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Zwangsdienst: Ende des Sonderwegs

Mehr als 55 Jahre Wehrpflicht sind in Deutschland am 1. Juli verabschiedet worden. Schon als der Kalte Krieg zu Ende ging, erschien der Zwangsdienst nur noch überflüssig

Von Jürgen Rose

Die allgemeine Wehrpflicht ist das legitime Kind der Demokratie", lautete das Diktum, mit dem der damalige Bundespräsident Theodor Heuss 1949 in die Debatte darüber eingriff, ob im künftigen Grundgesetz ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen zu verankern sei. So durch und durch fragwürdig jene Behauptung war, so verheerend erwies sich bis zuletzt ihre Wirkung auf die sicherheitspolitischen Debatte um die angemessene Wehrform hierzulande. Bei näherer Betrachtung entpuppt sich Heuss’ apodiktische These sehr schnell als Mythos, mehr noch: als ein ideologisches Konstrukt der Bonner Republik.

Historisch gesehen war mit einer Wehrpflicht die Möglichkeit verbunden, für eine sich gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts verändernde Kriegsführung Massenarmeen zu rekrutieren. Dies erlaubte - teilweise größenwahnsinnigen - Feldherren fortan den hemmungslosen Einsatz von Menschenleben, um ihre Ziele verfolgen zu können. Insofern erwiesen sich Wehrpflicht und totaler Krieg als siamesische Zwillinge. Erst die Wehrpflicht ermöglichte die Eroberungskriege des 19. und 20. Jahrhunderts. Besonders das Beispiel Deutschland illustriert, dass sich Wehrpflichtarmeen jedwedem System dienstbar machten - zu jedwedem politischen Zweck gebrauchen und missbrauchen ließen. Das vorgeblich legitime Kind der Demokratie war für eine lange Zeit von illegitimen Vätern gekidnappt worden, durch Adolf Hitler beispielsweise, aber nicht nur ihn. Der NS-Staat führte - was die Apologeten des Dienstes am Vaterland gern unterschlugen - die zu Zeiten der Weimarer Republik abgeschaffte Militärpflicht am 16. März 1935 in Deutschland wieder ein und schuf damit die unabdingbare Voraussetzung für den nachfolgenden, wohl gigantischsten Raub- und Mordzug der Menschheitsgeschichte.

Bis 1945 (mit Ausnahme der Jahre 1919 bis 1935) bildete die 1814 in Preußen eingeführte allgemeine Wehrpflicht den konstitutiven Teil eines deutschen militärischen Sonderweges. In dieser Periode hatten Demokratie und Wehrgehorsam in Deutschland tatsächlich nichts miteinander zu tun. Die Wehrpflicht war allein mit antidemokratischen, monarchistischen, totalitär und eben nicht republikanischen Staatsformen verschränkt. Als sie nach 1949 in nunmehr zwei deutschen Staaten wiedererstand, geschah dies in der Bonner Republik ebenso wie in der DDR als integraler Teil eines überlieferten Militärsystems. Die Wehrpflicht hatte innenpolitisch weder etwas mit Demokratie noch mit Pluralismus zu tun. Auch signalisierte sie in außenpolitischer Hinsicht kein Friedenskonzept. In der Bundesrepublik ließen sich durch den am 21. Juli 1956 wieder eingeführten Zwangsdienst die der NATO zugesicherte Truppenstärke und der erstrebte Einfluss im westlichen Bündnis gewährleisten. Wehrpflicht in Nachkriegsdeutschland - das war in West und Ost zuallererst ein Kind des Kalten Krieges. Allein mit dem Reformkonzept des "Staatsbürgers in Uniform" wurde in der Bundesrepublik ein Bezug zu den Idealen der bürgerlichen Revolution - Freiheit, Gleichheit, Bürgerlichkeit - hergestellt. Alles andere sind Legenden.

In engem Zusammenhang mit der ahistorischen Glorifizierung des Wehrpflichtsystems stand das auch von dezidierten Militärkritikern häufig ins Feld geführte Argument - eine Streitmacht von Freiwilligen sei weit weniger in die Gesellschaft integriert als eine Wehrpflichtarmee. Man fürchtete, es werde ein "Staat im Staate" entstehen wie zu Zeiten der Reichswehr nach 1919. Demgegenüber stellte die Wehrpflicht-Bundeswehr angesichts der traumatischen Erfahrungen mit dem deutschen Militarismus, die in der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges kulminiert waren, für die demokratische Bundesrepublik Deutschland ganz offensichtlich ein Erfolgsmodell dar. Damit ist einer der Hauptgründe genannt, weshalb kaum einer der politischen Entscheidungsträger geneigt war, die Wehrpflichtarmee zugunsten des als riskant geltenden Alternativmodells Freiwilligen-Heer anzuzweifeln.

