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Lernen von Fukushima - Was bedeutet das konkret für uns?

Von Mohssen Massarrat

Trotz der offensichtlichen Gefahr von Kernschmelzen in mehreren Reaktoren in Fukushima, trotz des Eintretens des Unwahrscheinlichen zum dritten Mal nach Harrisburg (Three Mile Island) 1979 und Tschernobyl 1986 propagieren die Atom-FundamentalistInnen tollkühn weiterhin die "friedliche" Nutzung der Atomenergie. In Frankreich, China, Russland und Osteuropa findet sich von einem Nachdenken keine Spur. Länder wie Vietnam und die Türkei halten ihre Pläne zum Bau von AKWs für alternativlos und glauben, das "Restrisiko" in Kauf nehmen zu müssen.

Ziehen wir aber in Deutschland die richtigen Schlüsse, obwohl hier die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung die Atomkraft ablehnt? Müsste nicht die rot-grüne Opposition in Deutschland gerade jetzt in die politische Offensive gehen und weit über ihren Atomkonsens hinaus einen sofortigen und politisch kommunizierbaren Ausstiegsplan in die Debatte werfen und zusammen mit den sozialen Bewegungen eine breite gesellschaftliche Diskussion für den sofortigen Ausstieg in Gang setzen?

Betrachten wir jedoch die Debatte im deutschen Bundestag anlässlich der Regierungserklärung zur Atomkatastrophe in Japan, so müssen wir feststellen, dass die Opposition und erst recht die Regierungsparteien keine Perspektiven aufzeigten, die der Tragweite der Katastrophe in Fukushima angemessen wären.

Während die "Antiatomparteien", manchmal sogar bis an die Grenze der Sprachlosigkeit, äußerst defensiv auftraten und sich darauf beschränkten, lediglich die Rückkehr zum rot-grünen Atomkonsens zu fordern, gelang es bei genauerem Hinsehen den regierenden Atomparteien durchaus erfolgreich, ihren Pro-Atomdiskurs unerschütterlich zu verteidigen.

Die Forderung der rot-grünen Opposition zur Rücknahme der AKW-Laufzeitverlängerung zielte im Kern darauf ab, die Bundesregierung vorzuführen. Sigmar Gabriel und Jürgen Trittin haben mit dieser Taktik die anfänglich bröckelnden Reihen innerhalb der Regierungsparteien eher zusammen geschweißt. Dem an und für sich zutreffenden Argument der Regierungsparteien, auch Rot-Grün hätte mit seinem Atomkonsens den Weiterbetrieb von AKWs für viele Jahre nicht in Frage gestellt und damit der Atomindustrie einen  "Sicherheitsrabatt" gewährt, konnte die Opposition nichts entgegensetzen. Angela Merkel, Norbert Röttgen, Volker Kauder - die Hauptprotagonisten der Regierungsposition in der Bundestagsdebatte - fühlten sich gar ermutigt, die rot-grüne Opposition der Blockadepolitik für den Ausbau der erneuerbaren Technologien zu bezichtigen und sich als Vorreiter für die Durchsetzung dieser Technologien hinzustellen. Die Kritik, das Moratorium der Bundesregierung sei bloße Wahlkampftaktik, griff zu kurz, weil man es versäumte, die hinter dem Moratorium steckende Sicherheitsphilosophie, die Atomkraft sei grundsätzlich beherrschbar, überzeugend zu entlarven.

"Brückentechnologie"

Die grundsätzliche Argumentationsschwäche von Rot-Grün betrifft auch Merkels "Brückentechnologie", jenen Schlüsselbegriff, mit dem die Bundeskanzlerin nicht nur im Diskurs um die Zukunft der Atomkraftwerke propagandistisch die Oberhand behält, sondern auch ihren gesamten Pro-Atomkurs zu legitimieren versucht. Sigmar Gabriels grundsätzlich richtige Feststellung, in Fukushima habe das Ende des Atomzeitalters begonnen, ist keine angemessene politische Antwort auf die Merkelsche "Brückentechnologie".

Statt mit einer eigenen, nicht nuklearen, gleichzeitig aber realistischen Brückentechnologie aufzuwarten, ruht sich die rotgrüne Opposition auf ihrem angesichts von Fukushima überholten Atomkonsens aus.

