Andreas Zumach: “Armut, Rüstungsexporte, Killerspiele, Afghanistankrieg - warum die Ãœberwindung der Gewalt so schwer fällt”Beim Festakt der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) zum Reformationsfest am 31.10.2010 in der Lutherkirche in Wiesbaden hielt der Genfer Journalist Andreas Zumach den Festvortrag. Vor dem Hintergrund der Amokläufe junger Menschen kritisierte Zumach die gesetzlichen Rahmenbedingungen für den Besitz von Schusswaffen und Killerspielen auf Computern. Den Afghanistan-Einsatz als Krieg gegen den Terror bezeichnete er als gescheitert. Zudem kritisierte er den ständig wachsenden Rüstungsexport, den Deutschland betreibe.
Von Andreas Zumach
Liebe Festgemeinde, heute in zwei Monaten geht mit diesem ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends auch die 2001 eröffnete "Ökumenische Dekade zur Überwindung von Gewalt, Kirchen für Frieden und Versöhnung"Siehe Ökumenische Dekade zur Überwindung von Gewalt, Kirchen für Frieden und Versöhnung . zu Ende. Der Aufruf zu dieser Dekade erfolgte 1998 auf der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) in Harare, der Hauptstadt Zimbabwes. Initiiert wurde der Aufruf von den deutschen Mennoniten mit Unterstützung der beiden anderen historischen Friedenskirchen, den Quäkern und der Church of the Brethren. Dieser Aufruf für eine Dekade zur Überwindung von Gewalt fiel nicht vom Himmel. Er schloss bewusst an frühere Prozesse und Programme des ÖRK an, deren Inhalte immer darauf abzielten, dem Auftrag aller Christinnen und Christen gerecht zu werden, glaubwürdig Kirche zu leben in ökumenischer Weltgemeinschaft. Ein Schwerpunkt der Vollversammlung in Harare war der afrikanische Kontinent. Gerade aus den Kirchen im südlichen Afrika - der Weltregion, in der die meisten der 50 ärmsten Länder liegen - sind in den vergangen Jahrzehnten wichtige Impulse ausgegangen, die die ökumenische Bewegung herausgefordert haben. Ich erinnere an die Auseinandersetzungen um das in den 60er Jahren begonnene Antirassismusprogramm des ÖRK. Ganz besonders intensiv wurde diese Auseinandersetzung innerhalb der evangelischen Christenheit in Deutschland geführt. Es ging um Gewalt! Und um die Überwindung von Gewalt, der im Rassismus seine Antriebskraft hatte. Konnten die Kirchen ausschließen, dass durch das Antirassismusprogramm mit ihrer finanziellen Hilfe Befreiungskämpfer im Südlichen Afrika unterstützt wurden, die ihrerseits die Anwendung von Gewalt als Ultima Ratio ansahen? Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) schätzte diese Gefahr noch bis Anfang der 90er Jahre so hoch ein, dass er finanzielle Beiträge aus Kirchensteuermitteln für das Antirassimusprogramm des ÖRK verweigerte und Kollektensammlungen verbot. Doch viele Christen und Gemeinden widersetzten sich dieser Weisung der obersten Kirchenleitung. Und hier in der EKHN, in Frankfurt wurde 1976 die vor allem von Frauen getragene Kampagne "Kauft keine Früchte der Apartheid" geboren. Mit dem gewaltfreien Mittel des Boykotts, das schon Mahatma Gandhi und Martin Luther King erfolgreich eingesetzt hatten, trug diese Kampagne evangelischer Frauen mit bei zur Überwindung der rassistischen Gewalt und des menschenverachtenden Apartheidsystems in Südafrika. In Harare 1998 bedankte sich Nelson Mandela ausdrücklich für diese Unterstützung. Die ÖRK-Vollversammlung im kanadischen Vancouver 1983 initiierte den "Konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung". Damit wurden die drei entscheidenden Dimensionen menschenwürdigen Überlebens so zueinander in Beziehung gesetzt, dass sie seitdem nicht mehr getrennt voneinander bedacht werden können: Gerechtigkeit - Frieden - Schöpfung. Die ökumenische Weltkonvokation im südkoreanischen Seoul 1990 sprach sich in 10 Verpflichtungen unter anderem
In der Abschlusserklärung der ökumenischen Weltversammlung in Seoul hieß es: Jesus sagte: "Selig sind, die Frieden schaffen" und "Liebt eure Feinde". Die Kirche ist als die Gemeinschaft des gekreuzigten und auferstandenen Christus dazu aufgerufen, in der Welt für die Versöhnung einzutreten. Wir müssen lernen, was es heißt, Frieden zu schaffen: die eigene Verwundbarkeit bewusst zu bejahen. (…) Es gibt keinen Frieden ohne Gerechtigkeit. Frieden kann nicht durch eine Doktrin der nationalen Sicherheit erlangt oder erhalten werden, weil Frieden unteilbar ist. (…) Wir werden jedem Verständnis und System von Sicherheit widerstehen, das den Einsatz von Massenvernichtungsmitteln vorsieht oder durch die Drohung mit solchem Einsatz abschrecken will. Wir lehnen militärische Invasionen, Interventionen und Besetzungen ab. Wir werden einem Konzept der nationalen Sicherheit widerstehen, welches das Ziel hat, die Bevölkerung zu beherrschen oder zu unterdrücken, um die Privilegien einiger Weniger zu schützen. Wir verpflichten uns, unsere persönlichen Beziehungen gewaltfrei zu gestalten. Wir werden darauf hinarbeiten, auf den Krieg als legales Mittel zur Lösung von Konflikten zu verzichten. Wir verlangen von den Regierungen, dass sie eine internationale Rechtsordnung schaffen, die der Verwirklichung des Friedens dient." Und schließlich sei an die prophetische Erklärung der Gründungsversammlung des Ökumenischen Rates 1948 in Amsterdam erinnert: "Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein!" Der Aufruf für die Dekade zur Überwindung der Gewalt hat also eine gut 50 Jahre lange Vorgeschichte. In dem Aufruf schlug der ÖRK seinen 343 Mitgliedskirchen und ihren Gemeinden vor, sich mit folgenden vier Themen zu befassen:
Als Methoden zur Befassung mit dienen Themen empfahl der ÖRK:
Folgen der Ökumenischen Dekade zur Überwindung von GewaltWas hat der Aufruf nun in den 343 Mitgliedskirchen bewirkt? Welche Aktivitäten hat er ausgelöst? Eine Antwort auf diese Frage ist kaum möglich. Denn bislang gibt es keine umfassende Auswertung der Dekade - weder für den gesamten Bereich des ÖRK noch für die EKD oder für ihre Landeskirchen. Es liegen nur sporadische Eindrücke und einige lokale und regionale Bilanzen vor. Sicher ist, dass im Rahmen der Dekade an der kirchlichen Basis und in den Gemeinden weltweit hunderte von Projekte und Initiativen stattgefunden haben, von denen viele auch über das Ende der Dekade hinaus fortgeführt werden. Der ehemalige Generalsekretär des Ökumenischen Rates, Konrad Raiser, bewertete die Dekade als einen "wichtigen Streckenabschnitt auf dem Weg zum gerechten Frieden". Mit Blick auf Europa zog Raiser allerdings eine eher kritische Bilanz. Auf einer gemeinsamen Tagung der Rheinischen, der Westfälischen und der Lippischen Landeskirche Mitte September in der Evangelischen Akademie Schwerte zur Auswertung der Dekade beklagte Raiser, das Thema "Überwindung der Gewalt" sei in vielen europäischen Kirchen nicht angekommen. "Bis auf einige symbolische Aktionen gibt es nichts, auf das wir ein bisschen stolz sein können", erklärte Raiser. Die Diskussion darüber, wie Geist, Logik und Praxis der Politik zu überwinden seien, sei außerhalb des deutschsprachigen Raumes der Kirchen kaum geführt worden. Lediglich in den Niederlanden und in Skandinavien habe eine intensive Beschäftigung mit dem Thema stattgefunden. Im Bereich der EKHN schuf die Synode zur Eröffnung der Dekade einen Fonds von 140.000 Euro. Daraus wurden insgesamt 111 innovative Projekte zur Überwindung von Gewalt gefördert. Besonders gelungene Projekte wurden in dem Infobrief "Gewalt überwinden" vorgestellt, den die EKHN gemeinsam mit den benachbarten Landeskirchen in Baden, Bayern, der Pfalz und Württemberg während der Dekade zweimal jährlich veröffentlicht hat. Zu den Trägern innovativer Projekte, die Fördermittel aus dem Fonds erhielten, gehört auch der Verein Connection e.V. in Offenbach. Connection bietet seit 1993 Beratung für Kriegsdienstverweigerer an und setzt sich insbesondere dafür ein, dass verfolgte Kriegsdienstverweigerer aus anderen Ländern bei uns endlich Asyl erhalten. Es ist sehr erfreulich, dass Connection einer der drei Projektträger aus dem Bereich der EKHN ist, die auf Einladung des ÖRK bei der Internationalen Ökumenischen Friedenskonvokation im Mai nächsten Jahres in Kingston, Jamaika ihre Arbeit in einem Workshop vorstellen können. Es gibt auch in der EKHN kritische Stimmen zur Dekade. Sie beklagen etwa, dass das Thema "Gewalt überwinden" nicht stärker gemeinsam mit den 15 Partnerkirchen in aller Welt bearbeitet wurde. Wurde mit der Dekade der vielfach formulierte Anspruch erfüllt, das Thema Frieden wieder stärker ins Zentrum unserer Kirchen zu rücken? Manche, die sich in der EKHN und den anderen Landeskirchen der EKD in der Dekade engagiert haben, bezweifeln das. Sie sehen es als Widerspruch zum Anliegen der Dekade, dass in demselben Zeitraum der letzten zehn Jahre die kirchlichen Strukturen für Friedensarbeit personell und finanziell erheblich geschwächt wurden: zum Beispiel durch die Streichung von Stellen für landeskirchliche Friedenspfarrer und -referenten. Hat die ökumenische Dekade nun dazu geführt, dass die Welt seit dem Jahr 2000 (zumindest) gewaltwärmer geworden ist? Leider nein. Im Gegenteil: Gewalt in ihren verschiedenen Ausprägungen hat in den letzten Jahren zugenommen (sowohl quantitativ wie qualitativ in ihrer Intensität). Weltweit, in Europa, in Deutschland und auch hier in Hessen. Das belegen alle einschlägigen Untersuchungen. Ein wesentlicher Grund hierfür ist, dass wir noch immer nicht willens oder in der Lage sind zu einer prinzipiellen Absage an ausnahmslos sämtliche Formen und Kategorien von Gewalt, Gewaltandrohung, Gewaltinstrumenten und Gewalttraining. Auch viele Christen und Kirchen, die sich an der Dekade zur Überwindung der Gewalt beteiligt haben, sind dazu noch nicht bereit oder in der Lage. Es lassen sich mindestens vier unterschiedliche Formen und Kategorien unterscheiden:1) Individuelle Gewalt: Amokläufe und WaffenlobbyEs gibt Gewalt, die sehr öffentlich stattfindet, die sehr spektakulär ist, für die es eine erhebliche mediale Aufmerksamkeit gibt, die große Betroffenheit auslöst , und über deren Ablehnung es einen wohl 100prozentigen Konsens in der Bevölkerung gibt. Zu dieser Kategorie gehören die sogenannten Amokläufe, die wir zunächst nur aus den USA kannten. Doch seit den 90er Jahren finden derartige Gewalttaten auch immer häufiger bei uns in Deutschland, in der Schweiz und