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Fukushima: “Tickende Zeitbombe”

Ein Interview mit dem Atomphysiker Dr. Michio Kaku

Von Amy Goodman, 13.04.2011 - Democracy Now!

Die japanische Regierung versucht zu beruhigen, was die Strahlung und die Sicherheit der Lebensmittel rund um die schwer beschädigte Atomanlage Fukushima Daiichi angeht. Gleichzeitig hat sie den Störfall jetzt auf 7 heraufgestuft. Stufe 7 ist die höchste Kategorie bei einer zivilen Atomkatastrophe. "Nach wie vor entweicht Radioaktivität aus den Reaktoren. Die Situation ist alles andere als stabil", so Dr. Michio Kaku, Professor für physikalische Grundlagenforschung an der City University of New York und am City College von New York. "Die geringste Störung in drei der Reaktoren kann zu einer kompletten Kernschmelze führen, was ein weit schlimmeres Szenario wäre als das, was wir in Tschernobyl gesehen haben", so Kaku.

Unser Gast: Dr. Michio Kaku - japanisch-amerikanischer Physiker und Bestseller-Autor. Er ist Professor für Theoretische Physik am City College von New York. Sein neues Buch heißt: ‘Physics of the Future: How Science Will Change Daily Life by 2100’.

Amy Goodman: Japans Premierminister Naoto Kan versuchte am Donnerstag zu beruhigen, was die Höhe der Strahlung und die Sicherheit der Lebensmittel rund um die schwer beschädigte Atomanlage Fukushima angeht. Kurz darauf stufte Japan den nuklearen Störfall in die höchste Kategorie ein. Das lässt noch Schlimmeres befürchten, was die Schwere des Unfalls angeht.

Auf einer Pressekonferenz - einen Monat nach dem schweren Erdbeben und dem Tsunami, der die nordöstliche Küste Japans verwüstet hat -, sagte Premierminister Kan, dass Produkte aus der Region um die Atomanlage Fukushima, trotz des radioaktiven Lecks, bedenkenlos konsumiert werden könnten.

(Einspielung)

Premierminister Naoto Kan (übersetzt): Die Leute sollten von nun an in keine Haltung der extremen Zurückhaltung mehr verfallen, sondern normal weiterleben. Zudem ist der Konsum von Gütern aus den betroffenen Gebieten eine Möglichkeit, die Region zu unterstützen. Wir sollten diese Produkte mit Freude konsumieren und die betroffenen Gebiete unterstützen. Ich bitte Sie darum. (Ende)

Amy Goodman: Denis Flory, Sprecher der ‘Internationalen Atomenergieaufsichtsbehörde’ (IAEA) sagte, die jüngsten Untersuchungsergebnisse von Lebensmittelproben deuteten darauf hin, dass die Belastung unterhalb der von den japanischen Behörden festgelegten Grenzwerten liege. Denis Flory sagte gestern zudem, der atomare Störfall in Japan sei nicht mit Tschernobyl damals zu vergleichen:

(Einspielung)

Denis Flory: Dieser Unfall ist völlig anders abgelaufen. In dem einen Fall (Tschernobyl) lief der Reaktor auf Hochtouren, und der Schutzmantel explodierte. In Fukushima hingegen war der Reaktor abgeschaltet, und der Schutzmantel ist noch vorhanden - selbst wenn er derzeit lecken sollte, was wir aber nicht wissen. Es handelt sich also um einen völlig anderen Unfall. (Ende)

Amy Goodman: Japanische Offizielle begründen die höhere Einstufung (von Stufe 5 auf Stufe 7) mit der insgesamt freigesetzten Strahlung aus Fukushima Daiichi. Die Situation habe sich jedoch nicht verschärft. Die Atomkatastrophe 1986 in Tschernobyl ist der einzige nukleare Störfall, der je die Stufe 7 erreicht hat. Die Skala wurde von der IAEA entwickelt, um nukleare Störfälle besser einordnen zu können. Bislang bestehen die Offiziellen darauf: Aus der japanischen Atomanlage seien lediglich ein Zehntel der Radioaktivität ausgetreten wie damals in Tschernobyl.

