich auf diesen Punkt zu sprechen kommen: rund 75.000 Dokumente sind bereits veröffentlicht… Daniel Ellsberg: Yeah. Amy Goodman: Weitere Dokumente werden von WikiLeaks zurückgehalten, weil man besorgt ist… Daniel Ellsberg: Ja. Hinzu kommt, dass sie dem Pentagon sagen, was sie veröffentlichen. Sie ließen ihnen (dem Pentagon) die Akten in kodierter Form zukommen und baten sie doch tatsächlich, Leute zu identifizieren, um diese gegebenenfalls unkenntlich zu machen. Nun, das Pentagon hat abgelehnt. Das heißt, sie zogen es vor, strafrechtlich und mit der Presse vorzugehen und gefährdeten…anstatt diese Personen zu schützen. Sie zeigten ihre übliche "Besorgnis", wenn es um andere Menschen geht. Amy Goodman: Wird man auch mit den 400.0000 Dokumenten so verfahren? Daniel Ellsberg: Ja. Daher kämmen sie ja gerade alle Akten durch. Sie wissen, was kommen wird. Und falls Menschen in Gefahr geraten könnten, hätten sie jede Möglichkeit… aber das steht bis jetzt nicht fest. Die Tatsache, dass bis heute nichts passiert ist, weckt große Zweifel an früheren Behauptungen (die von den meisten in der Mainstream-Presse, wie schon gesagt, sehr unkritisch erhoben wurden), dass eine Gefährdung entstanden sei. Aber falls doch, steckt die Gefährdung vielleicht ja in den 15.000 Seiten, die WikiLeaks derzeit noch sehr sorgfältig überarbeitet. Amy Goodman: Sie sagen also, dass WikiLeaks das Pentagon genau darüber informiert hat, was es veröffentlichen wird? Daniel Ellsberg: So habe ich es verstanden, ja. Ich bin aber nicht in den Prozess involviert. Aber, so wie ich es verstanden habe, haben sie (WikiLeaks) gesagt, sie hätten ihnen mitgeteilt, worum es geht und ihnen angeboten, mit ihnen zu kooperieren, wenn es um den Schutz bestimmter Namen gehe. Aber, wie gesagt, falls es diese Namen gibt, so hat das Pentagon die andere Alternative vorgezogen und lieber Anzeige gemacht. Amy Goodman: Werden sie (WikiLeaks) die Dokumente in einigen Zeitungen veröffentlichen - so, wie beim letzten Mal - in DER SPIEGELDER SPIEGEL hat die Irak-Dokumente von WikiLeaks als Titelgeschichte in seiner Ausgabe vom 25. Oktober 2010 gebracht - Anmerkung d. Übersetzerin, in der New York Times und in The Guardian? Daniel Ellsberg: Ja, ja. Ich muss sagen, Hut ab vor der New York Times, dem ‘Spiegel’ und dem ‘Guardian’. Sie haben - wie damals, vor 40 Jahren, die New York Times -, den Forderungen und Bitten widerstanden, auf einen Abdruck zu verzichten und die Sachen zurückzuschicken. Das hätte aber geheißen, ihrer Funktion, die Öffentlichkeit zu schützen, nicht gerecht zu werden. Amy Goodman: Sie werden es also wieder tun - bei diesen neuen 400.000 Dokumenten? Daniel Ellsberg: Sie werden es wieder tun - Hut ab vor ihnen, wirklich. Ich weiß es sehr zu schätzen. Seit 40 Jahren warte ich auf eine Veröffentlichung in dieser Größenordnung. Ich finde, es sollte jedes Jahr eine Veröffentlichung in der Größenordnung der ‘Pentagon Papers’ geben. Wie oft brauchen wir sowas? Wir wissen es nicht, weil es das noch nie gab. Folglich bin ich sehr froh, dass jemand das Risiko auf sich genommen und die Initiative ergriffen hat, damit wir besser informiert werden. Juan Gonzalez: Nun, ich denke, das ist ein wesentlicher Punkt. Als Journalist habe ich mich häufig zurückgehalten und den Namen der Person, um die es in meinem Artikel ging, nicht genannt. Ich werde sehr umfassend meine Meinung zu diesem Thema mitteilen. Ich habe den Eindruck, dass WikiLeaks sich enorme Mühe gegeben hat, damit das Pentagon reagieren konnte. Sie haben dem Pentagon signalisiert: Schaut her, wenn es irgendetwas Spezielles gibt, das jemanden - oder eine Operation - gefährden könnte, lasst es uns wissen. Daniel Ellsberg: Ich habe nicht den Eindruck, dass sie der Regierung ein Veto-Recht eingeräumt haben - bei irgendeinem Thema, über das sie kritisch berichten wollten. Aber sie haben gesagt: "Lasst es uns wissen, und wir werden einen verantwortungsvollen Blick auf die Sache werfen". Außerdem redigieren sie Namen - ja. Amy Goodman: Nun, danke, dass Sie bei uns waren, Dan Ellsberg. Ich denke, Sie haben allen Grund, der New York Times auch noch aus einem anderen Grund ein Kompliment zu machen: Nach so vielen Jahrzehnten spricht die New York Times jetzt zum ersten Mal nicht mehr von "dem Mann, der behauptet, uns die ‘Pentagon Papers’ gegeben zu haben" sondern nennt Sie beim Namen, sie geben es jetzt offen zu. Daniel Ellsberg: Ja - endlich haben sie zugegeben, dass ich die Quelle war. Sie sind sehr zögerlich, wenn es um die Veröffentlichung von Quellen geht. Aber da ich Derjenige war, dem ein Strafverfahren angehängt wurde, meine ich, dass ich in dieser Hinsicht eine besondere Beziehung zu dieser Zeitung habe. Amy Goodman: Daniel Ellsberg war damals ein hochrangiger Offizieller des Pentagon - und gleichzeitig der berühmteste Whistleblower Amerikas. Er war es, der die ‘Pentagon Papers’ veröffentlichte, unf er ist heute bei ‘Democracy Now!’ (www.democracynow.org). Dan Ellsberg wird sich nun auf schnellstem Wege nach London begeben, um bei der Pressekonferenz von WikiLeaks dabei zu sein, auf der die Veröffentlichung von - ich denke - 400.000 Dokumenten über die Kriege im Irak und in Afghanistan angekündigt werden wird. Daniel Ellsberg: Irak - im Grunde geht es um den Irak. Amy Goodman: Irak, vor allem um den Irak-Krieg geht es in diesen Dokumenten. Daniel Ellsberg ist ein US-amerikanischer Ökonom und ehemaliger Whistleblower des Pentagons. Durch die Veröffentlichung der von ihm an die Öffentlichkeit gebrachten Pentagon-Papiere deckte er einen Skandal im Umfeld des Vietnamkrieges auf.
Quelle: ZNet Deutschland vom 25.10.2010. Originalartikel: EXCLUSIVE: WikiLeaks Prepares Largest Intel Leak in US History with Release of 400,000 Iraq War Docs . Übersetzt von: Andrea Noll. FußnotenVeröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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