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Russland: Putins Diktatur des Gesetzes

Michail Chodorkowskis Unfreiheit ist die Unfreiheit der russischen Gesellschaft. Bestraft wird der Oligarch, weil er sich nicht dem Inhaber der Staatsgewalt unterwerfen will.

Von Karl Grobe

Schuldig, selbstverständlich. Ein Chodorkowski-Freispruch wäre geradezu systemwidrig gewesen angesichts der Ordnung, in der sich Russlands Justiz, Russlands Politik, Russlands Wirtschaft und Russlands Gesellschaft derzeit befinden.

Diese Ordnung lässt sich als "Diktatur des Gesetzes" definieren, vorausgesetzt allerdings, dass das Gesetz den Vornamen Wladimir hat und einen Zunamen führt, der mit P beginnt. Es war Wladimir Putin, der vor dem größtmöglichen Inlandspublikum Michail Chodorkowski für überführt im Sinn der Anklage erklärte, auf eine Bürgerfrage in seiner alljährlichen Fernseh-Fragestunde reagierend. Es war Putin, der lange vorher Anstoß an politischen und zudem recht demokratischen Äußerungen des damals, vor gut acht Jahren, noch nicht Angeklagten genommen hat. Zurückhaltung in Staatsdingen hatte er den Oligarchen - den neuen Schwerreichen - abverlangt; unter dieser Bedingung würde ihr Besitz nicht sehr angetastet werden.

Dies ist eine Unterwerfungsklausel. Sie setzt das Recht als eine Einrichtung, vor der alle Bürger gleich sind, außer Kraft. Und die Unterwerfung gilt nicht dem politisch-gesellschaftlichen Gebilde namens Staat, sondern dem Inhaber der Staatsgewalt. Gegen diese Klausel hat Chodorkowski bewusst verstoßen, solange er noch frei genug war, dies zu tun. Er übte Kritik am Präsidenten und an Institutionen. Er förderte Parteien - nicht nur die eine staatseigene - und zivilgesellschaftliche Stiftungen. Das war Ungebühr gegenüber der "Machtvertikale", der Zentralisierung der Gewalten auf eine Person.

Die Logik der Machtvertikale wiederum erforderte, eine "Justizvertikale" zu schaffen, die Ausrichtung der Justiz auf die Interessen des vertikalen Staats. Putin musste, seiner eigenen Logik folgend, auch das Gesetz sein. In diesem Sinn ist Chodorkowski unbezweifelbar schuldig. Folglich ist der Appell an die Gerechtigkeit unnütz; die Justiz hat zu gehorchen. In der Urteilsbegründung, die zu verlesen dem Richter Viktor Danilkin einige lange Arbeitstage abverlangen wird, dürfte dieser Aspekt kaum vorkommen. Das Urteil hat eine Konstruktion von Tatbeständen zu bewerten, die deftige Züge des Willkürlichen und des Absurden enthält. Und es muss eine deutliche Warnung an jegliche Oligarchen enthalten, die versucht sein könnten, den Zügel der politischen Enthaltsamkeit zu lockern. Es geht nicht nur um Chodorkowski, sondern vor allem um den justizförmigen Rahmen, in dem wirtschaftliche Tätigkeit in Putins Russland möglich und sicher - nicht im westlichen Sinne rechtssicher - ist.

Freilich ist Chodorkowski kein weißer Rabe unter der schwarzen Schar der Privatisierungsgewinnler. Die Mittel, mit denen er zum Öl-Oligarchen aufstieg, waren so wenig lauter und unschuldig wie die, welche die heute noch genehmen Superreichen eingesetzt haben. Es waren die Mittel eines Raubkapitalismus, mit denen eine Schar smarter, mehr oder weniger gewissenloser Geschäftsleute dem russischen Volk den gesellschaftlichen Reichtum raubten. Bankgründungen, Erwerb unversehens nahezu wertlos gewordener Anteilscheine der staatlich-sowjetischen Industriemonopole, erfolgreiche Spekulation auf den Zusammenbruch der alten Rubelwährung, fallweise Ausschießen von Einflussbereichen, Bandenkämpfe, aber auch ziviles Horten aller möglichen Bedarfsartikel bis zur Preissteigerung ins Astronomische: Die Liste lässt sich lang fortsetzen. Sie enthält das Instrumentarium der von Marx so genannten ursprünglichen Akkumulation des Kapitals durch eine neue Klasse.

Die Voraussetzung für das Entstehen jener als "Neue Russen" bezeichneten Reichen und Superreichen ist die Verelendung der Mehrheit. Spätere Besserung ist weniger der Einsicht der oligarchischen Besitzer geschuldet als dem Anstieg der Rohstoffpreise nach dem Jelzin’schen Jahrzehnt der frühkapitalistischen Flegeljahre.

Das war, wie gesagt, kein Thema in den Chodorkowski-Prozessen. Vielmehr wurde über die Läuterung des Michail Chodorkowski zum Staatsbürger gerichtet. Die neue Klasse legt auf diese Weise demokratischen und zivilgesellschaftlichen Bestrebungen die alten Fesseln noch einmal an. Rechtsstaat und Demokratie? Das zu erreichen bedarf einer neuen Umwälzung der Verhältnisse. Chodorkowskis Unfreiheit ist die Unfreiheit der russischen Gesellschaft. Die rührend zahme Schelte des Präsidenten Dmitri Medwedew an Putins Eingriff ins schwebende Verfahren nützt nicht einmal zur Korrektur der Fassade.

Quelle: Frankfurter Rundschau vom 27.12.2010. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Karl Grobe.

Veröffentlicht am

28. Dezember 2010

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