Bei uns ist nun Dr. Michio Kaku (…), um über die Situation in Japan zu sprechen - und über sein neues Buch (‘Physics and Future: How Science Will Change Daily Life by 2100’). Willkommen bei ‘Democracy Now!’ Schön, Sie wiederzusehen.

Dr. Michio Kaku: Ich freue mich, in Ihrer Sendung zu sein, Amy.

Amy Goodman: Was sagen Sie dazu, dass der Katastrophenalarm auf 7 erhöht wurde - wie in Tschernobyl damals?

Dr. Michio Kaku: Nun, ‘Tokyo Electric’ (TEPCO) hat lange Zeit geleugnet und versucht, das wahre Ausmaß dieses atomaren Unfalls herunterzuspielen. Doch es gibt eine Formel - eine mathematische Formel - mit deren Hilfe Störfälle eingeordnet werden können. Bei dem Unfall hier wurden bereits circa 50.000 Billionen Bequerel freigesetzt. Sie können sich ausrechnen, dass das ausreicht für Stufe 7. Es ist weniger als damals in Tschernobyl. Doch aus den Reaktoren (in Fukushima) strömt weiterhin radioaktives Material. Die Situation ist alles andere als stabil. Sie sehen also, es ist eine tickende Zeitbombe. Sie wirkt stabil, doch die kleinste Störung - ein neues Erdbeben, ein Rohrbruch oder die Evakuierung der (Arbeits-)Crew aus Fukushima - könnte in allen drei Reaktoren zu einer totalen Kernschmelze führen. Das wäre weit schlimmer als das, was wir in Tschernobyl gesehen haben.

Amy Goodman: Reden wir Tacheles. Sie sind Physiker. Erklären Sie den Menschen bitte, was in diesen japanischen Atomreaktoren genau vor sich geht.

Dr. Michio Kaku: Stellen Sie sich ein fahrendes Auto vor, das plötzlich außer Kontrolle gerät. Sie treten auf die Bremsen. Sie funktionieren nicht. (Das Erdbeben hat die Sicherheitssysteme gleich zu Beginn der Erdstöße und des Tsunamis lahmgelegt.) Ihr Kühler überhitzt und explodiert. Das waren die Wasserstoffexplosionen. Zu allem Übel erhitzt sich auch noch der Benzintank, und plötzlich steht Ihr Fahrzeug in Flammen. Das war die Kernschmelze.

Was tun Sie? Sie fahren Ihr Auto in einen Fluss. Die Verantwortlichen kippten Meerwasser aus dem Pazifik auf die Reaktoren. Dies war der verzweifelte Versuch, die Brennstäbe unter Wasser zu halten. Doch Meerwasser enthält Salz. Das Salz verklebte die Kühlsysteme. Was tun? Sie rufen die örtliche Feuerwehr zu Hilfe. Im Falle Fukushima wurden Samurai-Feuerwehrleute losgeschickt, die wussten, dass es sich um eine potentielle Selbstmordmission handelte. Sie kamen mit Schläuchen - mit Wasserschläuchen - und versuchten, die schmelzenden nuklearen Brennstäbe in den Reaktoren mit Wasser zu kühlen. Das ist die Situation, die wir heute sehen. Wenn die Zuständigen also sagen, die Situation sei stabil, so heißt das nur, dass wir uns mit den Fingernägeln an einer Klippe festkrallen und mit den Beinen über dem Abgrund zappeln. Ein Fingernagel nach dem andern bricht ab - im Minutentakt. Das ist unsere aktuelle Lage.

Amy Goodman: Was ist mit den Lebensmitteln? Wie verstrahlt sind die? Immer mehr Lebensmittel dürfen nicht mehr exportiert werden.

