Theodor Ebert: Mein Weg zur FriedensforschungVon Theodor Ebert - Vortrag in der Anne-Frank-Oberschule in Berlin-Köpenick am 14. Febr. 2006 Die Anne-Frank-Oberschule hat im Rahmen einer von Schülern organisierten Festwoche ein halbes Dutzend Wissenschaftler eingeladen, die über ihre Ausbildung und ihre Berufstätigkeit berichten sollten. An der Veranstaltung nahmen etwa hundert Schüler im Alter zwischen 15 und 19 Jahren teil. Das Manuskript ist ausführlicher als der meist frei gehaltene, 60-minütige Vortrag. Mit dem Abitur sollen Schüler die Erwartung verbinden, die weitere Ausbildung und schließlich den Beruf frei wählen zu können. Es gibt zwar Beschränkungen vielfältiger Art, doch im Prinzip kann ein Abiturient alles werden: Arzt, Ingenieur, Pfarrer, Polarforscher oder Archäologe, Musiker oder Maler, Journalistin, Rechtsanwältin, Offizier oder Friedensforscher. Doch das Wichtigste ist, dass man sich überlegt: Was will ich eigentlich auf dieser Welt, in die ich ungefragt hineingeboren wurde und mit deren Schwierigkeiten und Offerten ich mich nun konfrontiert sehe? Der Einzelne wird in der Regel versuchen, sein persönliches Wohlergehen mit dem gesellschaftlichen Nutzen des eigenen Handelns in Einklang zu bringen. In der DDR war die Bezugsgröße des individuellen Handelns der Nutzen für den Aufbau des Sozialismus. Über diesen Nutzen entschied die Partei zentralistisch in einem demokratisch nicht kontrollierten Prozess. Diese Bevormundung ließen sich die Bürger auf die Dauer nicht bieten. Jetzt ist im vereinigten Deutschland unser Problem, dass über den gesellschaftlichen Nutzen von Handlungen nur sehr eingeschränkt von demokratisch gewählten Gremien entschieden wird. Über die Schicksalsfrage, ob jemand seinen erlernten, eigentlich nützlichen Beruf ausüben kann und ob er überhaupt einen Ausbildungsplatz finden kann, entscheiden vielfach diejenigen, für welche die Gewinnmaximierung bzw. der share holder value der höchste gesellschaftliche Wert ist.Das ist jetzt nicht unbedingt ein persönlicher Vorwurf gegenüber denjenigen, welche diese Entscheidungen fällen. Manche begreifen, dass sie in einem Konkurrenzsystem gefangen sind, das ihnen offenbar oder scheinbar keine andere Handlungsmöglichkeit lässt. Karriere machen allerdings am ehesten diejenigen Manager oder Politiker, die über die globalen, langfristigen Folgen ihres Handelns nicht nachdenken, sondern borniert nur den Erfolg ihres jeweiligen Unternehmens oder Nationalstaates im Auge haben und dann mit Victory-Zeichen öffentlich auftreten wie Ackermann, der Chef der Deutschen Bank, oder den so genannten Krieg gegen den Terror mit Mitteln betreiben, die den Terrorismus erst richtig entfachen. Fatal ist es, wenn Menschen dieses Typs, welche die langfristigen Folgen ihres Handelns verdrängen, in führende politische Positionen gewählt werden. Die Wiederwahl des amerikanischen Präsidenten George W. Bush und seiner Entourage aus Gewinnmaximierern war ein vermeidbares globales Unglück. Es kann sein, dass die Bearbeitung dieses Problems zur zentralen Aufgabe Ihrer Generation werden wird. Und Sie müssen dabei berücksichtigen, dass eine wirkliche Lösung dieser Aufgabe nur möglich sein wird, wenn parallel dazu folgende drei Rahmenbedingungen aufrechterhalten bzw. geschaffen werden:
Jede Generation und letztlich jeder einzelne Mensch erfährt die Umwelt und Geschichte in eigener Weise. Entsprechend wird jede Generation und wird jeder Einzelne seinem Leben einen entsprechenden Sinn zu geben suchen. Ich habe Ihre Einladung verstanden als die Aufforderung, Ihnen zu erzählen, wie ich zu meiner Entscheidung gekommen bin, Friedensforscher zu werden. Das war ein sehr komplexer Vorgang und ich bin dabei, diesen in einer Autobiografie so zu reflektieren, dass meine Aufzeichnungen am Ende nicht nur über mich als Individuum, sondern auch über meine Generation und meine Zeit kritisch Auskunft geben. Ich wurde 1937, zwei Jahre vor Beginn des Zweiten Weltkriegs und fünf Jahre nach der Machtergreifung der Nazis in Stuttgart geboren. Meine Eltern betrieben als selbständige Kaufleute ein kleines Büro, das Zulieferbetriebe der Radiobranche vertrat und für die eingeholten Aufträge Provisionen bezog. Aufgrund ihrer Herkunft aus christlichen und sozialdemokratischen Kreisen begegneten meine Eltern den Nazis mit Misstrauen und Abneigung, unternahmen aber nichts, was deren Herrschaft hätte gefährden können. 1939 wurde mein Vater im Alter von 29 Jahren zur Wehrmacht eingezogen. Er hasste den Barras, der ihn aus dem Berufsleben riss und ihn von seiner Frau und den beiden Kindern trennte. Er wollte in der Wehrmacht keine Karriere machen. Er blieb Obergefreiter und lehnte es ab, Offizier zu werden. Er kam nach langen Jahren in Russland, zweimaliger Verwundung und nach kurzer Gefangenschaft in Dänemark zu seiner Familie zurück. Sein einziger Bruder, ein ausgesprochener Gegner der Nazis, war in Stalingrad umgekommen. Unsere schöne Wohnung in Stuttgart war total zerstört und auch die meisten geschäftlichen Verbindungen meines Vaters existierten nicht mehr. Die Familie hatte überlebt, weil sie 1943 nach Münsingen auf die Schwäbische Alb evakuiert worden war - noch bevor Stuttgart-West, also die Umgebung der Firma Bosch - im Feuersturm untergegangen war. Noch aus 60 km Entfernung konnte ich als Siebenjähriger von Münsingen aus bei Nacht den roten Himmel über Stuttgart wahrnehmen. Die Abneigung gegen alles Militärische wurde mir vom Elternhaus eingeimpft. Ich weiß aber nicht so genau, ob ich aufgrund der christlichen Prägung der Familie und der zur Vorsicht und Distanz mahnenden Signale der Eltern in der Lage gewesen wäre, mich der nationalsozialistischen Erziehung in der Schule und der Hitlerjugend innerlich zu entziehen. Ich halte es für möglich, dass ich zumindest partiell in diesen nationalsozialistischen Jugendbetrieb hineingezogen worden wäre, wenn der Zusammenbruch des Dritten Reiches dem nicht zuvorgekommen wäre. Als Erzieherin konnte meine Mutter ihre Skepsis gegenüber dem Regime nur andeuten, aber nicht in aller Offenheit sagen, was sie von den Nazis hielt. Das war viel zu gefährlich. Im Dritten Reich bedurfte es keiner Informellen Mitarbeiter. Die Gestapo bekam ihre Anzeigen von einer Großzahl aufmerksamer Volksgenossen, die an den Führer