Frieden durch Schlichtung? Die Stuttgart-21-Schlichtung auf dem PrüfstandVon Christoph Besemer Die "Schlichtung Stuttgart 21" durch Heiner Geißler hat unabhängig von seinem Ausgang Geschichte geschrieben. Sie war ein modellhafter Versuch, Bevölkerungsproteste gegen ein Großprojekt ernst zu nehmen und in einen Dialog auf Augenhöhe zu überführen. Nach diesem Projekt kann als neuer politischer Konsens gelten, dass solche Großprojekte nicht mehr ohne frühzeitige Einbeziehung der betroffenen Bevölkerung durchgezogen werden können. Trotzdem ist die Frage, ob dieser Konflikt wirklich "befriedet" werden konnte und ob dieses Modell nicht verbessert werden könnte. Von den meisten Seiten wurde das Demokratieexperiment "Schlichtung S 21" - und die herausragende Rolle Heiner Geißlers - gewürdigt. Es hat gezeigt, dass eine sachliche Auseinandersetzung ohne Beleidigungen, Polemik und politische "Fensterreden" möglich ist; ein Diskurs, bei dem die KontrahentInnen einander zuhören, aufeinander eingehen und kontroverse Punkte so weit wie möglich klären. Welch ein Unterschied zu den Debatten in unseren Parlamenten! Die PolitikerInnen sollten diese Veranstaltung als Demonstration einer fairen Kommunikations- und Streitkultur gründlich studieren und ihre Lektion lernen. Vielleicht würde das auch der allgemeinen Politikverdrossenheit entgegen wirken… So faszinierend und spannend der Ablauf der "Sach- und Fachschlichtung" war, so zwiespältig ist das Ergebnis zu bewerten. Offensichtlich sind vor allem die GegnerInnen des Projekts nicht zufrieden und werden weiter gegen den Tiefbahnhof protestieren. Das ist ihr gutes Recht, wie auch Heiner Geißler betont hat. Aber welche Chancen für einen Frieden in der gespaltenen Bevölkerung hat die Schlichtung dann gebracht und welche wurden vergeben? Eine Betrachtung des gesamten Schlichtungsverfahrens aus konflikttheoretischer und mediatorischer Sicht kann für eine Antwort hilfreich sein: 1. Unklarheit über die Art des Verfahrens und den Abschluss der GesprächeWährend Heiner Geißler durchweg von einer "Fach- und Sachschlichtung" gesprochen hat, wurde von den Medien, von KommentatorInnen und teilweise auch von den Schlichtungs-TeilnehmerInnen immer wieder der Begriff "Mediation" verwendet. Auch war am Anfang der Schlichtung und eigentlich bis kurz vor Schluss unklar, worauf diese Gespräche hinauslaufen sollen: Gibt es am Ende einen Schlichterspruch? Auf was könnte sich dieser Spruch beziehen: auf das weitere Verfahren oder auf konkrete Inhalte? Werden die SchlichtungsteilnehmerInnen an der Formulierung beteiligt? Welche Verpflichtung übernehmen sie, wenn sie dem Schlichterspruch zustimmen? Ein transparentes Verfahren hätte darüber schon in der Eingangsphase Klarheit und Übereinstimmung herstellen müssen. 2. Nicht berücksichtigte Gefühls- und BeziehungsebeneEin Konflikt - zumal dieser Härte - besteht nicht nur aus einem Informationsdefizit und sachlicher Kontroversen, sondern ganz wesentlich auch aus elementaren Emotionen wie Ohnmacht, Wut, Hass, Empörung, Verzweiflung o.a., einem gestörtem Kontakt zwischen den Akteuren und einer verzerrten Einschätzung der Gegenseite. Dies treibt die Eskalation an und bleibt als tief sitzende Erfahrung zurück. Nicht nur, was nicht ausgesprochen ist, wird zu Gift, wie Heiner Geißler Franz Josef Strauß zitierte, sondern auch nicht verarbeitete schmerzliche Gefühle und unversöhnte Feindschaft. Eine nachhaltige Konfliktbearbeitung muss deshalb grundsätzlich sowohl den emotionalen und beziehungsmäßigen als auch den inhaltlichen, sachlichen Teil der Auseinandersetzung behandeln und "befrieden". Und das in der Regel auch in dieser Reihenfolge. Dies ist in der S-21-Schlichtung nicht geschehen und war auch nicht vorgesehen. Es war vielleicht auch nicht möglich, zumindest in dieser Zusammensetzung der Schlichtungsrunde. Die von Wasserwerfern weggespülten Jugendlichen, der Rentner, der sein Augenlicht verloren hat, die Unzähligen, die durch Pfefferspray und massiven körperlichen Polizeieinsatz verwundet wurden - sie waren