anderen europäischen Ländern statt. Fast immer waren es jugendliche und bislang ausschließlich männliche Täter, die mit Schusswaffen möglichst viele Menschen töteten und verletzten. In Deutschland zuletzt in Ansbach, in Winnenden, in Erfurt und in Emsdetten. Die Opfer fast immer nicht zufällige, sondern sie wurden von den Gewalttätern gezielt ausgesucht und stammten aus ihrem Lebensumkreis: Mitschüler oder - studenten, Lehrer, Arbeitskollegen, Verwandte. Und anders als der irreführende Begriff "Amoklauf" suggeriert, handelten die Gewalttäter nicht spontan, sondern nach zum Teil monatelanger Planung, Vorbereitung und Schusswaffentraining. Doch trotz der einhelligen gesellschaftlichen Ächtung dieser Form von Gewalt sind die Instrumente zu ihrer Ausübung bis heute leicht verfügbar. Unter den 82 Millionen Einwohnern Deutschlands gibt es rund 45 Millionen Schusswaffen. Ein Verbot des privaten Schusswaffenbesitzes ist leider nicht in Sicht. Die deutsche Waffenlobby, an seiner Spitze der Deutsche Schützenbund (DSB), hält hartnäckig an einem verfassungswidrigen Waffengesetz fest, welches das Recht einiger auf die Ausübung ihres Hobbys über das Recht aller anderen auf Leben und körperliche Unversehrtheit stellt. Ungerührt von den Opfern der bisherigen Amokläufe verbreitet diese Lobby weiterhin die falsche Behauptung, der private Besitz von oder die Verfügung über Schusswaffen erhöhe nicht die Gefahr ihres Einsatzes für Gewalttaten. Diese Behauptung ist längst eindeutig widerlegt. In der Schweiz etwa werden über 85 Prozent sämtlicher Gewalttaten, bei denen Schusswaffen zum Einsatz kommen - nicht nur Amokläufe, sondern auch "gewöhnliche" Morde, Raubüberfälle, Nachbarschaftsstreitereien, Familienfehden wie auch Selbstmorde - mit Schusswaffen verübt, die die Angehörigen der Schweizer Milizarmee nach wie vor bei sich zu Hause aufbewahren dürfen. Doch stärker als diese eindeutigen Fakten sind die Bestechungen und falschen Behauptungen der Waffenlobby, der eine Mehrheit der deutschen Politiker bis heute folgt. Die beiden großen Parteien CDU/CSU und SPD sowie die FDP lehnen es weiterhin reflexartig ab, die entscheidende Frage auch nur zu diskutieren: nämlich ob es tatsächlich zu den unverzichtbaren Freiheitswerten einer zivilen Gesellschaft gehören muss, ihren Bürgerinnen und Bürgern Zugang zu Schusswaffen zu gewähren. Die sogenannte Verschärfung des Waffenrechts, das die große Koalition von CDU/CSU und SPD nach dem Amoklauf von Winnenden im März 2009 beschlossen hat, ist eine reine Farce. Wer mit Großkalibern schießen will, muss künftig 18 statt 14 Jahre alt sein. Was ändert das? Ausnahmslos alle bisherigen Amokläufer in Deutschland erschossen und verletzten ihre Opfer mit Schusswaffen, die sie auch nach dem ursprünglichen Gesetz weder besitzen noch benutzen durften. Zudem sieht das kosmetisch leicht veränderte Waffenrecht künftig Kontrollen aller privaten Waffenbesitzer in Deutschland vor. Doch die für diese Kontrollen zuständigen Kommunen haben hierfür weder ausreichend Geld noch Personal. Die Stadt Nürnberg etwa will pro Jahr 80 Waffenbesitzer überprüfen. So wird es bis zum Jahr 2110 dauern, bis alle heute in Nürnberg registrierten 8.000 Waffenbesitzer einmal überprüft wurden. Statt einer wirksamen Überwindung dieser Form von Gewalt durch ein Verbot privaten Schusswaffenbesitzes außer in wohlbegründeten Ausnahmefällen werden diejenigen, die ein solches Verbot fordern, von der Waffenlobby und dem Deutschen Schützenbund der "Volksverhetzung" und der "Verleumdung" bezichtigt. Die Vertreter der Initiative "Keine Mordwaffen als Sportwaffen", die im Juli dieses Jahres in Karlsruhe eine Verfassungsbeschwerde gegen das deutsche Waffengesetz eingelegt hat - darunter die Mutter und der Vater zweier in Winnenden getöteten Kinder -, werden am Telefon und in Briefen von Mitgliedern der Waffenlobby beschimpft und bedroht. Leider haben sich die Kirchen bislang der Verfassungsbeschwerde "Keine Mordwaffen als Sportwaffen" nicht angeschlossen. Auch ansonsten haben sich die Kirchen bisher viel zu wenig engagiert für die Überwindung dieser so offensichtlichen Form von Gewalt durch den Einsatz von Schusswaffen. 2) Gewalt am Computer: KillerspieleNeben dieser offensichtlichen Form gibt es eine zweite Kategorie von Gewalt und Gewaltvorbereitung, die bislang viel zu wenig wahr- und ernstgenommen wird, und die von interessierten Kreisen systematisch verharmlost, ja schöngeredet wird. Ich meine die Killer- und Gewaltspiele für Computer und Videogeräte und ihren immer exzessiveren Konsum durch Kinder und Jugendliche. Diese Spiele haben durch gezielte Vermarktungsstrategien und raffinierte Werbung in Deutschland inzwischen einen fast vollständigen Bekanntheitsgrad bei Kindern und Jugendlichen erreicht. Ende 2008 hatten sich lediglich 5 Prozent aller 15-jährigen Jungen noch nie mit Computerspielen beschäftigt. Bei den Mädchen waren es 19 Prozent. Das geht aus einer Studie hervor, die das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen im März 2009 vorlegte. Für diese bislang umfassendste Jugendstudie zur Nutzung von Computerspielen wurden in den Jahren 2005 bis 2008 bundesweit 