und den Endsieg glaubten. Obwohl ich mich später des Öfteren gefragt habe, was aus mir geworden wäre, wenn ich früher geboren worden wäre oder das Dritte Reich länger gehalten hätte, meine ich doch ausschließen zu können, dass aus mir dauerhaft ein begeisterter Nazi geworden wäre. Die nazistische Ideologie war mit dem kritischen Verstand, der dem Menschen angeboren ist und den er mit der Sprache zu gebrauchen lernt, unvereinbar. Ich erinnere mich, dass ich als Achtjähriger angefangen habe, propagandistische Aussagen auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. In Münsingen hatte eine Führer-gläubige Nachbarin mir ein großformatiges Kriegsbilderbuch geschenkt, das in naturalistisch ausgemalten Kurzgeschichten die Heldentaten der deutschen Soldaten schilderte. Die Deutschen siegten immer. Ich aber beobachtete über Münsingen einen Luftkampf zwischen einem deutschen und einem englischen Jagdflugzeug. Abgeschossen wurde der Deutsche. Das stand im Widerspruch zum Bilderbuch. Das war ein Urerlebnis. Als Achtjähriger begriff ich: Der Propaganda ist nicht zu trauen. Das ist grundsätzlich eine gesunde Einstellung: Vergleiche Deine eigenen Beobachtungen mit den offiziellen Aussagen über den Krieg, die wirtschaftliche Lage usw.! Und es war mir auch klar und hier nahm meine Mutter kein Blatt vor den Mund: Der Vater und die anderen Verwandten waren im Krieg hochgradig gefährdet und die Fähnchen auf der Wandkarte Osteuropas wurden von meiner Mutter regelmäßig zurückgesteckt. So genannte "Frontbegradigungen" bedeuteten Rückzug. Über die Realität des Krieges machte ich mir auch als kleiner Junge keine Illusionen mehr und die Einnahme Münsingens durch die Amerikaner empfand ich nicht als Niederlage, aber auch nicht als Befreiung. Der Krieg war für uns zu Ende und nun war nur noch die Frage, ob der Vater mit dem Lazarettschiff noch aus Kurland herausgekommen war und wann er zurückkehren würde. Noch eine prägende Erfahrung in meiner Münsinger Zeit als Volkschüler will ich schildern. Auf meinem Schulweg kam ich an den großen Fenstern eines Kaufhauses vorbei. Nach Kriegsende waren dort - anstelle von Waren - Photos von der Befreiung der Konzentrationslager durch die Truppen der Alliierten ausgestellt. Was mich am meisten erschütterte, waren Photos von Bulldozern, die nackte, abgemagerte Körper von Menschen aller Altersgruppen zu Bergen zusammen schoben. Es war zweifellos so, dass Hitler und die Nazis für das Verrecken dieser Menschen verantwortlich waren. Dass so etwas menschenmöglich ist, erschütterte mich. Ich konnte dies nicht mehr vergessen. Ich weiß heute, dass dies Bilder von Bergen-Belsen waren, wo auch Anne Frank umgekommen ist. Ich habe später in Stuttgart, wohin wir 1946 zurückkehrten, das Tagebuch der Anne Frank gelesen. Doch bereits die auf dem täglichen Münsinger Schulweg erblickten Photos machten mir deutlich, von welchen Verbrechern Deutschland zwölf Jahre lang regiert worden war. Und es war mir auch klar, dass mich vom Schicksal der in Bergen-Belsen und Auschwitz Vernichteten nur der Umstand bewahrt hatte, dass meiner Mutter, einer geborenen Liebermann, sieben Monate vor meiner Geburt der so genannte Ariernachweis gelungen war. Die Nazis interessierten sich bekanntermaßen nur für die Großmütter, nicht aber für die Großväter. Ich will diesen ganzen rassistischen Schwachsinn hier nicht erörtern. Als 8jähriger kannte ich mich in den Details auch nicht aus. Als feste Kindheitsprägung blieben mir jedoch die Erfahrung des Bombenkrieges und die der Verfolgung von Mitmenschen, die sich in nacktem Zustand durch nichts Wesentliches von mir unterschieden und mit denen ich mich identifizieren, mit denen ich Mitleid haben musste. Ich denke, dass diese Kindheitserfahrungen, die ich mit anderen Altersgenossen teilte - und ich bin diesen später im Verband der Kriegsdienstverweigerer wieder begegnet - , mich für meine spätere Laufbahn als Friedens- und Widerstandsforscher prädestinierten bzw. programmierten. Ich habe in Ihren Alter am Eberhard-Ludwigs-Gymnasium in Stuttgart noch nicht gewusst, dass ich Friedensforscher werden könnte. Ich wusste gar nichts von der Existenz einer solchen Ausbildung. Heute gibt es an mehreren Universitäten entsprechende Studiengänge. Als Gymnasiast habe ich die eben geschilderten Kindheitseindrücke auch wieder verdrängt und war dann auch ein ganz normaler Schüler, der unter Latein und Griechisch ächzte und sich auf die Naturbeobachtungen im Schullandheim im Schwarzwald freute und dessen Traumberuf Förster war. Ich hielt in der Dämmerung mit dem Fernglas auf Hochsitzen Ausschau nach Rehen und Füchsen und ich las entsprechende Bücher. Ernüchternd war dann allerdings, dass der Vater eines meiner Nachhilfeschüler ein Oberoberförster war, der sich praktisch in erster Linie an einem Stuttgarter Schreibtisch mit der Planung und dem Bau von Waldwegen befasste. Wichtiger als dieser Einblick ins Berufsleben der Förster war dann aber doch, dass ich in meiner Schulzeit von dem Angebot Konrad Adenauers überrascht wurde, die Bundesrepublik wieder zu bewaffnen und die allgemeine Wehrpflicht wieder einzuführen. Dieses Vorhaben war für mich das Ende meiner Kindheit. Jetzt standen mir die Bombennächte und all die anderen Kriegserfahrungen wieder vor Augen. Ich war total dagegen und doch sah ich ein, dass einer weiteren Expansion des kommunistischen Herrschaftsbereichs widerstanden werden musste. Ich hatte Bücher ehemaliger Kommunisten über die Verfolgungen Stalins gelesen. Meine Hauptinformanten waren George Orwell mit "1984" und seinen Spanien-Erinnerungen und Arthur Köstler mit dem Roman "Sonnenfinsternis" und seinen autobiographischen Schriften. Ich wusste bereits als Schüler über die Schrecken totalitärer Herrschaft - brauner und roter Couleur - Bescheid. "Lieber rot als tot" war für mich keine akzeptable Lösung des Problems. Als wir uns dann in der Schule in einen Besinnungsaufsatz zu der Frage äußern sollten, ob wir für oder gegen die Wiederbewaffnung seien, stellte ich zum ersten Mal die Überlegung an, ob denn die militärische Besetzung eines Landes automatisch zu dessen politischer Unterwerfung führe. Ich behauptete, ohne es noch mit historischen Beispielen belegen zu können, dass wirkliche Demokratien für totalitäre Regime schwer