Dr. Michio Kaku: Tragischerweise hat der Unfall enorme Mengen an radioaktivem Jod 131 freigesetzt. Das war auch in Tschernobyl der Fall. In Fukushima wurden circa 10% davon freigesetzt, verglichen mit Tschernobyl. Jod ist wasserlöslich. Wenn es regnet, gelangt es in den Boden. Kühe grasen, und so gelangt das verseuchte Jod auch in die Milch. Die Bauern schütten die Milch derzeit schon auf dem Hof weg. Sie ist zu radioaktiv. Die Lebensmittel in diesem Gebiet müssten beschlagnahmt werden.

Seien Sie ehrlich: Würden Sie Lebensmittel kaufen, auf denen steht: ‘Made in Tschernobyl’? Ebenso fragen sich die Japaner: "Soll ich Lebensmittel ‘made in Fukushima’ kaufen?" Es geht um den Zusammenbruch der regionalen Wirtschaft. Die Regierung versucht, die Zahlen und den Ernst der Lage herunterzuspielen, doch das macht den Unfall nur noch schlimmer. Es macht alles nur noch schlimmer.

Amy Goodman: Was sollte - Ihrer Meinung nach - im Augenblick geschehen? Eines der größten Probleme ist ja die Heimlichtuerei des Tokioter Betreibers der Anlage (TEPCO), aber auch die Geheimniskrämerei der Regierung. Von Anfang an wurde alles heruntergespielt. So viele Menschen wurden evakuiert. Die Leute verlangen Kompensation. Gerade erst haben Menschen aus der betroffenen Region vor (dem Gebäude von) TEPCO demonstriert. Sie haben keine Jobs und kein Geld mehr. Sie sagen sich: "Wir wollen Entschädigung!"

Dr. Michio Kaku: Nun, TEPCO verhält sich wie jener kleine holländische Junge, der einen Finger in ein Loch im Deich steckt, als dort plötzlich Risse auftauchen. Du steckst deinen Finger hier rein und dort rein. Doch plötzlich sind es so viele Löcher, dass du überfordert bist.

Ich schlage vor, dass sie (TEPCO) die Leitung abgeben sollen - komplett - und nur noch eine beratende Funktion bekommen. Ein internationales Team aus Top-Physikern und -Ingenieuren sollte die Sache in die Hand nehmen. Sie sollten die Genehmigung erhalten, das japanische Militär hinzuzuziehen. Ich denke, das japanische Militär ist die einzige Organisation, die diesen rasenden Störfall unter Kontrolle bringen kann.

1986 (bei Tschernobyl) hat Gorbatschow auch so gehandelt. Er sah den brennenden Atomreaktor in Tschernobyl und alarmierte die ‘Rote Luftwaffe’. Er schickte Helikopter, Panzer und gepanzerte Personentransporter. Die beerdigten den Reaktor von Tschernobyl unter 5000 Tonnen Zement, Sand und Bohrsäure. Natürlich ist das der letzte Ausweg. Auf alle Fälle sollte das japanische Militär ausrücken.

Amy Goodman: Und was sollen die machen?

Dr. Michio Kaku: Aufgrund der enorm hohen Strahlung können Arbeiter nur 10 bis 15 Minuten (im Innern der Atomanlage) arbeiten. Dann haben sie schon die jährliche Strahlendosis. Wer sich eine Stunde lang in der Anlage aufhält, bekommt die Strahlenkrankheit. Das heißt, sie erbrechen. Ihre weißen Blutkörperchen gehen zurück. Ihre Haare fallen aus. Sollten sie sich einen ganzen Tag lang dort aufhalten, werden sie tödlich verstrahlt. Damals, bei Tschernobyl, wurden 6000 Menschen mobilisiert. Jeder ging nur ein paar Minuten hinein. Sie brachten Sand, Beton und Borsäure in die Anlage. Sie wurden alle mit Orden ausgezeichnet. Was sie taten war notwendig, um einen außer Kontrolle geratenen atomaren Störfall unter Kontrolle zu bringen. Ich denke, im vorliegenden Fall sind die Zuständigen einfach überfordert und unfähig.

