Streit um Libyen: Verrat sieht anders ausSeit 60 Jahren wird selbstständiges Handeln in der Außen- und Sicherheitspolitik stigmatisiert. Als Angelegenheit Europas sind Sonderwege jedoch denkbar und sinnvollVon Andreas Zumach Westerwelle und Merkel hatten Recht. Jedenfalls in der Sache. Die Bedenken, mit denen Außenminister und Kanzlerin Deutschlands Enthaltung beim Beschluss zur Intervention gegen Libyen im UN-Sicherheitsrat begründeten, sind durch den Konfliktverlauf seither bestätigt worden. Dennoch wird dieses Votum weiter als "gefährlich", "irregeleitet" oder Symptom für einen "unverantwortlichen deutschen Sonderweg" und "Verstoß gegen die Bündnissolidarität" der NATO gerügt. Mit solcher Semantik versuchen vasallenhaft proamerikanisch sozialisierte Eliten in Politik, Militär, Wissenschaft und Medien der Bundesrepublik bereits seit 60 Jahren, selbstständiges Denken oder gar Handeln in der Außen-und Sicherheitspolitik zu stigmatisieren. Anfang der fünfziger Jahre wurde die Gesamtdeutsche Volkspartei der späteren Bundespräsidenten Heinemann und Rau, die für ein wiedervereinigtes und entmilitarisiertes Deutschland warb, als "Moskaus fünfte Kolonne" beschimpft. Auch die heute allseits als Erfolg gepriesene sozialliberale Ostpolitik des Kanzlers Brandt wurde zunächst als schändlicher "Sonderweg" denunziert - ihr Wegbereiter Bahr als "Ostspion" und "Vaterlandsverräter" diffamiert. Und wie verhielt es sich mit der von den Grünen in den achtziger Jahren vertretenen "Außenpolitik der militärischen Zurückhaltung und aktiven Friedenspolitik"? War damit kein guter deutscher Sonderweg gemeint? Leider gab die Partei dieses Konzept als Koalitionär von Schröders SPD 1998 auf. Das mehr rhetorische Nein von Rot-Grün zum Irak-Krieg 2003 war nur ein unehrliches Ausscheren aus der Allianz mit den USA, inkonsequent und unzureichend, da Kanzler Schröder zugleich sämtliche Forderungen Washingtons zur materiellen Kriegsbeihilfe erfüllte und jegliche Kritik am völkerrechtswidrigen Charakter des Feldzuges vermied. Für das "Nein" zum Irak-Krieg war neben Zweifeln am Erfolg der Operation und Wahlkalkül erstmals auch ausschlaggebend, dass eine Mehrheit deutscher Unternehmen ihre Interessen im Nahen Osten als gefährdet einstufte, würde Schröder mit George W. Bush marschieren. Die Risiken für das US-Geschäft - sollte es bei einem deutschen "Nein" zum Krieg bleiben - galten dagegen als überschaubar. Kein IndikatorVerglichen mit all diesen "Sonderwegen" war die deutsche Enthaltung zur Libyen-Resolution von bescheidenem Kaliber und geringerer Bedeutung. Wirtschaftliche Interessen - etwa am libyschen Öl -, die anders gelagert wären als jene der kriegsbeteiligten NATO-Staaten Frankreich, Großbritannien, USA und Italien, gab es nicht. Alternative Vorstellungen für den Umgang mit dem libyschen Bürgerkrieg blieben Westerwelle und Merkel gleichfalls schuldig. Ihre Neutralität im höchsten UN-Gremium folgte allein innenpolitischem - sprich: wahltaktischem - Kalkül. Aus je eigenen Motiven verweigerten Russland, China, Indien und Brasilien ihr Plazet, ohne sich zuvor mit Deutschland abgestimmt zu haben. Daher ist das Stimmverhalten dieser fünf Mächte kein Indikator für eine sich abzeichnende neue Weltordnung. Ebenso wenig lässt der Umstand, dass die NATO nach heftigem internem Streit das Kommando über den Libyen-Krieg übernahm, darauf schließen, die Allianz werde künftig zum Stoßtrupp globaler Ordnungspolitik mutieren. Die Differenzen unter den 28 Mitgliedern sind - nicht nur beim Thema Libyen - größer als je zuvor seit Gründung der Allianz. Da drei Viertel der zerstrittenen NATO-Mitglieder auch der EU angehören, wäre es gleichermaßen illusorisch, von der europäischen Gemeinschaft eine grundlegend andere Politik zu erwarten. Wertekanon zerstörtUnsinnig ist deshalb auch der Vorwurf, Deutschlands Votum im Sicherheitsrat sei "Verrat an den europäischen Werten Freiheit, Demokratie und Menschenrechte" und eine "Abkehr von der gemeinsamen Außenpolitik der EU". Die "europäischen Werte" haben Deutschland und seine EU-Partner bereits durch ihre jahrzehntelange Allianz mit den arabischen Diktaturen gründlich verraten. Mit der schändlichen Abschottung der EU-Grenzen gegen die Flüchtlinge aus Libyen und seinen Nachbarländern wird die Glaubwürdigkeit jenes Wertekanons weiter zerstört. Abgesehen von solchem Abschottungsgebaren sowie der Durchsetzung gemeinsamer Handels-und Außenwirtschaftsinteressen kann von einer "gemeinsamen EU-Außenpolitik" sowieso kaum die Rede sein. Wenn es sie gäbe, sollte zuallererst auf die - ohnehin nicht finanzierbaren - Pläne für eine EU-Militärmacht verzichtet und stattdessen nach einer politischen Emanzipation von den USA und eigenständigem Handeln gesucht werden. Dessen Sinn könnte es sein, durch zivile Instrumente die aufgebrochenen Konflikte im arabischen Raum zu befrieden. Zudem könnte sich die EU dazu durchringen, eine Art globale Führung bei der Energiewende und den Anstrengungen zur Begrenzung des Klimawandels zu übernehmen sowie gerechten Handelsbeziehungen mit den Ländern des Südens Vorschub zu leisten. Für einen solchen europäischen "Sonderweg" wäre die aktive Rolle ihres größten und wirtschaftsstärksten Mitglieds unverzichtbar. Andreas Zumach ist Journalist, Buchautor und Sicherheitsexperte
Quelle: der FREITAG vom 28.04.2011. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Andreas Zumach und des Verlags. Veröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
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