verdaubare Brocken darstellten. Das war in meiner Klasse eine Minderheitenmeinung und obwohl ich sonst im Deutschunterricht eher Einsen gewohnt war, bekam ich für diese Abhandlung, die ich aufbewahrt habe und auf die ich heute noch stolz bin als Zeugnis eigenen Denkens, nur "befriedigend bis gut". Dieser Aufsatz war für mich eine Art politischer Bekenntnisschrift und sie wurde als solche dann in der Klasse auch respektiert. Doch was fängt man mit solchen Überzeugungen an, wenn es dann an die Berufswahl geht? Meine Eltern konnten mich nicht beraten. Sie hatten beide nur einen Hauptschulabschluss und keinerlei Fremdsprachenkenntnisse. Ich überlegte, ob ich Arzt oder Jurist werden sollte. Doch ich sah in diesen Berufen nur die Möglichkeit, mich mit Einzelfällen, also mit einzelnen Patienten oder einzelnen Klienten zu befassen, aber nicht mit den Makrokonflikten der Gesellschaft, mit den seelischen Erkrankungen ganzer Gesellschaften. Ich wusste als Schüler nicht, dass man Politik oder Soziologie studieren kann, um den Umgang mit Makrokonflikten zu lernen. In meinem Umfeld gab es niemanden, der solche Fächer und sich daraus ergebende Berufslaufbahnen kannte. Ich freute mich nach der Schule, die ich mit ihrem strengen Fächerkanon und dem Pauken der alten Sprachen zumindest zeitweise als eine Zwangsanstalt empfunden hatte, unbändig auf das Studieren von Fächern eigener Wahl. Doch ich hatte überhaupt keine Lust, mich auf das Engagement in einer Gesellschaft einzulassen, die ihre Existenz auf militärische Abschreckung gründete. Das Einzige, was ich darum als mögliche Ausbildungsform erachtete, war es, Geschichte zu studieren, um das politische Leben von Gesellschaften - durch den Blick auf ihre Vergangenheit - besser zu begreifen. Die Fächerkombination von Geschichte, Deutsch und Englisch sollten mir ein weltanschauliches Orientierungsstudium ermöglichen - mit der Perspektive Lehrer zu werden. An eine Laufbahn als Hochschullehrer war in dem CDU-Staat nicht zu denken, zumal meine politische Sympathie Ende der 50er Jahre Gustav Heinemann und der von ihm gegründeten Gesamtdeutschen Volkspartei gehörten. Dr. Dr. Heinemann war Innenminister im ersten Kabinett Adenauer gewesen. Doch er war von diesem Amt aus Protest gegen Adenauers Politik der Westintegration und der Wiederbewaffnung zurückgetreten. Das hatte mir imponiert. Doch Heinemann scheiterte mit der GVP an der 5-Prozent-Hürde und auch an dem Umstand, dass man Wahlen in Deutschland nicht mit einem rein außen- und sicherheitspolitischen Programm gewinnen kann. Das habe ich aber erst später begriffen. Ich kam an die Universität mit einer Menge Fragen, aber ich hatte keinen Plan, mit Hilfe dessen ich diese Fragen hätte sinnvoll bearbeiten können. Die Frage, die mich beim Studium der Geschichte am meisten interessierte, war die folgende: Wie kommt es, dass in der Folge von durchaus berechtigten Aufständen und Revolutionen sich immer wieder neue Diktatoren durchsetzen, ganz vereinfacht gesprochen: Warum frisst die Revolution ihre Kinder? Alle die Studien, die ich an fünf verschiedenen Universitäten betrieb, kann ich hier nicht aufzählen. Ich befasste mich in Tübingen mit der Reformation und dem Bauernkrieg, in München mit dem Nationalsozialismus und mit dem Stalinismus, in London mit dem antiroyalistischen Lordprotektor Oliver Cromwell und den Dramen Shakespeares, in Paris mit der französischen Revolution, der Herrschaft der Jakobiner und Napoleon. Die eigentliche Entdeckung der Studienjahre waren dann die Experimente Gandhis mit gewaltfreien Widerstandsaktionen. In der Gandhi-Biographie Louis Fischers, eines Ex-Kommunisten wie Arthur Köstler, fand ich die Erklärung für die bösartige Entwicklung der gut gemeinten und zunächst von Idealisten getragenen Aufstände und Revolutionen. Es sind die gewaltsamen Mittel, welche zur Perversion der ursprünglichen Ziele führen und welche die Revolutionäre zwingen, die revolutionären Errungenschaften unter Einsatz von immer mehr Gewalt und immer stärkerer Konzentration der Macht in den Händen weniger zu verteidigen. Wenn man diesen Prozess der Perversion vermeiden will, dann muss man ganz pingelig auf die Wahl der Mittel achten und muss unbedingt die Androhung und Anwendung von Gewalt vermeiden. Das Spannende an Gandhis Experimenten war, dass er zeigte, wie Aufständische gewaltfreie Kampfmittel nicht nur als Einzelne, sonder auch in Gruppen und schließlich in Massenbewegungen einsetzen können. Zu dieser Erkenntnis gelangte ich erst nach fünf Jahren, als ich gerade dabei war, mit einer Untersuchung über die Geschichte der Reformation und Gegenreformation im Schwarzwald mein Studium abzuschließen. Ich war unter den Historikern als vielseitig interessierter Student aufgefallen und war entsprechend gefördert worden und es wäre schon möglich gewesen, dass ich auf dem Gebiet der Geschichtsforschung Karriere gemacht hätte. In die Tübinger Examenszeit fielen aber zwei einschneidende Erfahrungen. Ich wurde zu einer Art Luftschutzübung eingeladen, die sich mit dem Überleben atomarer Schläge befasste. Ich hörte mir die Empfehlungen an und kam zu dem Ergebnis, dass es gegen Atombomben keinen wirksamen Schutz gab und ein Krieg auf deutschem Boden der absoluten Katastrophe gleich käme. Diese Einsicht in die Fähigkeit des Menschen, mit diesen neuen Waffen der Geschichte der Menschheit ein Ende zu setzen, traf mich wie ein Schlag. Und ich wusste nicht, was ich tun sollte. Und während ich Schriften über den Atomkrieg und seine Folgen las, rollten an meinem Studierzimmer am Rande Tübingens in der Nacht Panzer vorbei, die sich in einem NATO-Manöver befanden. Ich musste irgendetwas tun gegen diesen Wahnsinn. Ich überlegte, was Gandhi an meiner Stelle getan hätte. Ich kam zu dem Ergebnis: Er hätte gefastet und gebetet in der Hoffnung, dass sich ihm ein Weg zeige, dieser Katastrophe zu widerstehen. Meine Kommilitonen wollten das Doktorexamen einer - auch von mir sehr geschätzten - Kollegin am Historischen Institut feiern. Ich sagte meine Teilnahme - noch ohne Nennung von Gründen - ab und fastete drei Tage. In dieser Zeit reifte der Entschluss - aber ich zögerte noch lange in seiner Durchführung - mich auf die Erforschung des gewaltfreien Widerstands zu konzentrieren. Ich fuhr aber noch ein ganzes