45.000 Jungen und Mädchen im Alter von 15 Jahren befragt. Nicht nur die Zahl der jugendlichen Computerspieler ist in dem vierjährigen Untersuchungszeitraum erheblich angestiegen. Auch die Zeit, die ein Jugendlicher täglich mit Computerspielen verbringt, wuchs zwischen 2005 und Ende 2008 um 40 Minuten. Am Wochenende saßen die Jugendlichen zuletzt sogar durchschnittlich 167 Minuten - knapp drei Stunden - am PC und spielten. Nach der Studie waren Ende 2008 bereits rund 60.000 Jugendliche im Alter von 15 Jahren bereits computerspielsüchtig oder stark suchtgefährdet - das waren 4, 7 Prozent aller 15-jähigen Jungs und 0,5 Prozent der gleichaltrigen Mädchen. Wissenschaftler gehen davon aus, dass diese Zahlen in den letzten zwei Jahren seit Abschluss der Studie weiter angestiegen sind. Über 80 Prozent der in Deutschland verkauften und von Jugendlichen konsumierten Computerspiele haben Gewalt und Zerstörung zum Inhalt. Selbst realistische Kriegsszenarien mit brutalsten Szenen werden als "Spiel" vermarktet. Die besondere Problematik im Vergleich zu brutalen Filmen und Videos besteht darin, dass die jungen Spieler nicht nur die aggressiven und gewalttätigen Inhalte passiv konsumieren, sondern sie selbst sind es, die aktiv ihre "Feinde" mit Schlägen und Fußtritten misshandeln, sie foltern und ihnen die Gliedmaßnahmen abschneiden oder sie durch gezielten Kopfschuss töten. Das verlangen die Spielregeln. Die Spielkonzepte werden so entwickelt, dass Zerstören und Töten als Spaß und Faszination erlebt werden und die grausame Gewalttat als "Erfolg" belohnt wird. Das erhöht den Suchtfaktor. Ein Großteil dieser Killerspiele wurde ursprünglich im Auftrag des Pentagon entwickelt um amerikanische Soldaten besser auf Kampfeinsätze vorzubereiten - das heißt, um sie zu desensibilisieren, ihre Schieß- und natürlichen Tötungshemmungen abzubauen. Mit "Erfolg". Einen ähnlichen "Erfolg" haben diese Killerspiele auch bei Jugendlichen in Deutschland. Der 17-jährige Tim K., der am 12. März 2009 in Winnenden 15 Menschen in eiskalter Killermanier per gezielten Kopfschuss ermordete, spielte vor seiner Tat bereits seit Jahren Killer- und Ego-Schooter-Spiele wie "Counter-Strike", "Tactical Ops" und "Far Cry2". Auch fast alle anderen Jugendlichen, die in den letzten zehn Jahren in den USA oder in Europa zu Amokläufern wurden, hatten zuvor intensiv mit Killerspielen trainiert. Natürlich werden nicht alle Jugendlichen, die häufig Killerspiele spielen, irgendwann zu Amokläufern. Doch selbst, wenn das nicht passiert, sind die Folgen des Konsums von Killerspielen gravierend und alarmierend: die moderne Hirnforschung ist sich heute einig, dass diese Killerspiele abstumpfen, die Gewalt- und Aggressionsbereitschaft der jugendlichen Konsumenten fördern und die Ausbildung von Empathie und der Fähigkeit zum gewaltfreien Austrag von Konflikten massiv behindern. Hirnforscher und andere Fachleute aus Wissenschaft und Forschung sowie die Fachverbände und Institutionen der psychosozialen Versorgung in Deutschland fordern schon lange, doch bislang leider vergeblich eine wirksame gesetzliche Grundlage, damit die weitere Herstellung und Verbreitung von Spielen mit inhumanen und gewaltfördernden Inhalten endlich verhindert werden kann. Auch diese engagierten Stimmen gegen eine immer stärkere Gewaltsozialisation von Jugendlichen wären dringend auf mehr Unterstützung aus den Kirchen angewiesen. Denn sie stehen gegen die Interessen mächtiger und einflussreicher Medienkonzerne, die mit dem Verkauf der Killerspiele Milliardenumsätze und -gewinne macht. Diese Konzerne finanzieren Forscher und Wissenschaftler, die dann auftragsgemäß gegen ein Verbot von Killerspielen argumentieren und stattdessen für mehr "Medienkompetenz" der Jugendlichen plädieren. Diese industrieabhängigen Experten lehnen auch den Begriff "Killerspiele" strikt ab. Ihre gängige Sprachregelung lautet: "Ein Verbot von bestimmten Spielen ist aus pädagogischer Sicht der falsche Weg.". In Köln gründete Electronic Arts, einer der weltweiten größten Hersteller und Vertreiber von Computerspielen gemeinsam mit der dortigen Fachhochschule das Institut "Spielraum" zur Förderung von mehr Medienkompetenz. Erklärtes Ziel ist die "Weiterbildung von Eltern und Pädagogen". Diese sollen "Vorurteile" abbauen, die "Qualität und Potenziale" von Computerspielen kennen lernen und diese als "Kulturgut" würdigen. Als "Kulturgut" wären Killerspiele grundsätzlich vor Verboten und gesetzlichen Beschränkungen geschützt. 