Friedrich Merz, damals Vorsitzende der Bundestagsfraktion von CDU/CSU, brachte im Jahr 2000 diese als "Reichswehrsyndrom" bezeichnete Attitüde bei einer Plenardebatte auf den Punkt, als er ausführte: "Wir sind das einzige Land im Bündnis, das aufgrund seiner Geschichte nicht auf eine über lange Jahre, Jahrzehnte und Jahrhunderte ungebrochene Militärtradition zurückgreifen kann. Gerade weil wir nicht auf eine ungebrochene Militärtradition zurückgreifen können, brauchen wir nach meiner festen Überzeugung … auf Dauer die Verankerung der Bundeswehr in der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland durch die Aufrechterhaltung der Wehrpflicht."

Wer so argumentiert, der ignoriert die wesentlichen Konditionen für die gesellschaftliche Integration von Streitkräften. Die liegen nämlich zuallererst in den institutionellen Rahmenbedingungen eines demokratisch verfassten Staatswesens begründet: in einer Wehrgesetzgebung, die nicht zuletzt das Konzept der Inneren Führung mit ihrem Leitbild vom kritischen Staatsbürger in Uniform normiert, in einer parlamentarischen Kontrolle der Streitkräfte, im Amt eines Wehrbeauftragten des Bundestages, auch im Deutschen Bundeswehrverband als Interessenvertretung, in der kritischen Begleitung durch Medien und Öffentlichkeit sowie nicht zuletzt in einer sorgfältigen Personalauswahl bei Zeit- und Berufssoldaten.

Keine Träne wert

Den triftigsten Grund, warum das Ende des regierungsamtlich erzwungenen Waffendienstes keine Träne wert ist, lieferte schon 1926 Kurt Tucholsky, Deutschlands scharfzüngigster Militärkritiker, der in der Zeitschrift Weltbühne moniert hatte: "Kein Staat, keine nationale Telegrafenagentur hat das Recht, über das Leben derer zu verfügen, die sich nicht freiwillig darbieten."

Nicht ganz so drastisch artikulierte fast sieben Jahrzehnte später der damalige Bundespräsident Roman Herzog, vormals Verfassungsrichter, 1995 auf einer Kommandeurstagung in München seine Zweifel am Erhalt des militärischen Zwangsdienstes: "Die Wehrpflicht ist ein so tiefer Einschnitt in die individuelle Freiheit des jungen Bürgers, dass ihn der demokratische Rechtsstaat nur fordern darf, wenn es die äußere Sicherheit des Staates wirklich gebietet. Sie ist also kein ewig gültiges Prinzip, sondern sie ist abhängig von der konkreten Sicherheitslage. Ihre Beibehaltung, Aussetzung oder Abschaffung und ebenso die Dauer des Grundwehrdienstes müssen sicherheitspolitisch begründet werden können."

Eben diese vom Staatsoberhaupt geforderte Legitimation war 1990/91 mit dem Ende des Kalten Krieges hinfällig geworden. Schwarz auf weiß stand schon im Weißbuch der Bundesregierung von 1994, dass Deutschland nur noch von Freunden umgeben sei. Eine verfassungskonforme Legitimationsbasis für den Vollzug der allgemeinen Wehrpflicht war nicht mehr gegeben. Eine solche kann sich einzig und allein aus einer akuten und existenzbedrohenden Notlage für das Staatswesen insgesamt ergeben. Da dies nach allgemein herrschendem Konsens in der Strategic Community nicht mehr der Fall war, entsprach die Fortdauer der Wehrpflicht von jenem Zeitpunkt an längst nicht mehr dem Grundgesetz. Dessen ungeachtet bedurfte es noch langer Jahre und eines windigen Freiherrn zu Guttenberg, bis die politische Klasse dieser Republik sich zähneknirschend bereit zeigte, ihrem wehrpolitischen Glaubensbekenntnis zu entsagen. Die Wehrpflicht wurde dorthin entsorgt, wo sie längst hingehörte: auf den Schutthaufen der Geschichte.

Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr a. D. und Vorstandsmitglied der kritischen SoldatInnenvereinigung Darmstädter Signal

Quelle: der FREITAG vom 10.07.2011. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Jürgen Rose und des Verlags.

Veröffentlicht am

12. Juli 2011

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