Amy Goodman: Doch die Arbeiter (in Fukushima) bleiben viel länger im Innern.

Dr. Michio Kaku: Stimmt. Wir wissen nicht einmal, welcher Strahlung sie ausgesetzt sind, weil es in vielen Bereichen rund um die Anlage keine Monitoren gibt. Wir wissen also nicht einmal, wie viel Strahlung viele dieser Arbeiter abbekommen. Daher sage ich: Wenn ihr über das Militär verfügen würdet, könntet ihr den Reaktor mit Sand zuschütten und in Beton eingießen. Zumindest hätte man ein paar Soldaten in der Hinterhand, die für sehr kurze Zeit hineingehen könnten, um dieses Monstrum unter Kontrolle zu bekommen.

Amy Goodman: Was ist mit der Evakuierungszone? Ist sie ausreichend?

Dr. Michio Kaku: Sie ist lächerlich. Die US-Regierung hat für ihr Personal eine Evakuierungszone von 50 Meilen (circa 75km) vorgeschrieben. Die französische Regierung hat alle Franzosen in der Region aufgefordert, die Inseln zu verlassen. Und die (japanische) Regierung spricht von 10 bis 12 Meilen. Die Menschen dort fragen sich: "Was mit der Regierung los? Warum sagen sie uns nicht die Wahrheit?" Auch außerhalb der 25-Meilen-Zone steigt die Radioaktivität mittlerweile - weit über die evakuierte Zone hinaus. Denken Sie daran: Die Leukämierate wird steigen und die Rate an Schilddrüsenkrebs. Diese Folgen sind unausweichlich, wenn radioaktives Jod in so großen Mengen in die Umwelt gelangt.

Amy Goodman: Was muss längerfristig mit der Anlage geschehen?

Dr. Michio Kaku: Nun, laut des bestmöglichen Szenarios (der Betreiber) wird die Anlage gegen Ende des Jahres wieder unter Kontrolle sein. Das hoffen sie. Gegen Ende des Jahres, so ihre Hoffnung, werden sie die Pumpen wieder in Gang gebracht haben. Gegen Ende des Jahres sollen die Abläufe endgültig wieder (unter Kontrolle und) stabilisiert sein.

Amy Goodman: Seltsam. Das erinnert mich ein wenig an BP - wie damals versucht wurde, die explodierte Bohrinsel/Ölquelle ‘Deepwater Horizon’ im Golf von Mexiko 2010 zuzuschütten:

Dr. Michio Kaku: Stimmt.

Amy Goodman: "Es wird klappen. Es wird klappen".

Dr. Michio Kaku: Es geht hier buchstäblich um learning by doing. Wir bewegen uns auf völlig unbekanntem Terrain. Nehmen Sie irgendein technisches Lehrbuch über Kernenergie zur Hand und blättern Sie es bis zum letzten Kapitel durch. Nirgends werden Sie etwas über so ein Szenario finden - in keinem Buch auf diesem Planeten. Also heißt es, learning by doing, und wir sind die Versuchstiere bei diesem wissenschaftlichen Experiment. Es könnte bis zu 10 Jahre dauern - 10 Jahre - bis der Reaktor endlich abgerissen ist. Die letzte Phase wird dann der Sarkophag sein. Die offizielle Empfehlung (des Herstellers) Toshiba lautet heute, den Reaktor unter einem Sarkophag zu begraben - sehr, sehr viele Jahre lang - so ähnlich wie damals die Anlage in Tschernobyl.

Amy Goodman: Begraben in…?

Dr. Michio Kaku: … in einem gigantischen Betongrab. Dazu muss man auch UNTER der Atomanlage bohren - um sicherzustellen, dass sich die Kernschmelze nicht durch die Erde frisst. Auf den glühenden Reaktor werden 5000 Tonnen Beton und Sand gekippt.