3) Staatliche Gewalt: Kriegseinsätze und RüstungsexporteDie dritte Kategorie von Gewalt und Gewaltdrohung ist jene, die staatlich sanktioniert ausgeübt wird- auf der Basis von Beschlüssen der Bundesregierung und des Bundestages und damit scheinbar auch immer legal und legitim. Ich meine hier nicht das staatliche Gewaltmonopol nach innen. Dieses Monopol ist und bleibt eine Errungenschaft des modernen, demokratischen Rechtsstaates - trotz allen Missbrauchs und aller Polizeiüberbergriffe, wie wir sie kürzlich wieder im Konflikt um Stuttgart 21 erlebt haben. Ich meine den Einsatz von Gewalt nach außen. Dieser Einsatz hat seit Beginn der Dekade zur Überwindung der Gewalt in einem Ausmaß stattgefunden, wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik seit 1949. Ihren Anfang nahm diese Entwicklung bereits 1999 mit der Beteiligung der Bundeswehr am völkerrechtswidrigen Luftkrieg der NATO gegen Restjugoslawien, den die NATO mit den -fraglos schweren - Menschenrechtsverletzungen serbischer Sicherheitskräfte gegen die Albaner im Kosovo zu rechtfertigen suchte. Viele Menschen - auch in unseren Kirchen - beruhigten sich und andere damals mit der Hoffnung, dieser elfwöchige Luftkrieg bleibe ein einmaliger Sündenfall in der bis dahin ausschließlich mit nichtmilitärischen Mitteln geführten Außen- und Sicherheitspolitik unseres Landes. Doch diese Hoffnung hat getrogen. Seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 ist Deutschland mit immer mehr Soldaten am stetig eskalierenden "Krieg gegen den Terrorismus" beteiligt. Im derzeitigen Hauptkampfgebiet Afghanistan, am Horn von Afrika und demnächst möglicherweise auch an anderen Schauplätzen. In den Tagen und Wochen nach dem 11. September 2001 gab es in unserer Gesellschaft und gerade auch in christlichen Friedensinitiativen und einigen Gemeinden durchaus Stimmen, die vor einem Krieg gewarnt haben. Sie plädierten für die Verurteilung der Terroranschläge als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, und für die konsequente Verfolgung und Bestrafung der Täter und ihrer Hintermänner mit allen zur Verfügung stehen völkerrechtskonformen Mitteln internationaler Polizei und Justiz. Es waren keineswegs nur Linke, Grüne oder Friedensbewegte und Pazifisten, die damals vor einem Krieg warnten. Ich zitiere nachfolgend aus dem Kommentar "Weltfriede in Gefahr", den der Chefredakteur der sehr konservativen Kirchenzeitung des katholischen Bistums Eichstätt, Karl G. Peschke am 11. November 2001 schrieb: "Präsident Bush jr. hat vom UNO-Sicherheitsrat bisher nicht mehr als die Bescheinigung, die USA hätten das Recht, sich gegen Terroranschläge individuell und kollektiv zu verteidigen. Für einen Krieg ist das keine Legitimation. (….) Unverständlich ist, warum unter Bundeskanzler Schröder die deutschen Soldaten in den Einsatz geschickt werden, ehe die Gründe und Ziele dafür transparent sind. Die Eilfertigkeit, in der diese rot-grüne Regierung sich bemüht, ihre Bündnistreue anzudienen, ist beunruhigend. Die Unfähigkeit dieser Regierung, in anderen, als militärischen Kategorien zu denen, ist beschämend. Die mangelnde Bereitschaft, Bedenkenträger ernst zu nehmen, ist verhängnisvoll. (….) Der Kreuzzug gegen den Terrorismus hat - wenn das Wort keine Rückkehr ins Mittelalter bedeutet - mit modernen Mitteln zu geschehen: Dialog, Überzeugung, Entwicklung sind die modernen Synonyme für den Frieden." Ähnlich warnte damals auch der katholische Militärbischof Walter Mixa vor einem "Krieg gegen den Terrorismus." Doch diese Stimmen blieben marginalisiert, auch in unseren Kirchen. Die Kirchenleitungen schlossen sich dem politischen Mainstream an, der mit Bundeskanzler Schröder die "uneingeschränkte Solidarität" mit den USA beschwor, einen schnellen militärischen Sieg über die Terroristen und damit das Ende der Bedrohung in Aussicht stellte und den Afghanen Frieden, Wiederaufbau, Demokratie und Frauenrechte versprach. Angesichts der vermeintlichen oder tatsächlichen neuen Bedrohung, die sich mit den Anschlägen vom 11. September 2.001 auftat, gerieten all die Erklärungen, Bekenntnisse und Selbstverpflichtungen der Ökumenischen Versammlungen von Amsterdam bis Harare zur grundsätzlichen "Absage an Krieg und Gewalt" und zum unbedingten Vorrang für gewaltfreie Konfliktlösungen zunächst einmal in Vergessenheit. Inzwischen führen wir seit über neun Jahren den "Krieg gegen den Terrorismus". Mit immer mehr Opfern - überwiegend Zivilisten. Ein Ende dieses Krieges ist nicht absehbar. Kriterien für "Sieg" gibt es ebenso wenig, wie eine Strategie für den Ausstieg aus dem Krieg. Die damaligen Mahner und Warner vor einem "Krieg gegen den Terrorismus" sind durch die Entwicklung der letzten neun Jahre leider voll bestätigt worden. Selbst wer kein Pazifist ist und den Einsatz militärischer Mittel grundsätzlich ablehnt, selbst wer den Krieg in Afghanistan für völkerrechtskonform hält und selbst wer keine moralisch-ethischen Probleme mit der Art der dort praktizierten Kriegsführung hat, der muss bei nüchterner Betrachtung doch einräumen, dass dieser Krieg gescheitert ist. Und zwar gescheitert gemessen an seinen offiziell erklärten Zielen, die terroristische Bedrohung zu beenden und für Afghanistan Frieden, Wiederaufbau, Demokratie und Menschenrechte zu sichern. Der Krieg ist sogar kontraproduktiv "ein Programm zur Aufzucht von Terroristen", wie der ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete Jürgen Gerhard Todenhöfer schon vor über einem Jahr völlig zutreffend festgestellt hat. Denn dieser Krieg stärkt den Hass auf den Westen und die Bereitschaft zu terroristischen und anderen Gewaltakten und, beschert den Taliban und anderen islamistischen Warlords steten Zulauf neuer Kämpfer und Selbstmordattentäter. "Nichts ist gut in Afghanistan" hat die ehemalige Ratsvorsitzende Margot