nicht in der Schlichtungsrunde vertreten. Eine direkte Begegnung dieser und anderer Opfer der Konflikteskalation mit den Verantwortlichen des Polizeieinsatzes am 30. September hätte vielleicht zu gegenseitigem Verstehen oder einer von den Opfern akzeptierten Entschuldigung führen können. Es ist deutlich geworden, dass die VertreterInnen, die in der Schlichtungsrunde saßen, diesen Versöhnungsprozess nicht stellvertretend für die Opfer durchlaufen konnten. Deshalb verwundert es auch nicht, dass nach dem Schlichterspruch die Emotionen neu entflammt sind. 3. Fehlende Einbeziehung relevanter KonfliktparteienEine grundlegende Voraussetzung für gelingende Konfliktlösung ist es, das alle relevanten Konfliktbeteiligten an den Gesprächen beteiligt sind. Neben den oben erwähnten Opfern ist auch die wichtige Gruppe der BaumschützerInnen nicht am Verhandlungstisch gesessen. Es wäre wichtig gewesen, ihre Bedenken und Bedingungen so ernst zu nehmen, dass ihnen der Weg zur Teilnahme an den Schlichtung geebnet worden wäre. Nun waren sie nicht dabei und können demnach auch nicht auf das Ergebnis der Schlichtung "verpflichtet" werden. Die explizite Berücksichtigung der Anliegen dieser Menschen im Schlichterspruch ("Es dürfen nur diejenigen Bäume gefällt werden, die ohnehin wegen Krankheiten, Altersschwäche in der nächsten Zeit absterben würden. Wenn Bäume durch den Neubau existenziell gefährdet sind, (…) werden sie in eine geeignete Zone verpflanzt und nicht umgesägt.") reicht offenbar nicht aus, um sie zufrieden zustellen. Dies mag außer an der Nichteinbeziehung auch an der - oben beschriebenen - fehlenden emotionalen Aufarbeitung ihrer Verletzungen gelegen haben. 4. Unzureichende Phase der VerhandlungenDie Zeit der Schlichtungsgespräche wurde fast ausschließlich auf das Vortragen und Diskutieren der Sachargumente pro und contra Tiefbahnhof (S21) bzw. Kopfbahnhof (K21) verwendet. Für viele überraschend wurde kurz vor dem Schlichterspruch eine Verhandlungsrunde hinter verschlossenen Türen durchgeführt. Sie sollte planmäßig nur eine Stunde dauern, wurde dann aber wesentlich länger. Dies zeigt, dass dem Schritt der Aushandlung möglicher gemeinsamer Ergebnisse viel zu wenig Stellenwert eingeräumt wurde. Dabei ist genau das die Phase, wo die Konfliktparteien den Ausgang des Verfahrens selbst beeinflussen können. Je mehr die Beteiligten sich in den Ergebnissen wiederfinden, desto eher sind sie bereit, sich daran zu halten. Im Grunde genommen hätte, nach der Fachdiskussion eine gleichwertige Phase folgen müssen, in der Gemeinsamkeiten gesucht und festgehalten und gegenseitige Zugeständnisse ausgehandelt werden. Durch die vorangegangene polarisierende Diskussion zweier Alternativen wurde die Chance vergeben, auf der Grundlage von klar definierten Interessen und Zielen neuartige Lösungswege zu erkunden und statt eines unbefriedigenden Kompromisses eine "dritte" Lösung bzw. Lösungspaket auf den Weg zu bringen, der für alle Seiten ein Gewinn darstellt. Das dies im speziellen Fall "Stuttgart 21" vielleicht nicht realisierbar war angesichts der langjährigen und teuren Planungsarbeiten, die bereits getätigt wurden, mag entschuldigend geltend gemacht werden. Für zukünftige Verfahren sollte dieser Punkt jedoch unbedingt berücksichtigt werden. 5. Der Rat des "Weisen"Heiner Geißler hat von sich gewiesen, der "heilige Geist" zu sein, der das Unmögliche möglich macht. Und doch hat er sich in eine Position gebracht, in der er wie ein "Weiser" die Lösung verkündet hat. Seine Weisheit sei ihm nicht abgesprochen, aber es ist zweifelhaft, ob das zu seinem demokratischen Anspruch passt. Der Spruch ist zwar nicht bindend, aber - da es keine Alternative gab - keine wirkliche Wahl. Es sei ihm zugute gehalten, dass er immer wieder versucht hat, die Sicht und die Fragen der Bevölkerung nachzuvollziehen und keine Seite zu bevorzugen. Ob ihm das bei seinem Schlichterspruch gelungen ist, sei dahingestellt. Jedenfalls läuft die Praxis eines Schlichterspruchs dem demokratischen Prinzip zuwider, außer er wird von den Beteiligten explizit gewünscht. Aber das war, wie schon bei Punkt 1 dargestellt, zu Anfang nicht von allen Seiten so vereinbart worden. 