Chemische Abrüstung im VerzugRussland und die USA können Fristen der C-Waffen-Vernichtung nicht einhaltenVon Wolfgang Kötter Im World Forum Convention Center von Den Haag hat am 29.11.2010 die Jahreskonferenz der Konvention über das Chemiewaffenverbot begonnen. Eröffnet wurde sie erstmals durch Ahmet Üzümcü, der im Sommer das Amt des Generaldirektors der Chemiewaffenorganisation (Organization for the Prohibition of Chemical Weapons - OPCW) vom Argentinier Rogelio Pfirter übernommen hat. Der knapp 200-seitige Vertrag ist das bisher umfassendste und auch erfolgreichste Abrüstungsabkommen. Ihm gehören 188 Staaten an, von denen sich sechs zu ihrem Chemiewaffenbesitz bekannt haben. Zu den anfangs gemeldeten Russland, USA, Indien und Südkorea kamen später noch Albanien und Libyen hinzu. Bei weiteren Ländern werden geheime Giftgasvorräte bzw. Waffenprogramme vermutet. Das renommierte Washingtoner Henry L. Stimson Center zählt dazu Ägypten, Äthiopien, China, Iran, Israel, Nordkorea, Myanmar, Pakistan, Serbien, Sudan, Syrien, Taiwan und Vietnam. Das seit 13 Jahren rechtskräftige Abkommen verbietet nicht nur, Giftgase anzuwenden, sondern auch sie herzustellen oder zu besitzen, vorhandene Bestände müssen vernichtet werden. Die neue Aufgabe stellt den erfahrenen Diplomaten aus der Türkei vor enorme Herausforderungen. Die OPCW kontrolliert die Vernichtung von C-Waffen wie auch ihrer Produktionsanlagen, internationale Kontrolleure inspizieren darüber hinaus die zivile Chemieindustrie und Forschungslabors. Außerdem unterstützt die Organisation ihre Mitgliedstaaten bei der Abwehr möglicher Giftgasangriffe und fördert die friedliche Kooperation bei der chemischen Forschung und Entwicklung. Gleichzeitig müssen die Verifikationsmethoden an neue Entwicklungen von Wissenschaft und Technik, aber auch an die Gefahr terroristischer Anschläge mit Giftgasen angepasst werden. Im eigens für die OPCW erbauten gläsernen Rundbau in der Johan de Wittlaan von Den Haag arbeiten über 500 Mitarbeiter aus 76 Ländern mit einem Jahresbudget von knapp 75 Mio. Euro. Die chemische Abrüstung wird Experten zufolge insgesamt mehr als 50 Milliarden Dollar kosten. Inspektoren waren bereits zu über 4.160 Kontrollen in 81 Ländern unterwegs, um die Einhaltung des Verbots zu überwachen. 43 Produktionsanlagen wurden zerstört und 21 für eine zivile Produktion umgerüstet. Weltweit arbeiten 37 Entsorgungsanlagen, in denen bisher rund 62 Prozent der ursprünglichen C-Waffen-Bestände beseitigt wurden. Laut Vertrag hätten alle C-Waffen bereits nach 10 Jahren vernichtet sein müssen. Praktisch aber gilt die ursprünglich nur für Ausnahmefälle vorgesehene Verlängerung bis zum Jahr 2012. Inzwischen ist aber klar, dass gerade die Besitzer der größten C-Waffen-Arsenale - Russland und die USA - auch diese Frist nicht einhalten werden. Russland besaß insgesamt 40.000 Tonnen, die Vereinigten Staaten etwa 31.500 Tonnen. Nachdem die Verbrennungsfabrik in Pine Bluff im Bundesstaat Arkansas die vernichtung der dort gelagerten Kampfstoffe Mitte des Monats beendet hat, nutzen die USA gegenwärtig Anlagen in Anniston/Alabama, Umatilla/Oregon und Tooele/Utah. Hinzu kommen sollen weitere Entsorgungsanlagen in Blue Grass/Kentucky und Pueblo/Colorado. Rund 82 Prozent der CW-Vorräte sind zwar vernichtet, aber nach offiziellen Angaben wird die Beseitigung erst im Jahre 2021 vollendet sein. Russland hat nach eigenen Angaben etwa die Hälfte seiner Waffenvorräte entsorgt, doch immer wieder verzögern fehlendes Geld und technische Probleme die Entsorgung. Aktuell wird als Endtermin das Jahr 2015 angegeben, Experten halten das jedoch für unrealistisch, zumal wegen der Finanzkrise die laufenden Ausgaben sogar gekürzt wurden. Finanzielle Unterstützung erhält Moskau von den USA, Deutschland, Kanada, Großbritannien und der Europäischen Union. Aktive und zielgerichtete Hilfe leisten auch die Schweiz, die Niederlande und Frankreich. Nachdem die Anlagen in Gorny in der Region Saratow und im udmurtischen Kambarka ihre Arbeit beendet haben, sind gegenwärtig Vernichtungseinrichtungen Maradikowsky bei Kirow, in Schuchije im Kurgan-Gebiet und in Leonidowka im Pensa-Gebiet in Betrieb. In diesen Tagen soll eine Beseitigungsfabrik in Potschep bei Brjansk ihre Arbeit aufnehmen