Amy Goodman: Sollten sich die Leute Sorgen machen, wenn sie sehen, dass ein bestimmtes Lebensmittel "aus Japan" kommen?

Dr. Michio Kaku: Das gilt nicht für Japan allgemein. Doch bedenken Sie: Was die betroffene Region und das Meer angeht, sind die erlaubten Grenzwerte in manchen Fällen um das Millionenfache überschritten. Diese Werte wurden dort direkt gemessen. Etwas weiter entfernt gehen sie allerdings relativ rasch wieder zurück.

Amy Goodman: Ich möchte noch über die amerikanische Politik sprechen. Wir erleben dieses schreckliche Unglück in Japan. Als das Atomzeitalter begann, war Japan das erste Ziel, stimmt’s?

Dr. Michio Kaku: Mm-hmm.

Amy Goodman: Die USA warfen die (ersten) Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki. Ihre eigene Familiengeschichte spiegelt die Geschichte jener Zeit des anbrechenden Atomzeitalters wider. Können Sie kurz etwas dazu sagen, bevor wir auf die US-Politik zu sprechen komme?

Dr. Michio Kaku: Ja. Zunächst einmal habe ich Verwandte in Tokio. Sie denken über Evakuierung nach. Andere sind bereits aus Tokio weggegangen. Sie haben kleine Kinder. Im Trinkwasser von Tokio wurde bereits Radioaktivität nachgewiesen. Die Leute fragen sich verunsichert, ob sie weggehen sollen, vor allem, wenn sie kleine Kinder haben oder Schwangere. Die Leute stimmen zur Zeit mit den Füßen ab. Viele Leute ziehen freiwillig aus Tokio weg. Sie glauben den Erklärungen der zuständigen Stellen nicht mehr. Diese haben die Schwere des radioaktiven Unfalls die ganze Zeit über verharmlost.

Amy Goodman: Was die Vergangenheit und Ihre Familiengeschichte angeht: Ihre Eltern waren doch in einem Internierungslager für japanische Amerikaner (während des Zweiten Weltkrieges)?

Dr. Michio Kaku: Stimmt. Von 1942 bis 1946 waren sie in kalifornischen Umsiedlungslagern (für japanisch stämmige Amerikaner, die, seit Beginn der Kriegshandlungen zwischen den USA und Japan, unter Generalverdacht standen - Anmerkung d. Übersetzerin). Vier Jahre mussten sie praktisch hinter Stacheldraht verbringen und wurden mit Maschinengewehren bewacht. Sie standen unter Aufsicht des US-Militärs.

Amy Goodman: Dennoch sind Sie Atomphysiker geworden. Sie haben mit Leuten zusammengearbeitet, die jene Atombomben entwickelt haben, die über Japan abgeworfen wurden.

Dr. Michio Kaku: Ja. Edward Teller, der Vater der Wasserstoffbombe, war im Grunde mein Berater an der Highschool. Er hat mich für ein Harvard-Stipendium vorgeschlagen. Damit begann im Grunde meine Karriere als Atomwissenschaftler. Natürlich wollte Edward Teller, dass ich am Starwars-Programm mitarbeite. Er hat mich massiv unter Druck gesetzt und gesagt: "Schau - wir haben dir einen Studienplatz, ein Stipendium, verschafft. Geh’ an das Nationale Laboratorium in Los Alamos (oder) an das Nationale Laboratorium in Livermore und entwickle Wasserstoffbomben." Doch ich habe abgelehnt und gesagt: "Ich will nicht, dass mein Wissen für (einen) Krieg genutzt wird."

Amy Goodman: Was Ihre Meinung zur Kernenergie in den USA angeht, so haben Sie kein Blatt vor den Mund genommen. Was jetzt geschieht, hat natürlich großen Einfluss auf die Diskussion über die Atomkraft - weltweit. Viele Länder erklären heute, dass sie die Kernkraft nicht weiter vorantreiben wollen. Präsident Obama hingegen ist ganz anderer Meinung. Er will der Atomenergie zu einer Renaissance verhelfen. Er spricht von einer Renaissance der Kernkraft. Er lässt sich auch jetzt nicht abschrecken. Er hat das Thema erneut angesprochen. Er sagte, dieser Vorfall wird uns nicht davon abhalten, nach Jahrzehnten zum ersten Mal neue Kernkraftwerke zu bauen.