Jahr doppelgleisig. Ich setzte meine Arbeit am Historischen Institut fort und bereitete weiter mein Examen vor - schließlich war ich im 10. Semester -, aber parallel dazu las ich intensiv Gandhi und studierte Fälle von gewaltlosem Widerstand gegen Diktaturen. In dieser Zeit wurde mein zwei Jahre jüngerer Bruder Manfred, der in Tübingen Medizin studierte, weil er nach dem Vorbild Albert Schweitzers Arzt werden wollte, als einer der ersten für die Bundeswehr gemustert. Er verweigerte den Kriegsdienst aus Gewissensgründen, was in Artikel 4, Absatz 3 des Grundgesetzes vorgesehen war, und ich begleitete ihn zur Prüfungsverhandlung. Wir hatten uns vorgenommen, in der Verhandlung auf den gewaltlosen Widerstand als Alternative zur militärischen Verteidigung hinzuweisen. Der Vorsitzende war ein Jurist in mittleren Jahren, seine ehrenamtlichen Beisitzer waren etwas älter, wahrscheinlich Angehörige des öffentlichen Dienstes, die für solche Aufgaben problemlos frei gestellt werden konnten. Diese gut situierten Bürger empfanden es als Provokation, dass zwei Studenten im Alter von 22 und 24 Jahren behaupteten, Demokratien ließen sich auch mittels gewaltlosen Widerstands gegen Aggressoren verteidigen. Unsere Gewissensprüfer waren im Dritten Reich sicher keine Widerstandskämpfer gewesen, sondern wahrscheinlich Soldaten, die mehr oder weniger überzeugt für Hitlers Endsieg gekämpft hatten. Jedenfalls widersprachen sie uns vehement, verharmlosten die englische Kolonialherrschaft in Indien, als wir uns auf Gandhi beriefen, und beschworen die Gefahren des Totalitarismus. Die Verhandlung wurde immer mehr zu einer politischen Auseinandersetzung. Da ging es nicht mehr um das Gewissen eines Medizinstudenten, sondern um die Wirkung gewaltlosen Widerstands und Gandhis Bedeutung für das Atomzeitalter. Auf diesem Gebiet fühlten Manfred und ich uns einigermaßen kompetent und behaupteten, dass bei einer großen Zahl von Beteiligten und nach intensiver Vorbereitung der gewaltlose Widerstand auch Diktatoren gewachsen sei. Der gewaltlose Widerstand sei ein neues Machtinstrument, mit dem man politischen Druck ausüben und sich in einer feindlichen Umwelt behaupten könne, wohingegen bei dem Einsatz von Atomwaffen die Menschheit als Spezies gefährdet sei. Die Prüfer nahmen unsere Aussagen sehr persönlich und widersprachen immer heftiger. Sie verwiesen auf grausame Unterdrückungsmethoden und die vielen nutzlosen Opfer, welche der gewaltlose Widerstand wahrscheinlich fordern würde. Es war, als ob sie sich rechtfertigen wollten für ihr eigenes Verhalten im Dritten Reich. Wir sagten ihnen dies nicht auf den Kopf zu, obwohl wir diesen Hintergrund deutlich spürten. Wir beharrten nur auf unserer Sicht der historischen Erfahrungen. Und doch war mir im Anschluss an diese Verhandlung, welche dann doch in fairer Weise mit der Anerkennung meines Bruders endete, klar, dass meine Vorstellungen vom gewaltlosen Widerstand als Alternative zur militärischen Verteidigung präziser sein sollten. Ich konnte über den gewaltlosen Widerstand nicht sprechen wie ein General über einen militärischen Feldzug. Dies schien mir jedoch geboten. Ich hatte mir während der mehrstündigen Verhandlung, die wegen allgemeiner Erregung auch unterbrochen werden musste, geschworen: Du darfst die Wirksamkeit des gewaltlosen Widerstands nicht nur behaupten; du musst sie künftig mit historischen Fallstudien und mit daraus abgeleiteten Strategien auch beweisen. Ich spürte: So weit bist du noch nicht. Sonst hättest du das Gespräch viel gelassener angehen können. Zweierlei schien mir geboten: Zum einen musste ich meine Studien zum gewaltlosen Widerstand intensivieren und zum anderen musste ich Kontakte zu Gleichgesinnten knüpfen, denn es gibt keine Strategie ohne Menschen, die sie beherzigen. Im Stuttgarter Verband der Kriegsdienstverweigerer trafen wir diese Gleichgesinnten, die sich auch für die Methoden des gewaltfreien Widerstands interessierten, die aber ohne geisteswissenschaftliches Studium und ohne Englischkenntnisse keinen Zugang zu den Informationen hatten. Wir verabredeten uns zu regelmäßigen Treffen und ich fing an - wie im Kaiserreich in den Arbeiterbildungsvereinen - meinen neuen Freunden mitzuteilen, was ich über Gandhi und den gewaltfreien Widerstand wusste. Unser Ziel war, nach Gandhis Vorbild eine Organisation aufzubauen, die vergleichbar zu militärischen Einheiten sich auf den gewaltfreien Widerstand vorbereiten würde. Gandhi wollte nach dem Erreichen der Unabhängigkeit von England in Indien kein Militär haben, sondern an dessen Stelle eine Shanti Sena, das heißt wörtlich "Friedensarmee", gemeint war aber ein indienweites Netzwerk von gewaltfreien Aktionsgruppen, die bei innenpolitischen Konflikten zwischen Moslems und Hindus und auch bei auswärtigen Bedrohungen aktiv werden konnten. Wir Stuttgarter Kriegsdienstverweigerer wollten erreichen, dass die Kriegsdienstverweigerer in der Bundesrepublik eine ähnliche Organisation aufbauen und sich für den Widerstand selbst ausbilden würden. Wir nannten diese Aufbau-Organisation "Gewaltfreie Zivilarmee" und demonstrierten in Stuttgart unter diesem Namen gegen den Luftschutz mit der Parole "Der Tierschutz ist für alle Viecher, der Luftschutz für die Katz" und mit einem Wort des südafrikanischen Friedensnobelpreisträgers Albert Luthuli: "Die Waffen unserer Gegner werden verrosten, weil wir ihnen keine Gelegenheit geben, sie zu gebrauchen. Lasst uns beweisen, dass Gewaltfreiheit die höchste Form der Tapferkeit ist.". Wir luden mit unseren Demonstrationen auch zu Informationsveranstaltungen ein. Ich war in der Regel der Hauptredner. Ich berichtete über den gewaltlosen Widerstand gegen die nationalsozialistische Besatzungsmacht in Norwegen und Dänemark und ich befasste mich auch mit Fällen gewaltlosen Widerstands im sowjetischen Herrschaftsbereich. So hielt ich einen Vortrag über den Volksaufstand des 16./17. Juni 1953 in der DDR und versuchte herauszuarbeiten, unter welchen Bedingungen und mit welchen Methoden in den so genannten totalitären Regimen mit unbewaffneten Aktionen Wirkung erzielt werden konnte. Dazu gehörte immer auch die Frage: Wie lässt sich diese Wirkung durch eine kluge Wahl der Methoden und durch Vorbereitung noch steigern? Unsere Aufbauorganisation bestand nur