Käßmann letztes Jahr in ihrer Dresdner Weihnachtspredigt erklärt. Dafür erhielt sie sehr viel Zustimmung von der kirchlichen Basis und darüber hinaus aus der Bevölkerung und zugleich zum Teil höchst verärgerte Kritik von Politikern von CDU/CSU bis hin zu dem Grünen-Funktionär Ralf Fücks, der sich in besonders arroganter Weise über die angeblich naive Äußerung der Bischöfin ausließ. Heute acht Monate nach Käßmanns Weihnachtspredigt muss man feststellen: nichts ist seitdem besser geworden in Afghanistan, vieles aber noch schlechter, verfahrener und gefährlicher - auch für die deutschen Soldaten. Das ist nicht nur meine unmaßgebliche Einschätzung. Sondern das ist die aktuelle Lagebeurteilung der militärischen Führung der USA und ihrer Geheimdienste; das ist die Lagebeurteilung bei der NATO in Brüssel. Und das ist auch die Einschätzung der Bundeswehrführung sowie des Bundesnachrichtendienstes. Wenn Politiker und Politikerinnen von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen etwas anderes behaupten, um die Zustimmung zum fortgesetzten Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan zu sichern, über den der Bundestag in wenigen Wochen ja wieder abstimmen muss, dann ist das höchst unverantwortlich. Höchst unverantwortlich auch mit Blick auf die deutschen Soldaten, die mit einem immer höheren Risiko für Leib und Leben nach Afghanistan geschickt werden. Es ist höchste Zeit, dass der Rat der EKD aus dieser Situation endlich Konsequenzen zieht, und seiner eigenen Friedensdenkschrift vom September 2007 mehr Glaubwürdigkeit verschafft. In dieser Denkschrift hatte der Rat ja präzise Kriterien dafür aufgestellt, unter welchen Umständen und durch wen notfalls so genannte "Recht schaffende Gewalt" eingesetzt werden darf - etwa zur Verhinderung oder Beendigung eines Völkermordes. Aber die Antwort auf die schon im September 2007 gestellte Frage, ob er diese Kriterien für Recht schaffende Gewalt in Afghanistan erfüllt sieht, hat der Rat der EKD bis heute nicht gegeben. Vielleicht gelingt ihm das ja noch vor Ablauf der "Ökumenischen Dekade zur Überwindung von Gewalt". Zur staatlich sanktionierten Gewalt nach außen gehören auch die Rüstungsexporte aus der Bundesrepublik Deutschland. Diese Exporte, die ja genehmigt werden müssen, dienen nach offizieller Lesart dazu, Stabilität zu schaffen oder zu sichern, nicht aber dazu, den Empfängern dieser Waffen die Führung eines Krieges zu ermöglichen, oder bereits laufende Gewaltkonflikte durch neue Waffen fortzusetzen und zu eskalieren. Genau zu diesem Zweck werden die aus Deutschland exportierten Rüstungsgüter aber in immer stärkerem Maße genutzt. Angefangen von den Gewehren der schwäbischen Waffenschmiede Heckler & Koch, den weltweit am meisten verbreiteten Kleinwaffen über Panzer und Raketenwerfer von Rhein-Metall und Krauss Maffei, Drohnen und Lenkwaffen aus dem Daimler/EADS-Konzern bis hin zu den drei atomwaffentauglichen Unterseebooten, die in den letzten Jahren an Israel geliefert wurden, und die von der Regierung in Tel Aviv möglicherweise demnächst in einem Krieg gegen Iran eingesetzt werden. Der moralische und politische Skandal des Exports deutscher Kriegs-und Mordinstrumente in alle Welt ist während der Dekade zur Überwindung der Gewalt größer geworden als je zu vor seit Gründung der Bundesrepublik. Deutschland ist inzwischen zum weltweit drittgrößten Rüstungsexporteur aufgestiegen nach den USA und Russland und mit stetig wachsendem Abstand vor Frankreich und Großbritannien. Alle Bundesregierungen der letzten zehn Jahre - ob rot-grün, schwarz-rot oder jetzt schwarz-gelb haben an dieser unheilvollen Entwicklung ihren Anteil. Evangelische Friedensinitiativen und die katholische Pax Christi engagieren sich seit über 30 Jahren für einen Stopp deutscher Rüstungsexporte, die in vielen Ländern und Regionen der Welt die Gewalt fördern. Und die GKKE, die Gemeinsame Konferenz der Evangelischen und Katholischen Kirche für Entwicklungsfragen, ist eine der wenigen Stimmen im Land, die diesen Skandal in ihren jährlichen Rüstungsexportberichten beharrlich beim Namen nennt und eine Korrektur dieser gewaltfördernden Politik fordert. 4) Strukturelle Gewalt: Ungerechte Verteilung und mangelnde TeilhabechancenDie vierte Kategorie von Gewalt ist die "strukturelle Gewalt" in Form von ungerechter Verteilung lebenswichtiger Ressourcen und anderer Gütern sowie von Möglichkeiten zur Entwicklung und Teilhabe. Diejenigen, die diese Ressourcen und Möglichkeiten in ausreichendem Maß oder gar im Übermaß besitzen, nehmen diese strukturelle Gewalt zumeist nicht wahr oder bestreiten ihre Existenz. Dabei ist es so offensichtlich, dass strukturelle Gewalt in Form von Ungerechtigkeit immer wieder zu Gegengewalt der Opfer von struktureller Gewalt führt. Ungerechtigkeit fördert häufig die Zunahme von politischer, ethnischer und rassistischer Gewalt. Der norwegische Friedensforscher Johan Galtung prägte den Begriff der "strukturellen Gewalt" vor über 30 Jahren mit Blick auf die Ungerechtigkeit im globalen Maßstab zwischen den reichen Industriestaaten und den armen Entwicklungsländern sowie auf die Situation innerhalb vieler der