und eine weitere entsteht im östlich des Urals gelegenen Kisner. Angesichts der Verspätungen müssen sich die Vertragsstaaten darüber einigen, welche Strafen die C-Waffenbesitzer für ihre Fristenüberschreitungen bei der Giftgasbeseitigung zu erwarten haben. Denn durch die zum Teil beträchtlichen Verzögerungen entstehen neue Risiken für das Leben von Menschen, Tieren und Umwelt. Gefahrenherde sind neben den aktuellen Arsenalen vor allem auch die riesigen Mengen Chemiewaffen, die aus vergangenen Kriegen in aller Welt zurückgeblieben sind. So lagern Medienberichten zufolge beispielsweise vor der Küste Helgolands auf dem Meeresgrund bis zu 6.000 Giftgasgranaten mit der hochtoxischen Substanz Tabun. An der gesamten deutschen Nordseeküste liegen nach Expertenschätzungen zwischen 400.000 und 1,3 Millionen Tonnen Weltkriegsmunition. Nicht nur bei der Waffenbeseitigung bleibt noch viel zu tun. Auch neue wissenschaftliche und technische Entwicklungen geben Anlass zur Sorge und lassen die Unterschiede zwischen Biologie und Chemie immer mehr verschwimmen. Umso wichtiger ist es, zu verhindern, dass Grauzonen zwischen den Verboten der Bio- und der Chemiewaffen-Konventionen militärisch missbraucht werden. Internationale Besorgnis ruft auch das wachsende Interesse von Polizei, Sicherheitsdiensten und Terroristen an "nicht-tödlichen" chemischen Kampfstoffen hervor. Dabei handelt es sich etwa um Betäubungsmittel und psychoaktive Drogen, die als Waffe eingesetzt werden können, um die Gegner handlungsunfähig zu machen. Immer wieder gibt es auch Meldungen darüber, dass trotz des Verbots chemische Kampfstoffe eingesetzt werden. Die türkische Armee soll bei Kampfhandlungen gegen die Kurdische Arbeiterpartei PKK zwischen dem 8. und 15. September vergangenen Jahres im Osten des Landes Giftgas angewendet haben. Bewohner der Region beschrieben, wie Soldaten gasförmige, allem Anschein nach chemische Kampfstoffe mittels Geschossen in eine Höhle in der Nähe der Stadt Cukurca einbrachten und wenige Zeit später acht Mitglieder der Kurdischen Volksbefreiungskräfte, des bewaffneten Arms der PKK, aus dieser Höhle bargen. Das von C-Waffen-Experten Van Aken geleitete Sunshine Project hatte seinerzeit ein Dekret der türkischen Armee von 1986 entdeckt, demzufolge der Kampf gegen die PKK auch den Einsatz von Giftgas erfordere. Das sei zwar noch kein Beweis, aber dennoch vermutet er: "Gegen Widerstandskämpfer, die sich in Höhlen verschanzen, hat eine Armee wenig Möglichkeiten der legalen Bekämpfung." Da man mit Kugeln nicht um Ecken schießen könne, sei unter Umständen die Versuchung groß, Giftgas einzusetzen. In Afghanistan kommt es immer wieder zu Giftgasanschlägen gegen Mädchenschulen in der Hauptstadt Kabul wie auch in den Provinzen Kapisa, Parwan und Kundus. Dabei wurden mehr als Hundert Schülerinnen und Lehrer vergiftet und mussten mit Bewusstseinsstörungen, Schwächeanfällen, Erbrechen und Kopfschmerzen ins Krankenhaus gebracht werden. Es wird vermutet, dass dahinter radikal-islamische Gruppierungen stecken, die damit die Mädchen vom Schulbesuch abschrecken wollen. Während der Herrschaft der Taliban von 1996 bis 2001 war Mädchen der Schulbesuch verboten Die C-Waffen-Konvention ächtet Chemiewaffen und erhebt ihr Verbot zur Rechtsnorm der internationalen Politik. Aber damit sind längst noch nicht alle Gefahren beseitigt. Das Hauptproblem für eine von Chemiewaffen vollständig befreite Welt liegt im Nahen Osten. Während arabische Staaten ihre Verweigerung mit dem Atomwaffenbesitz Israels begründen, will Jerusalem das C-Waffenverbot erst ratifizieren, wenn alle Länder der Region beigetreten sind. Für die Zukunft streiten die Mitgliedstaaten darüber, wie die Organisation langfristig umstrukturiert werden soll. Nach Beendigung der chemischen Abrüstung muss die Balance zwischen den einzelnen Tätigkeitsbereichen neu austariert werden. Während die Industriestaaten das Schwergewicht auf die Kontrolle und Nichtverbreitung setzen, fordern die Entwicklungsländer eine Ausweitung der Kooperation in der friedlichen Chemieindustrie. Stand der Beseitigung von Chemiewaffen (Nov. 2010)
Quellen: OPCW, Disarmament Diplomacy und Arms Control Association Chemiewaffen-Chronik
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