aus einem guten Dutzend Personen, aber wir pflegten Kontakte zu ähnlichen Gruppen in anderen Städten. Wir mischten uns auch in aktuelle Konflikte ein. Das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" hatte im Herbst 1962 über das NATO-Manöver "Fallex 62" berichtet und den Deutschen mitgeteilt, dass im Rahmen dieses Manövers, das auch den Atombombeneinsatz vorgesehen hatte, es innerhalb einer Woche mehr als 6 Millionen Tote gegeben hatte und die Versorgung vollkommen zusammengebrochen war. Das überraschte uns Kriegsdienstverweigerer nicht, aber solche Prognosen waren bisher von keinem Massenmedium verbreitet worden. Als die Spiegel-Redakteure wegen dieser Aktion der Aufklärung des Volkes über tatsächlich Geplantes wegen Landesverrat eingesperrt und die Redaktion geschlossen wurde, gingen wir solidarisch auf die Straße und pflanzten uns, den Spiegel lesend, doch mit symbolisch mit Heftpflaster zugeklebten Mündern, vor dem Verlagsgebäude der Stuttgarter Nachrichten auf. Das Bild dieser Demonstration und meine Presseerklärung wurden bundesweit über dpa und das Fernsehen verbreitet. Eine Welle von ähnlichen Protesten erhob sich und Franz Josef Strauß, der hauptverantwortliche Verteidigungsminister, musste zurücktreten. Ich sehe in diesen Straßenaktionen die Anfänge der Außerparlamentarischen Opposition, denn es waren die öffentlichen Proteste, welche die parlamentarische Opposition dann ermunterten Konrad Adenauer, der von einem Abgrund von Landesverrat zu sprechen beliebte, in die demokratischen Schranken zu weisen. Diese Aktivitäten mit den Stuttgarter Kriegsdienstverweigerern waren mit meinen Tübinger Examensvorbereitungen schwer zu vereinbaren. Ich redete im Historischen Seminar nicht über mein politisches Engagement, aber mein potentieller Doktorvater und meine eher konservativen Kommilitonen spürten die Veränderung, die in mir vorgegangen war. Ich fiel nicht direkt in Ungnade, aber ich spürte wachsende Vorbehalte und ein mir sehr wohlwollender Assistent warnte mich vor den Schwierigkeiten, die ich wahrscheinlich haben würde, wenn ich in Tübingen als Historiker promovieren wollte. Es war ein schwerer Schritt, aber ich wechselte im 12. Semester das Hauptfach und die Universität. Ich ging nach Erlangen, wohin ein Tübinger Historiker auf den neu geschaffenen Lehrstuhl für Politische Wissenschaften berufen worden war. Waldemar Besson hatte sich über das NS-Regime habilitiert. Er gehörte zu den jungen Nachwuchswissenschaftlern, die bereit waren, auch heiße Eisen anzufassen. Er gab anderen jungen Wissenschaftlern die Chance, Themen eigener Wahl zu bearbeiten. Besson war sehr amerikafreundlich und politisch eher konservativ, aber er bevormundete seine Studenten und Doktoranden nicht und er gab mir nach einer Probearbeit über den Rechtskonservativismus in der Bundesrepublik ohne weitere Umstände sofort die Chance, eine Dissertation über Theorie und Praxis des gewaltfreien Widerstands zu schreiben. Er sagte zu mir, er halte dies für ein exotisches Thema und er verstünde überhaupt nichts davon; er könne mir also auch nicht helfen. Doch es sei mir offensichtlich wichtig und nun solle ich es eben versuchen. Ich empfand dies nach den Tübinger Erfahrungen als ein Wunder der Liberalität und ich schrieb innerhalb von zwei Jahren diese Arbeit. Besson fand sie spannend und auf ihre Weise auch überzeugend und hat mich dann anstandslos durch das Promotionsverfahren geführt. Ich hätte mich damals noch nicht als Friedensforscher bezeichnet. Ich dachte eher daran, dass ich einmal Reisesekretär einer Friedensorganisation werden und als Friedensagitator durch die Lande reisen würde. "Peace Agitator" war der Titel der Biographie von Abraham Johannes Muste, eines wichtigen amerikanischen Pazifisten, der eine mich faszinierende Lebensgeschichte aufzuweisen hatte. Er war Pfarrer, doch im Ersten Weltkrieg musste er wegen seines Pazifismus das Gemeindeamt aufgeben. Dann war er Gewerkschaftssekretär, erfolgreicher Streikführer. Er avancierte zum Generalsekretär der Trotzkistischen Arbeiterpartei der USA; doch er distanzierte sich von revolutionärer Gewalt und wurde Reisesekretär der International Fellowship of Reconciliation und Organisator großer Demonstrationen gegen das amerikanische Eingreifen in Vietnam. "Time-Magazine" nannte schließlich den 70-jährigen "America’s Pacifist No One". Das war mein Vorbild, aber Gene Sharp, ein amerikanischer Soziologe, der nach einem zweijährigen Gefängnisaufenthalt als Kriegsdienstverweigerer der Sekretär von A. J. Muste geworden war, warnte mich vor dem Weg in die Friedensagitation. Er sagte: Wir können nur etwas propagieren, über das wir wirklich Bescheid wissen. Und den gewaltfreien Widerstand - besonders unter den schwierigen Umständen totalitärer Herrschaft - müssen wir noch viel gründlicher studieren. Das leuchtete mir ein. Ich hatte schließlich auch die Erfahrung gemacht, dass unser Experiment "Gewaltfreie Zivilarmee" nicht die positive Resonanz gefunden hatte, die wir uns erträumt hatten. Die Stuttgarter konnten sich den gewaltfreien Widerstand gegen eine Besatzungsmacht nicht vorstellen. Es gab einige Prominente, die unser Engagement schätzten, zum Beispiel Gustav Heinemann, aber es wurde mir klar, dass wir unser Konzept einer Politik mit gewaltfreien Mitteln zunächst auf der akademischen Ebene weiter entwickeln mussten. Der entscheidende Schritt war der Kontakt zu englischen, amerikanischen und norwegischen Friedensforschern, die aber auch ein gewisses Ansehen in den Friedensorganisationen ihrer Länder hatten. Diese Leute hatten sich gesammelt im Umkreis der Londoner Wochenzeitung "Peace News". Wir verabredeten für den Oktober 1964 eine Studienkonferenz in einem College der Universität Oxford. Wir wollten untersuchen, wie gewaltfreier Widerstand gegen eine Besatzungsmacht funktionieren könnte, wenn er mit einseitiger Abrüstung und einer systematischen Vorbereitung auf diesen Widerstand verbunden ist. Wir wussten wirklich nicht so genau, wie dies funktionieren würde und wir hielten es für möglich, dass es in unserem Konzept einen Denkfehler oder eine bestimmte Schwachstelle gibt, welche dieses Konzept von vornherein zum Scheitern verurteilt. Wir hatten kein Geld für eine internationale Konferenz, aber unter der Voraussetzung, dass