ehemaligen europäischen Kolonien in Afrika, Asien und Lateinamerika. Inzwischen gibt es längst auch innerhalb der reichen Industriestaaten des Nordens strukturelle Gewalt in Form von Armut und Ungerechtigkeit. Auch bei uns in Deutschland. "Armut in einem reichen Land ist mehr als nur eine Herausforderung, sie ist ein Skandal. Die Möglichkeiten, die unserem Land zur Verfügung stehen, um nachhaltig vor Armut zu schützen, sind historisch gesehen enorm. Trotzdem steigt die Zahl der Armen in unserer Gesellschaft. Eine wachsende Anzahl von Menschen leidet unter materieller Not. Gleichzeitig registrieren wir mit Besorgnis das Ansteigen versteckter Formen von Armut, die ein weiteres ‘Armutsrisiko’ produzierten. Nach jüngsten Statistiken betrifft dies beinah jede siebte Person in Deutschland. Ursache mangelnder Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist vor allem Arbeitslosigkeit. Mit ihr verbunden sind fehlende Sozialkontakte, Hindernisse bei Ein- und Aufstiegsmöglichkeiten, Ausgrenzung und Vereinsamung. Deswegen ist es in einer hochentwickelten und reichen Gesellschaft wie der deutschen aus ethischer Sicht notwendig, nicht nur extreme Armut - materielle Armut unterhalb des sozio-kulturellen Existenzminimums -, sondern auch Armut im Sinne unzureichender Teilhabe entschlossen und wirkungsvoll zu bekämpfen. In der Verbesserung von Teilhabe- und Beteiligungsmöglichkeiten liegt eine wirksame und bisher zu wenig beachtete Strategie der Armutsbekämpfung. ‘Gerechte Teilhabe’ meint die umfassende Beteiligung aller an Bildung und Ausbildung sowie an den wirtschaftlichen, sozialen und solidarischen Prozessen der Gesellschaft. Dem steht das derzeitige deutsche System der Elementar- und Schulbildung durch die herkunftsbedingte Zuweisung ungleicher Entwicklungschancen entgegen. Was wir brauchen, ist Entschlossenheit auf allen Ebenen, um Chancengerechtigkeit praktisch zu realisieren." Diese letzten Sätze über Armut und mangelnde Chancengerechtigkeit in Deutschland stammen nicht von mir, und sie sind auch nicht neu. Sie stammen vom ehemaligen Ratsvorsitzenden der EKD, Wolfgang Huber. Er hat sie gesprochen im Juli 2006 bei der Vorstellung der EKD-Denkschrift "Gerechte Teilhabe. Befähigung zu Eigenverantwortung und Solidarität" . Diese Denkschrift schloss an das gemeinsame Wirtschafts-und Sozialwort "Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit". das die Evangelische und die Katholische Kirche 1997 veröffentlichten. Die Politik hat diese beiden kirchlichen Stellungnahmen zwar jeweils mit warmen Worten begrüßt, hat ihre Vorschläge und Empfehlungen aber nicht umgesetzt. Die Armut und die Ungerechtigkeit bei der Verteilung von Gütern und Teilhabemöglichkeiten in unserer Gesellschaft haben seit 1997 und auch seit 2006 weiter zugenommen. Und damit auch die strukturelle Gewalt mit all ihrem gewaltfördernden Potential. Die Senkung der Arbeitslosigkeit auf die niedrigste statistische Marke sei 1992, die die Bundesregierung am letzten Mittwoch verkündet hat, ändert an diesen Tatsachen nichts und sollte auch nicht darüber hinwegtäuschen.
FazitNur wenn wir diese und andere Formen und Kategorien von Gewalt, Gewaltandrohung und Gewaltvorbereitung ausnahmslos als Gewalt benennen, moralisch und politisch ächten und bekämpfen, haben wir eine Chance zur Deeskalation und Überwindung der Gewalt in dieser Welt. Beitrag der ReligionenEs gibt ja durchaus positive, Hoffnung machende Beispiele aus den letzten Jahrzehnten, wo dies gelungen ist. Gerade auch dank des Engagements von Christinnen und Christen oder von Angehörigen anderer Religionen. Das erfährt man nur nicht oder nur viel zu selten aus den Medien. Schlagen Sie die Zeitung auf, so springt Ihnen entgegen, wo religiöse Akteure wieder einmal Gewalt anwenden und Konflikte verschärfen: Mord und Totschlag im christlichen Ruanda oder Kenia; islamistische Terroranschläge in Afghanistan und Irak; Gewaltakte von Hindu-Nationalisten in Indien oder von buddhistischen Extremisten auf Sri Lanka, … Jede Religion dieser Erde hat Blut an den Händen, keine kann sie in Unschuld waschen. Doch es gibt sie, die positiven Beispiele erfolgreicher Gewalteindämmung und -überwindung durch religiöse Akteure. Der Politikwissenschaftler Markus Weingardt von der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft FEST in Heidelberg hat in seinem vor drei Jahren erschienenen Buch "Religion Macht Frieden - das Friedenspotential von Religionen in politischen Gewaltkonflikten" 40 Beispiele aus aller Welt ausführlich vorgestellt. Unter anderen:
Zu den deutschen Mennoniten, die den 1998 in Harare erfolgten Aufruf für eine "Ökumenischen Dekade zur Überwindung von Gewalt" ursprünglich initiierten, gehört der Theologe Fernando Enns. In einem Vortrag zur Halbzeit der Dekade im Jahre 2005 hat Enns deutlich gemacht, was die entscheidende Voraussetzung ist für ein Gelingen all unserer Anstrengungen: "Wir glauben, Gewalt hat nicht das letzte Wort." Aus diesem Vortrag möchte ich zum Abschluss einige Passagen zitieren, denn er ist heute so aktuell und wegweisend wie vor fünf Jahren. Enns machte in seinem Vortrag zunächst deutlich, wie sehr wir "als Weltgemeinschaft immer noch in einer Kultur der Gewalt gefangen sind" und fuhr dann fort: "Wie spüren, dass wir hier als Christen und Kirchen in besonderer Weise herausgefordert sind: "Ihr habt gehört, dass gesagt ist: ´Du sollst Deinen Nächsten lieben und Deinen Feind hassen´. Ich aber sage Euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die Euch verfolgen, damit ihr Kinder seid Eures Vaters im Himmel"(Mt 5,43-45). "Selig sind die Frieden stiften, denn sie werden Gottes Kinder heißen"(Mt 5,9). Diese zentrale Botschaft Jesu fordert uns Christen heraus, in den Gefühlen der Erschütterung nicht stecken zu bleiben. "Lass Dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem", predigt der Apostel Paulus (Röm. 12,21). Wir werden, sobald wir die Bibel aufschlagen, mehrfach herausgefordert, uns der Gewalt entgegen zu stellen. Und diese Herausforderung ist qualifiziert: nicht Gleiches mit Gleichem zu vergelten, sondern Feinde zu lieben und das Böse mit Gutem zu überwinden. Sperrig steht das vor uns, quer zu unserer Alltagswirklichkeit. Ist das weltfremd? Kaum, denn die Bibel weiß gerade auch von der real existierenden Gewalt zu berichten. Das zeigt ein Blick auf die Urgeschichte der Menschheit. Am Anfang steht der Brudermord. Kain erschlägt Abel. Weil er zornig ist. Weil er sich zurückgesetzt fühlt. Weil er gedemütigt ist. Damit fängt alles an. "Da sprach Gott zu Kain: Wo ist Dein Bruder Abel? Er (Kain) sprach: Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein?"(Gen 4,9). - Was für eine Antwort! Wo ist dein Bruder, Palästinenser? Wo ist Dein Bruder, Israeli? Wo ist Deine Schwester, Sudanesin? Wo sind Deine Eltern, Hutu, Tutsi? Wo sind Deine Geschwister im Irak, in Afghanistan? Wo sind die Toten im ehemaligen Jugoslawien? Wo sind die Millionen Verhungerten? Wo die Ermordeten in den Slums von Rio? - Die erste Antwort auf all diese Fragen beantwortet Kain stellvertretend: "Soll ich meines Bruders Hüter sein?"Sind wir denn verantwortlich? So fängt alles an: die Verweigerung, Leugnung einer Beziehung. Aber so muss es nicht aufhören. Weil die zentrale Botschaft der Bibel nicht nur aus ethischen Forderungen besteht, nicht nur die elementare Gewalterfahrung der Menschheit thematisiert, sondern vor allem von Gottes Gerechtigkeit spricht. "…Und der Herr machte ein Zeichen an Kain, dass ihn niemand erschlüge, der ihn fände"(Gen 4,15). Damit Gewalt nicht das letzte Wort behält. Aus diesem Evangelium erwächst uns die Herausforderung und Ermutigung, Verantwortung für die von Gewalt erschütterte Welt zu übernehmen! Allerdings: das ist keine leichte Aufgabe! Das wissen alle, die anfangen, sich der Gewalt mit gewaltfreien Mitteln entgegen zu stemmen. Denn das bedeutet zuerst, dass es für uns -für die Kirchen - keine neutrale Position mehr geben kann! Kirche ist immer parteiisch, kann sich gar nicht nicht einmischen, wo Gewalt Menschenleben bedroht, Beziehungen zerstört und ein gelingendes Leben unmöglich macht. Kirche - wenn sie denn bekennende Kirche ist - wird Fürsprecherin für die Menschen, die unter Gewalt leiden. Sie wird von politisch Verantwortlichen Rechenschaft verlangen, wenn diese Gewalt zulassen oder Gewalt sogar selbst als Mittel der Politik in Erwägung ziehen. Kirche wird sich schützend vor die Opfer stellen - egal, welchen Pass sie haben, welcher Hautfarbe sie sind, welchen Glauben diese haben - fragend, anklagend, aufklärend. Kirche wird aber auch Partei ergreifen für Täter. Sie wird die 17. Kerze aufstellen, wie damals in Erfurt geschehen, für jenen Schüler, der zunächst die anderen 16 Lehrer und Schüler tötete -und dann sich selbst. Die siebzehnte Kerze war vielleicht das eindrücklichste Zeichen jener Trauerfeier, ein klares Bekenntnis: Du kannst nicht herausfallen aus der Liebe Gottes, weil Gott Dir, uns, durch Jesus Christus das Kainszeichen auf die Stirn malt. Gewalt hat nicht das letzte Wort. - Darin ist keine Verharmlosung enthalten: Kirche wird die Gewalttat aufs Schärfste verurteilen müssen, aber sie wird immer unterscheiden zwischen der verwerflichen Tat und dem Täter, dessen Menschenwürde unantastbar bleibt, weil er imago Dei - nach Gottes Ebenbild geschaffen - ist. So werden wir stets neue Gemeinschaft zu ermöglichen suchen, indem wir nicht nur die Opfer aus ihrer Opfer-Rolle, sondern auch die Täter aus ihrer Täter-Rolle zu befreien suchen." Das gilt auch für die Taliban in Afghanistan und Pakistan und für terroristische Gewalttäter. Die Dekade zur Überwindung von Gewalt war eine Selbstverpflichtung, auf die alles entscheidende Frage Gottes an Kain zu antworten: Ja, ich will meines Bruders, meiner Schwester Hüter sein! Wir sind verantwortlich! Wir wollen nach gewaltfreien Alternativen suchen, die tatsächlich zur Versöhnung führen können. Wir wollen Gewaltzirkel durchbrechen. Wir verpflichten uns, als weltweite Gemeinschaft, dies ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit zu rücken. Weil wir glauben, dass Gewalt nicht das letzte Wort haben wird. Die Dekade geht zu Ende, aber diese Verpflichtung bleibt. FußnotenVeröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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