Auch lässt sie die nur scheinbar bestechend logische Rechtfertigung der Kanzlerin, "ich möchte nicht in die Situation kommen, deutsche AKWs stillzulegen, um dann Atomstrom aus weniger sicheren AKWs importieren zu müssen", im Raum stehen.

Nicht weniger defensiv als Sigmar Gabriel und Jürgen Trittin für Rot-Grün agierte auch Gregor Gysi für die Linkspartei mit seinem Vorschlag einer sofortigen Stilllegung aller Atomkraftwerke in Deutschland. So richtig es ist, nicht nur die Atomkraft-Technik, sondern die gesamte Atomindustrie abzulehnen und für eine Welt ohne Atomwaffen und ohne Atomkraft einzutreten, wie Gysi es in der aktuellen Bundestagsdebatte getan hat, so wirkungslos und daher auch unpolitisch bleiben solche in die richtige Richtung weisenden Vorschläge, wenn sie gleichzeitig den Menschen nicht glaubhaft machen können, wie ganz konkret und heute die Stilllegung von AKWs aus dem Gesamtsystem der Energieversorgung einer hoch technisierten und energieintensiven Volkswirtschaft, wie der deutschen, wenn nicht heute, so doch aber morgen realisiert werden kann. Mit ihrer scheinradikalen Position "weg mit…" manövriert sich die Linkspartei selbst in die Lage, nicht ernst genommen zu werden.

Nur durch eine überzeugende, nicht atomare Brückentechnologie können Merkels atomare "Brückentechnologie" entzaubert und das politische Lager der AtomprotagonistInnen in Deutschland in die Enge getrieben werden. Und eine solche muss nicht erst erfunden werden, es gibt sie bereits seit langem: die Blockheizkraft-Technik.

Durch den flächendeckenden Einsatz von Blockheizkraftwerken (BHKW) könnten alle deutschen AKWs innerhalb von drei Jahren abgeschaltet werden.

BHKWs (auch als Kraftwärmekopplung bekannt) sind im Prinzip Kraftwerke mit deutlich höherem Wirkungsgrad. Diese Technologie ermöglicht die Umwandlung der Energieverluste, die bei konventionellen Kraftwerken entstehen, in Wärme. Sie liefert also auf der Basis von Öl oder Gas Wärme und Strom. Um die produzierte Wärme ökonomisch rentabel zu nutzen, müssen BHKWs in unmittelbarer Nähe, am besten direkt beim Wärmeverbraucher, installiert werden. Dieser ökonomische "Sachzwang" macht BHKW-Technik auch zu einem Schlüsselprojekt dezentraler Wärme- und Stromversorgung, in diesem Sinne ist sie durchaus vergleichbar mit Solarzellen auf dem Dach.

Deshalb wird sie auch von den Stromkonzernen, wie E.ON, Vattenfall, RWE etc., systematisch ignoriert. Tatsächlich gibt es die BHKW-Technik in allen Leistungsvariationen von 1 - 2 kW als Mini-Kraftwerke für 4-Personen-Haushalte bis zu 150 MW Einheiten für die Strom und Wärmeproduktion innerhalb von Ballungszentren. Die Kapazität einer Einheit BHKW orientiert sich entweder an maximalem Wärme- oder an maximalem Strombedarf der VerbraucherInnen. Im ersteren Fall wird bei sinkendem Wärmebedarf (bei Haushalten z. B. im Sommer) die Produktion von überschüssigem Strom unausweichlich. Die Rentabilität von BHKW-Technik steigt in diesem Fall jedoch drastisch, wenn der dezentral erzeugte überschüssige Strom flexibel und zentral ferngesteuert abgerufen und in das allgemeine Stromnetz eingespeist werden kann. Doch auch die Logistik dafür gibt es bereits und sie wird z.B. vom "Zuhause-Kraftwerk" Lichtblick in Hamburg erfolgreich eingesetzt.