Dr. Michio Kaku: Nun, es gibt den Faust’schen Pakt. In der Literatur (Goethes ‘Faust’) hat Faust seine Seele an den Teufel verkauft, um grenzenlose Macht zu erlangen. Die japanische Regierung hat sich auf einen solchen Teufelspakt eingelassen. Japan verfügt über wenig fossile Energien. Auch die Wasserkraft spielt keine große Rolle. Sie haben auf Kernkraft gesetzt. In den USA stehen wir an einer Wegscheide, an einer historischen Wegscheide. Die US-Regierung muss sich entscheiden, ob sie die neue Reaktorengeneration einführen will. Es handelt sich um so genannte gasgekühlte Reaktoren, die in einem Kiesbett stehen sollen. Sie sind sicherer als die bisherigen. Doch auch bei diesen Reaktoren kann es zu einer Kernschmelze kommen. Die Befürworter dieser Renaissance behaupten, selbst während einer Kernschmelze könne man beruhigt Abendessen gehen und sich entspannt unterhalten. Doch das Risiko der Kernschmelze bleibt. Darüber sind sich alle einig.

Amy Goodman: Was sollte, Ihrer Meinung nach, geschehen? Sind Sie dafür, dass in Amerika neue Kernkraftwerke gebaut werden?

Dr. Michiko Kaku: Ich denke, es sollte eine nationale Debatte über ein Moratorium geben. Die Amerikaner kennen nicht die ganze Wahrheit. Zum Beispiel liegt rund 30 Meilen nördlich von New York, nördlich von dem Ort, an dem wir uns jetzt befinden, das Kernkraftwerk ‘Indian Point’. Die NRC (Atomaufsicht der USA) hat erst vor kurzem zugegeben, dass dieses Atomkraftwerk, von allen erdbebengefährdeten Reaktoren im Land, das gefährdetste ist. Es ist die Nummer 1 auf ihrer Liste. Dabei liegt es gleich neben New York. Die US-Regierung hat 1980 selbst zugegeben, dass die Schäden bei einem Unfall bei rund $200 Milliarden betragen würden - im Falle eines Unfalls im Kernkraftwerk ‘Indian Point’.

Amy Goodman: Kein Privatunternehmen darf ein Kernkraftwerk auch nur bauen - ohne die finanzielle Zustimmung der Steuerzahler/innen.

Dr. Michio Kaku: Es gibt das so genannte ‘Price-Anderson-Gesetz’, das vorsieht, dass die US-Regierung Versicherungsgarantien gibt. Schließlich würde niemand ein Atomkraftwerk versichern. Wer könnte schon eine Schadenssumme von $200 Milliarden aufbringen? Daher hat die US-Regierung eine solche Garantie für alle Kernkraftwerke (in den USA) unterschrieben. Das ‘Price-Anderson-Gesetz’ wurde durch den Kongress verabschiedet. Es bevollmächtigt die US-Regierung - im Namen der Steuerzahler/innen - diese Garantie zu geben. Anders wären Kernkraftwerke auch gar nicht zu versichern.

Amy Goodman: Wir sprachen mit Dr. Michiko Kaku. (Pause)

Amy Goodman ist Moderatorin des TV- und Radioprogramms ‘Democracy Now!’, das aus rund 500 Stationen in Nordamerika täglich/stündlich internationale Nachrichten sendet.

Quelle: ZNet Deutschland vom 16.04.2011. Originalartikel: Expert: Despite Japanese Gov’t Claims of Decreasing Radiation, Fukushima a "Ticking Time Bomb" . Übersetzt von: Andrea Noll.

Veröffentlicht am

17. April 2011

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