alle ihre Reisekosten selbst bezahlen, brachten wir die Konferenz zustande. Englische Atomwaffengegner halfen uns. Zum Beispiel machte die Schauspielerin Venessa Redgrave eine größere Spende. Und prominente Journalisten und Militärhistoriker sagten uns ihre Teilnahme zu. Wir schrieben umfangreiche vorbereitende Papiere über die Methoden des Widerstands und über dessen Vorbereitung und es entstanden aufschlussreiche Fallstudien, zum Beispiel über den Ruhrkampf im Jahre 1923, als deutsche Beamte auf Anordnung der Reichsregierung die Zusammenarbeit verweigert hatten. Wir verabredeten, dass aus den Ergebnissen dieser Tagung ein Grundlagenwerk "The Strategy of Civilian Defence" entstehen sollte. Dieses Werk sollte so sorgfältig ediert werden, dass es seinen Eindruck auf die wissenschaftliche Welt nicht verfehlen würde. Da war Gene Sharp ein ganz strenger Lehrmeister. Wir fanden einen angesehenen englischen Verlag, der das Buch präsentieren würde: Faber & Faber in London, vergleichbar dem Suhrkamp- oder dem Hanser-Verlag. Doch die Leute, die 1964 in Oxford zur Civilian Defence Study Conference zusammenkamen, waren bis auf die Ausnahme von Professor Arne Naess aus Oslo keine etablierten Sozialwissenschaftler, sondern fast durchweg noch an ihren Dissertationen arbeitende junge Leute ohne akademisches Renommee. Was sie verband und was sie auszeichnete, war der Umstand, dass sie eine spannende Frage stellten, auf deren Beantwortung an anderer Stelle begierig gewartet wurde. Diejenigen, die auf die Antwort warteten, saßen nun aber nicht im Deutschen Bundestag in Bonn oder im Verteidigungsministerium auf der Hardt-Höhe, sondern in der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler, einem Zusammenschluss von Natur- und Sozialwissenschaftlern, die sich ihrer besonderen Verantwortung im Atomzeitalter bewusst waren. Diese Vereinigung Deutscher Wissenschaftler war hervorgegangen aus der Erklärung der Göttinger 18. Das waren 18 führende deutsche Physiker, die am 12. April 1957 erklärt hatten, dass sie nicht bereit seien, sich an der Entwicklung deutscher Atomwaffen zu beteiligen und dass die Adenauersche Bemerkung, dass es sich bei den Atomwaffen um eine Fortentwicklung der Artillerie handle, eine unverantwortliche Verharmlosung der neuen Qualität dieser Waffen sei. Auf der Basis der Göttinger Erklärung entstand die Vereinigung Deutscher Wissenschaftler. Ihr führender Kopf war Carl Friedrich von Weizsäcker. Einerseits untersuchte er mit einer Studiengruppe die Schadenswirkung atomarer Waffen in Industrieländern, andererseits wünschte er sich parallele Untersuchungen zur Wirkung des gewaltfreien Widerstands, den er über die Taten und Schriften Gandhis zumindest in Umrissen kennen gelernt hatte und der ihm auch zur christlichen Ethik, der er sich durch seinen Glauben verbunden wusste, zu passen schien. Die Schwierigkeit bei der Durchführung der gewünschten parallelen Untersuchungen zum gewaltfreien Widerstand bestand darin, dass die Naturwissenschaftler von Haus aus über keine besondere wissenschaftliche Kompetenz auf diesem Gebiet verfügten. Hier waren sie auf die Kooperation mit Sozialwissenschaftlern angewiesen. Solche Sozialwissenschaftler gab es in der VDW von Anfang an, aber sie waren noch in der Minderheit. Die Einzigen, die sich mit der Wirkung gewaltfreier Aktionen befasst hatten, waren der Hannoveraner Philosoph und Pädagoge Gustav Heckmann und der Berliner Politologe Ossip K. Flechtheim. Beide kannten die angelsächsischen Forschungen auf diesem Gebiet und hatten Kontakte zu den ganz wenigen deutschen Nachwuchswissenschaftlern, die 1964 an der Civilian Defence Study Conference in Oxford (G.B.) beteiligt waren. Heckmann und Flechtheim, die auch dem Kuratorium des Ostermarsches der deutschen Atomwaffengegner angehörten, empfahlen der VDW, die Ergebnisse der Oxforder Konferenz aufzugreifen und auf die deutschen Verhältnisse zu übertragen. Im Januar 1966 konnte ich auf einer Tagung der VDW zu "Fragen des Übergangs in die Weltordnung des Atomzeitalters" als frisch gebackener Doktor vor der crême dè la crême der deutschen Naturwissenschaftler einen Forschungsbericht erstatten über die Anwendung von gewaltlosen, zivilen Widerstands in internationalen Konfliktfällen im 20. Jahrhundert. Das war der erste Testlauf, und im September 1967 kam es dann in München dank der intensiven Unterstützung Carl Friedrich von Weizsäckers und unter der Leitung Klaus Gottsteins zu einer Fachtagung der VDW, die sich auf das Konzept der Civilian Defence konzentrierte und die bekannteren Konzepte der wechselseitigen, kontrollierten Abrüstung absichtlich vernachlässigte. Der Tagungsbericht erregte mit einjähriger Verzögerung öffentliches Aufsehen, als das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" aus meinem Referat "Grundzüge der Strategie der sozialen Verteidigung" fünf Grundregeln des Widerstandes gegen eine Besatzungsmacht publizierte. Anlass für dieses Interesse waren auffallende Parallelen zwischen dem Verhalten der Tschechen und Slowaken im August 1968 und meinen Widerstandsempfehlungen. Walter Ulbricht zog aus diesen Parallelen dann sogar die (durch nichts zu belegende) Schlussfolgerung, dass eine westdeutsche Zentrale der Konterrevolution für dieses Widerstandsverhalten verantwortlich sei und dafür den Begriff des "gewaltfreien Aufstands als Alternative zum Bürgerkrieg" (so der Titel meiner Dissertation) ausgeheckt habe. Diese Art der öffentlichen Resonanz hatte einen Vor- und einen Nachteil. Der Vorteil war, dass die Untersuchung des gewaltfreien Widerstands hinfort in seiner politischen Bedeutung nicht mehr unterschätzt wurde; der Nachteil war, dass diese Bemühungen in das traditionelle ideologische Schema der Ost-West-Auseinandersetzung eingeordnet wurden. Als sich die Forschung später von dieser Zuordnung distanzierte, blieb die publizistische Resonanz auf diese Forschungen über längere Strecken aus und es mussten verlässliche Bezugsgruppen gefunden werden, welche sich die Strategie politisch zu eigen machen sollten. Zunächst war jedoch die publizistische Resonanz hilfreich. Auch das Fernsehen brachte Sendungen zum gewaltfreien Widerstand und förderte so das öffentliche Interesse an dieser neuen Forschungsrichtung. Da in dieser Zeit auch die Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung und als Förderungsorganisationen die Deutsche Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung und die Berghof-Stiftung für Konfliktforschung gegründet wurden und ich zur Mitarbeit in diesen Gremien eingeladen wurde, hatte ich das Gefühl, dass mit dem neuen Ansatz der gewaltfreien Konfliktaustragung zumindest mittelfristig die Kalte-Kriegs-Situation sich verändern und in eine Friedensordnung überführen ließe. Im Detail war die Arbeit jedoch schwierig, weil es anders als bei der Entwicklung der ersten Atombombe kein Manhattan-Projekt mit Tausenden von Mitarbeitern und praktisch unbegrenzten Mitteln, sondern nur ganz wenige Personen gab, die darauf vorbereitet waren, sich mit Forschungen zum gewaltfreien Widerstand zu befassen, und im Unterschied zum militärischen Sektor standen auch nur minimale Mittel zur Verfügung. Diese Forschung konnte auch nicht allein am Schreibtisch und in Bibliotheken stattfinden, sondern es bedurfte der Erfahrungen im Feld der gewaltfreien Konfliktaustragung. Das Suchen und Aufzeichnen solcher Erfahrungen wurde später als "Aktionsforschung" bezeichnet. Diese wurde ergänzt durch das Training für die gewaltfreie Konfliktaustragung. Letztere war eine neue Herausforderung für die Erwachsenenpädagogik. Dies ahnte ich noch nicht, als die VDW sich entschloss, die Nacharbeiten zur Münchener Civilian-Defence-Konferenz im Jahre 1970 in eine reguläre Studiengruppe mit einem eigenen Federführenden und einem Sekretär und einem Etat in Höhe von DM 30.000 zu überführen. Diese bescheidene Summe erlaubte ein Honorar für den Sekretär, die Erstattung von Reisekosten und die Vervielfältigung eines Rundbriefs mit den Arbeitspapieren. Das war einerseits wenig, aber angesichts der bisherigen Arbeiten auf privater Basis doch ein erheblicher Fortschritt. So war es seit 1970 auch möglich, auswärtige Forscher an der Arbeit der Studiengruppe "Soziale Verteidigung", die sich bisher vor allem aus meinen und Flechtheims Doktoranden und Diplomanden zusammengesetzt hatte, zu beteiligen. Es hat keinen Sinn Ihnen hier Namen zu nennen, weil Ihnen diese nichts sagen. Es war eine international zusammengesetzte Gruppe von Sozialwissenschaftlern, die Konzepte entwickelten für die Umstellung von militärischer Abschreckung auf eine unmissverständlich defensive Form des Abhaltens von Aggressionen durch die Vorbereitung auf gewaltfreien Widerstand. Die Rezeption dieser Ideen wurde dadurch erschwert, dass sie mit der offiziellen Kalte-Kriegs-Ideologie nicht konform ging. Gewaltfreier Widerstand funktioniert am besten, wenn es Werte und Institutionen gibt, die es verdienen, verteidigt zu werden. Zur Vorbereitung auf den zivilen Widerstand gehörten also auch die Reinigung schmutziger Wäsche und der Protest gegen Missstände. Proteste wie denjenigen gegen die Verhaftung von Spiegel-Redakteuren gehören also durchaus in den Bereich der Verteidigungsvorbereitungen. Vereinfacht gesprochen, der Plan einer Umstellung von der militärischen auf die soziale Verteidigung war - bei aller Kritik an den Verhältnissen in den Ostblock-Staaten - eine ziemlich linke Angelegenheit. Wir waren uns in der VDW- Studiengruppe einig, dass nur eine einigermaßen gerechte Gesellschaftsordnung sich gewaltfrei verteidigen lässt und die Beseitigung von Ungerechtigkeiten ins Vorfeld der Verteidigung gehört. Insofern war es auch fast selbstverständlich, dass die Mitglieder der Studiengruppe Soziale Verteidigung sich andernorts in Bürgerinitiativen, die innenpolitische Ziele verfolgten, engagierten. Auch die Ideologie des Westens wurde kritisiert und die Existenz von Diktaturen innerhalb der NATO und in ihrem Umfeld als Skandal benannt. Als die demokratisch gewählte Regierung Salvador Allendes in Chile durch einen Militärputsch beseitigt wurde, war uns klar, dass dafür die Verantwortlichen in Washington, D.C. zu suchen waren und die Kanaille nicht Franz, sondern Henry hieß. Wenn in Europa ein Staat aus dem westlichen Verteidigungsbündnis aussteigen und sich auf die Soziale Verteidigung verlassen wollte, musste dieser mit politischen, wirtschaftlichen, militärischen und vielleicht sogar terroristischen Sanktionen aus dem Raum des eigenen Bündnisses rechnen. Die VDW-Studiengruppe "Soziale Verteidigung" arbeitete intensiv in den Jahre 1970 bis 1974. Am Anfang standen historische Fallstudien zum Widerstand gegen die deutsche Besatzungsmacht im Mittelpunkt des Interesses. Ab 1971 befassten wir uns mehr und mehr mit den Problemen des Übergangs von der militärischen zur sozialen Verteidigung in Mitteleuropa. Die tragende Überlegung war dabei: Es sollte gelingen, die Bundesrepublik (möglicherweise inklusive der DDR und West-Berlins) nach österreichischem Vorbild zu neutralisieren. Ein Gürtel neutraler Staaten sollte sich von Norwegen bis Jugoslawien zwischen NATO und Warschauer Pakt schieben. Es gab ja bereits einige dieser neutralen Staaten. Direkt war die militärische Konfrontation von NATO und Warschauer Pakt in Deutschland. Dort würde sich die Machbarkeit des Konzepts der Sozialen Verteidigung entscheiden. Dabei schien es uns vorteilhaft, wenn Deutschland den Übergang zur Sozialen Verteidigung nicht im Alleingang besorgen, sondern diesen Schritt zusammen mit anderen gefestigten, europäischen Demokratien tun würde. Es gab in Norwegen, Dänemark und den Niederlanden Forschergruppen, die Ähnliches im Schilde führten. Wir wollten nicht am Kartentisch einen Europa-Plan aushecken, sondern erkunden, wie die Menschen in den anderen europäischen Staaten und insbesondere die dortigen Friedensforscher über dieses Problem dachten. Auf der Suche nach Übergangslösungen richtete sich das Interesse auf die anderen neutralen Staaten Europas und überhaupt auf den Stand der Diskussion um die Soziale Verteidigung in allen anderen Staaten. Es war eine gigantische Aufgabe für die winzige Studiengruppe der VDW, diese Informationen über die vielen europäischen Staaten zusammenzutragen. Unser Ziel war, diese Informationen zu publizieren - in Verbindung mit Konzepten des Übergangs von der militärischen zur sozialen Verteidigung. Einige von uns machten sich mit großem Elan an die Arbeit. Gernot Jochheim dokumentierte die Diskussion in Österreich; Lutz Mez knüpfte die Verbindungen