6. Fehlende Rückbindung an die BasisZwar gab es eine kurze Verhandlungsphase, aber es gab keine Möglichkeit für die SprecherInnen der Protestbewegung, sich mit ihrer Basis in irgendeiner Weise rückzukoppeln. Sie wurden sozusagen gezwungen, dem eigenen demokratischen Prinzip zuwider zu handeln. Dass dies zu Unmut in der Widerstandbewegung führt, ist verständlich. Letztendlich kann der Konflikt, statt befriedet worden zu sein, zu noch größerer Heftigkeit eskalieren. 7. Die Frage der Öffentlichkeit und VolksentscheidEin großes Anliegen von Heiner Geißler war die Transparenz und die Einbeziehung der Öffentlichkeit. Dies ist beim Verfahren der Mediation, die eine Alternative zur Schlichtung hätte sein können, nicht so vorgesehen. Im Gegenteil: Durch einen geschützten, vertraulichen Rahmen soll in einer Mediation ermöglicht werden, dass sich die GegnerInnen öffnen, ihr eigenes Verhalten reflektieren, Vertrauen zur anderen Seite fassen und von ihren Positionen zugunsten gemeinsamer Lösungen abrücken. Dies ist vor allem für die Verarbeitung schmerzlicher Gefühle und Beziehungsstörungen wichtig. Dieses Prinzip der Nichtöffentlichkeit kann sicherlich so nicht auf öffentliche Konflikte dieser Dimension angewendet werden. Das ist sicherlich auch ein Lernprozess, den die VertreterInnen von Mediation aus diesem Schlichtungsverfahren mitnehmen können. In der Phase der Information und Sachdiskussion ist es gerade wichtig, dass sich alle ein eigenes Bild machen können. Und das war gut so. Dass die kurze Phase der Verhandlungen nicht-öffentlich war, zeigt, dass selbst für Heiner Geißler bestimmte sensible Prozesse den vertraulichen Rahmen erfordern. Dies kann der Aushandlungsprozess sein und wäre wahrscheinlich auch für die Bearbeitung der Gefühls- und Beziehungsebene unabdingbar. Mehr Öffentlichkeit wäre dagegen vor der Verkündung des Schlichterspruches erforderlich gewesen: Da die Schlichtungs-TeilnehmerInnen ja nur als VertreterInnen größerer Interessensgruppen am Tisch saßen, hätten zumindest diese Gruppierungen gefragt werden müssen, was sie von dem Ergebnis halten und was verändert werden muss. Darüber hinaus müssten jedoch auch diejenigen BürgerInnen einbezogen werden, die sich nicht in einer dieser Gruppierungen engagieren. Ein Volksentscheid wäre eine, aber nicht unbedingt die beste Lösung: Er ist sinnvoll, wenn es keinen gemeinsamen Lösungsvorschlag gibt und über Alternativen entschieden werden muss. Ein gelungenes Mediationsverfahren schließt jedoch mit einer einvernehmlichen Übereinkunft ab, das - wenn es von der Basis der VerhandlungsführerInnen mitgetragen wird - die Kontroverse geklärt hat. Dieses Ergebnis könnte in einer Volksabstimmung nochmals bestätigt oder abgelehnt werden. Nur kann man sich in diesem Fall den Aufwand und die Ausgaben dafür schenken, weil ja keine größere Konfliktpartei mehr für eine andere Lösung plädiert. 8. Die Neutralität des ModeratorsHeiner Geißler hat mehrfach seine persönlich Bewertung von Fakten und Meinungen in das Verfahren eingebracht. Das war mitunter erheiternd und prozessbeschleunigend, widerspricht aber dem Auftrag einer unparteilichen Vermittlung. Dies sollte nicht als Maßstab für ähnliche Verfahren in der Zukunft angesehen werden. Fazit: Mediation statt SchlichtungFast alle der aufgeführten Punkte zeigen, dass es sich bei dem Stuttgarter Verfahren nicht um eine Mediation gehandelt hat, wie häufig gesagt oder geschrieben wurde. Es wäre allerdings hilfreich, wenn zukünftige Konfliktbearbeitungen tatsächlich ergebnisoffen und in Form einer Mediation (modifiziert für öffentliche Konflikte) stattfinden würden anstatt als Schlichtung! Die Chance, dass dadurch wirklich Frieden geschaffen wird, ist ungleich höher! Quelle: Werkstatt für Gewaltfreie Aktion, Baden Nähere Informationen: Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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