Die BHKW-Technik ist somit in zweifacher Hinsicht eine Brückentechnologie und dazu ein technisch-strategischer Hebel zum Einstieg in das Zeitalter dezentraler und demokratisch kontrollierter Energieversorgung: Sie ist erstens zur Überbrückung bis zum vollständigen Ausbau der erneuerbaren Energietechnologien eindeutig die bessere Brückentechnologie gegenüber den fossil-konventionellen Großkraftwerken, die von den Großkonzernen favorisiert werden (vgl. z.B. Szenarien in der Frankfurter Rundschau vom 19./20. März 2011), weil sie angesichts ihres höheren Wirkungsgrades deutlich weniger CO2  produziert und somit den Klimaschutzzielen nicht zuwiderläuft. Und sie ist zweitens auch eindeutig die wirksamste Technik, um alle Atomkraftwerke in kürzester Zeit von ca. 3 Jahren zu ersetzen und sie vollständig abzuschalten.

Die 17 deutschen AKWs haben eine Gesamtkapazität von 20.000 MW. Die 7 ältesten AKWs, die die Bundesregierung für 3 Monate vom Netz nimmt, können auf Dauer stillgelegt werden, da ihre Abschaltung - wie wir in den folgenden Monaten erleben werden - wegen der ohnehin überschüssigen Kraftwerkskapazität in Deutschland keine Versorgungsengpässe hervorrufen wird. Es verbleiben 10 weitere AKWs mit ca. 12.000 MW-Kapazität.  Diese atomare Rest-Kapazität könnte rein technologisch wie folgt durch den Einsatz von BHKWs flexibel in verschiedenen Dimensionen und in verschiedenen Sektoren substituiert werden: 1.400 MW durch Mini-BHKWs mit einer Leistung von 1,4 kW in 1 Million 4-Personen-Haushalten; 2.000 MW durch den Einsatz von 10 kW Einheiten in 200.000 Mehrfamilienhäusern; 5.000 MW durch 100 kW Einheiten in 50.000 (vor allem mittelständischen) Industriebetrieben, Krankenhäusern etc. und schließlich 3.600 MW durch den Neubau von 600 dezentralen BHKW-Einheiten mit einer Leistung von 60 MW zur Erzeugung von Strom und Wärme in den Ballungszentren im Umkreis von abgeschalteten AKWs.

Zur beschleunigten Umsetzung dieses Projektes bedarf es freilich der gemeinsamen Anstrengung des Bundes, der Länder und Kommunen sowie eines staatlichen Anreizprogramms.

Selbst bei einer großzügig bemessenen Summe von 15 Milliarden Euro (reinem Zuschuss) und dem ökonomischen Verlust durch die Verschrottung der AKWs wäre dieser Weg für eine reiche Volkswirtschaft wie die deutsche nicht nur materiell verkraftbar. Die ökonomischen und gesellschaftlichen Vorteile, wie die Vermeidung von Risiken für die Gesundheit der Bevölkerung und die Folgekosten im Falle eines atomaren Gaus in dreistelliger Milliardenhöhe, die Forcierung des dezentralen Zeitalters der Energieversorgung, die Schaffung von Zehntausenden neuer Arbeitsplätze bei der BHKW-Produktion und -Logistik, alle diese Faktoren schlagen langfristig, manche von ihnen sogar sofort, positiv zu Buche. Erforderlich ist für dieses Projekt allerdings der politische Wille, der bisher noch fehlt.

Also nur zu, Frau Bundeskanzlerin, wenn die Sicherheit der Bevölkerung für Sie wirklich oberste Priorität hat und wenn Sie nicht als Kanzlerin der Atom- und Finanzbarone in die Geschichte eingehen wollen; nur zu, Herr Gabriel und Herr Trittin, wenn Sie die historische Chance nicht verpassen wollen, um - über den ohnehin halbherzigen rot-grünen "Atomkonsens" hinaus - konsequent und schnell den Atomausstieg voranzutreiben; nur zu Herr Gysi, wenn Sie es mit der Dezentralisierung der Energieversorgung und Entmachtung der Großkonzerne ernst meinen und den Vorwurf, die Linkspartei sei eine Neinsager-Partei, widerlegen wollen.

Mohssen Massarrat, 21.3.2011

Mohssen Massarrat (* 1942 in Teheran) ist emeritierter Professor für Politik und Wirtschaft am Fachbereich Sozialwissenschaften der Uni Osnabrück mit den Forschungsschwerpunkten Mittlerer und Naher Osten, Energie, Friedens- und Konfliktforschung, sowie Nord-Süd-Konflikt.

Quelle: graswurzelrevolution 358 april 2011.

Veröffentlicht am

05. April 2011

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