zu den skandinavischen Staaten; Hylke Tromp, ein kompetenter Niederländer auf diesem Felde, war ständiges Mitglied der Studiengruppe; ich hatte ein Papier über die Lage in Großbritannien in petto. Hans-Georg Wittig, ein Lörracher Professor der Pädagogik untersuchte die Lage in der nahe gelegenen Schweiz. Die Studiengruppe hatte gehofft, dass ihr Buch "Demokratische Sicherheitspolitik. Von der territorialen zur sozialen Verteidigung" im angesehenen Hanser-Verlag eine breite Diskussion über die künftige Sicherheitspolitik der Bundesrepublik und der NATO auslösen würde und sie dann mit ihrer bereits vorbereiteten Studie über den mitteleuropäischen Gürtel neutraler, sozial verteidigter Staaten nachlegen könnte. Im Vorwort zu diesem Sammelband mit Beiträgen von Mitgliedern der Studiengruppe redete ich - in Abstimmung mit meinen Freunden in der Studiengruppe - Klartext: "Als die systematischen Forschungen zum zivilen Widerstand als Mittel der Verteidigungspolitik im Jahre 1964 mit der Civilian Defence Study Conference in Oxford begannen, und in der Bundesrepublik von der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler in der Studiengruppe "Soziale Verteidigung" aufgegriffen wurden, geschah dies noch im Banne der Feindbilder der NATO und mit betont antistalinistischer Akzentsetzung. Inzwischen sind die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen dieser Verteidigungsform präzisiert und die potentiellen Konfliktsituationen neu bestimmt worden und zwar unter den Eindrücken, welche diese Forscher bei ihrem innenpolitischen Engagement in Bürgerinitiativen gegen kapitalistisches Profitstreben und imperialistische Ausbeutung gesammelt haben. Die Soziale Verteidigung ist für sie kein Instrument, das clevere Technokraten unter den Prämissen einer konservativen Politik an die Stelle einer zu teuren oder ineffektiven militärischen Verteidigung setzen könnten; sie kann nach ihrer Überzeugung nur die wehrpolitische Ergänzung des basisdemokratischen Prozesses zu einer sozialistischen Demokratie sein." Mit diesen sozialkritischen Überlegungen hatten die Sozialwissenschaftler die in sie gesetzten Erwartungen enttäuscht und sich ins politische Abseits manövriert. Ohne dass dies ausgesprochen worden wäre, hatte man wohl angenommen, die Erfindung der Atombombe lasse sich gesellschaftsneutral und ohne Konflikt mit den vested interests durch eine entsprechende soziale Erfindung, den gewaltfreien Widerstand als Mittel der Verteidigungspolitik, ersetzen. Dass die Soziale Verteidigung wahrscheinlich nur das Nebenprodukt einer gesellschaftlichen Umgestaltung, also eines basisdemokratischen Prozesses in sein würde, war eine - eher unangenehme - Überraschung. Dieses Ergebnis der Arbeit der Studiengruppe passte überhaupt nicht zum herkömmlichen sicherheitspolitischen Diskurs - mit der Konsequenz, dass die Arbeit der Studiengruppe vollständig ignoriert wurde. Es gab nicht eine einzige Besprechung des Sammelwerkes "Demokratische Sicherheitspolitik". Ohne solche öffentliche Resonanz fehlte den Mitgliedern der Studiengruppe jedoch die Motivation weiterhin "auf Halde" zu forschen. Der VDW selbst fehlten nach dem Jahre 1974 die Mittel, die Arbeit ihrer Studiengruppen im bisherigen Umfang zu fördern. So war man im Vorstand der VDW erleichtert, als die Studiengruppe ihre Arbeit im Rahmen der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung fortsetzen wollte, und verzichtete auch auf die von mir eingeforderte inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Konzept "Demokratische Sicherheitspolitik". Die Vorarbeiten der Studiengruppe wurden allerdings nicht vergessen. C.F. v. Weizsäcker hat mich in den 80er Jahren bei der Entwicklung eines rein defensiven (militärischen) Verteidigungskonzepts wieder hinzugezogen, wenn auch nur als Spezialisten für gewaltlosen, zivilen Widerstand in besetzten Gebieten. Die Einsicht der Studiengruppe, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen den sozialen Prozessen einer Gesellschaft und ihren sicherheitspolitischen Konzepten, hatte auch gruppeninterne Folgen. Die Befürworter der Sozialen Verteidigung konnten als Gruppe nicht weiter vor sich hin forschen, sondern mussten sich nach den geeigneten sozialen Trägern für dieses Konzept umsehen. Ab Mitte der 70er Jahre sammelten die früheren Mitglieder der Studiengruppe praktische Erfahrungen in ökologisch orientierten Bürgerinitiativen, vor allem in der Anti-AKW-Bewegung. Zum politischen Programm wurde die Soziale Verteidigung zum ersten Mal, als die "Grünen" als Exponenten der Ökologie- und Friedensbewegung in den Bundestag gewählt wurden. Sie hatten die Soziale Verteidigung zu ihrem sicherheitspolitischen Konzept deklariert. Auf Initiative von Roland Vogt und Petra Kelly lud die Fraktion der Grünen im Bundestag im Juni 1984 zu einem international besetzten Hearing über den Aufbau der Sozialen Verteidigung nach Bonn ein. Für die Fortentwicklung der Konzeption war dieses Hearing wichtig, doch innerhalb der Grünen waren die Vertreter der Sozialen Verteidigung zu schwach, um sich momentan gegen die so genannten Realpolitiker durchzusetzen. Dies gelang nicht einmal mit Hilfe des 1989 in Minden gegründeten Bundes für Soziale Verteidigung, in dem sich die pazifistischen Gruppierungen der Bundesrepublik zusammenschlossen, um dieses neuartige verteidigungspolitische Konzept zu entwickeln und lobbyistisch zu vertreten. Blickt man nach 35 Jahren auf die Anfänge des Konzeptes Soziale Verteidigung zurück, dann waren die Bemühungen nicht vergebens. Beim Unabhängigkeitskampf der baltischen Staaten und bei der Abwehr des Staatsstreiches in der UdSSR im Jahre 1992 hat der gewaltlose, zivile Widerstand eine ausschlaggebende Rolle gespielt. Doch das Ende des Ost-West-Konflikts hat auch neue Herausforderungen mit sich gebracht. Wer heute auf dem Felde der demokratischen Sicherheitspolitik und der gewaltfreien Aufstände forscht, muss sich darauf einstellen, in immer neuen Anläufen das Konzept fortzuentwickeln. Und dies ist geboten angesichts vieler autoritärer und diktatorischer Regime und der nach wie vor latenten Bedrohung der ganzen Menschheit durch die Existenz atomarer Waffen. FußnotenVeröffentlicht amArtikel ausdruckenWeitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von |
|